In einer Entscheidung vom 5. April 2011 (BGH 3 StR 66/11) ging es schwerpunktmäßig um die erlaubte Selbsthilfe gem. § 229 BGB als Rechtfertigungsgrund bei einer Wegnahmehandlung gem. § 242 StGB.
Sachverhalt (abgekürzt)
A ging am frühen Morgen des 1. Juni 2009 gegen 6.30 Uhr zu Fuß in Richtung ihrer Wohnung und überholte dabei den angetrunkenen B, von dem sie angesprochen wurde. Sie war wütend, reagierte gereizt und sagte B, er solle sie in Ruhe lassen. Es kam zwischen den Kontrahenten zu einem Wortwechsel mit gegenseitigen Beleidigungen. Als B auf sie zutrat, zog A in der Annahme, sie werde geschlagen, ein Taschenmesser mit einer ca. 4,5 cm langen Klinge. Entgegen ihrer Erwartung bedrängte sie der Zeuge weiter. Es entwickelte sich ein Handgemenge, bei dem die Kopfhörer ihres MP3-Players zerstört wurden und B eine überwiegend oberflächliche Schnittverletzung an der linken Unterarmseite erlitt. Anschließend nahm A das auf den Boden gefallene Mobiltelefon des Zeugen an sich und erklärte, sie werde dieses erst herausgeben, wenn dieser für die zerstörten Kopfhörer Schadensersatz leiste. Dann setzte sie ihren Weg nach Hause fort. B folgte der A und verlangte von ihr immer wieder die Herausgabe seines Mobiltelefons. Die A erwiderte, er bekomme es nur zurück, wenn er ihren Schaden ersetze. Beide Kontrahenten erwogen auch, zu einer nahe gelegenen Polizeistation zu gehen. A drehte sich immer wieder um und zeigte B das Messer, um ihn auf Abstand zu halten. Vor dem Haus, in dem sie wohnte, trat der B an sie heran und versuchte, ihr das Messer aus der Hand zu treten, um sein Mobiltelefon wieder an sich bringen zu können. Es entwickelte sich eine Auseinandersetzung, bei der der B der A eine Verletzung im Gesicht zufügte. Diese stach schließlich mit dem Taschenmesser in die Brust des B, der eine potentiell lebensgefährliche Verletzung erlitt.
Frage: Hat sich A der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht?
Lösung / Entscheidung des BGH
1. Der objektive und subjektive Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB sind erfüllt.
2. Der Messerstich könnte jedoch durch Notwehr gem. § 32 Abs. 1 StGB gerechtfertigt gewesen sein.
Diese wäre jedoch nur dann der Fall, wenn die Wegnahme des Mobiltelefons durch die A auch gerechtfertigt gewesen ist. Denn dann wäre die Körperverletzungshandlung des B wiederum nicht gerechtfertigt und würde einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff darstellen.
a) Die Wegnahme des Mobiltelefons durch die A könnte möglicherweise durch Selbsthilfe gemäß § 229 BGB gerechtfertigt gewesen sein.
Danach handelt u.a. derjenige, der zum Zwecke der Selbsthilfe eine Sache wegnimmt, nicht widerrechtlich, wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist und ohne sofortiges Einschreiten die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Derjenige, dem ein Schaden zugefügt worden ist, kann grundsätzlich von einem unbekannten Schadensverursacher verlangen, zur eventuellen gerichtlichen Klärung des Schadensersatzanspruches die Personalien bekannt zu geben. Zur Sicherung dieses Anspruchs steht ihm unter den Voraussetzungen des § 229 BGB ein Festnahmerecht zu, wenn die Gefahr besteht, dass sich dieser der Feststellung seiner Personalien durch Flucht entziehen will. Um die Identifizierung eines fluchtverdächtigen Schuldners mit Namen und ladungsfähiger Anschrift zu ermöglichen und dadurch dessen Festnahme zu vermeiden, darf der Geschädigte grundsätzlich im Wege der Selbsthilfe eine dem Schuldner gehörende Sache wegnehmen.
A stand ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB gegen B zu. Denn dieser war auf A losgegangen und hatte sie gegen ihren Willen in ein Handgemenge verwickelt, bei dem der Kopfhörer ihres MP3-Players zerstört wurde. Daraufhin nahm die A das Mobiltelefon an sich, um – wie sich aus ihren Äußerungen ergibt – Schadensersatz zu erlangen. Sofortige obrigkeitliche Hilfe durch die Polizei war für sie jedenfalls zum Zeitpunkt der Wegnahme des Mobiltelefons nicht zu erreichen, weil die Gefahr bestand, dass sich der Zeuge alsbald entfernte und deshalb der Schadensersatzanspruch gegen ihn nicht durchgesetzt werden konnte.
Demnach hat die A das Mobiltelefon durch erlaubte Selbsthilfe gem. § 229 BGB an sich genommen.
Die Wegnahme einer Sache im Wege erlaubter Selbsthilfe ist rechtmäßig, sodass gegen sie kein Notwehrrecht besteht. Insbesondere stellt sie sich – da das Gesetz die Wegnahme gestattet – nicht als verbotene Eigenmacht gemäß § 858 Abs. 1 BGB dar. Da im Falle erlaubter Selbsthilfe der Schuldner verpflichtet ist, die Selbsthilfehandlung hinzunehmen, könnte der Versuch des B, der A das Mobiltelefon mit Gewalt wieder abzunehmen, ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff gewesen sein, gegen den sie sich im Rahmen des Erforderlichen und Gebotenen verteidigen durfte.
Mithin war ihr Messerstich durch Notwehr gerechtfertigt. (Im vorliegenden Fall konnte der BGH dies mit den vorliegenden Feststellungen nicht beurteilen, so dass er die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Landgerichts zugewiesen hat.)
Ergebnis: A hat sich nicht wegen gefährlicher Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB strafbar gemacht.