Wir freuen uns sehr, heute einen Gastbeitrag von Nils Drosten veröffentlichen zu können. Nils Drosten studiert Jura an der Universität Osnabrück.
Die Rechtsprechung EuGH zur grenzüberschreitenden rechtsformwahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften von „Daily Mail“ bis „National Grid“
Wie kaum ein anderes Rechtsgebiet ist das Europarecht in seiner stetigen Entwicklung durch die Rechtsprechung seines obersten Gerichts geprägt. Eine genauere Betrachtung der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49, 54 AUEV ist daher für ein tiefergehendes Verständnis des Europäischen Wirtschaftsrechts und des Europäischen Gesellschaftsrechts im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfung unerlässlich. Darüber hinaus gewinnt das Europarecht als Teil der staatlichen Pflichtfachprüfung immer mehr an Bedeutung, weshalb auch mit Blick auf das Staatsexamen eine genauere Beschäftigung mit der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung vorteilhaft erscheint.
In diesem Beitrag soll sich auf die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zur grenzüberschreitenden rechtsformwahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften konzentriert werden, weshalb die EuGH-Entscheidungen „Vale“ und „Polbud“ zur grenzüberschreitenden rechtsformwechselnden Sitzverlegung in Form des Herein – bzw. Herausformwechsels nicht behandelt werden.
I. Sitzverlegung vom Ausland ins Inland (Zuzug)
1. Entscheidung „Centros“
In der „Centros“-Entscheidung (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros) ging es um die Errichtung einer Zweigniederlassung einer englischen Limited in Dänemark durch ein dänisches Ehepaar. Es war geplant, die gesamte tatsächliche Geschäftstätigkeit der Gesellschaft von Beginn an nur über die Zweigniederlassung in Dänemark auszuüben. Die dänischen Behörden verweigerten die Eintragung der Zweigniederlassung mit der Begründung, es läge eine bewusste Umgehung der Kapitalaufbringungsvorschriften des dänischen Rechts vor. Der EuGH sah in der Verweigerung der dänischen Behörden eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 Rn. 30 – Centros). Die bewusste Ausnutzung unterschiedlicher Rechtssysteme stelle für sich genommen noch keine rechtsmissbräuchliche Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit dar (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 Rn. 27 – Centros). Vielmehr dürfe die Wahl der Rechtsordnung und Rechtsform in der Absicht erfolgen, für sich die „größte Freiheit“ hinsichtlich der gesellschaftsrechtlichen Vorschriften zu erreichen (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 Rn. 27 – Centros).
2. Entscheidung „Überseering“
Im Rahmen der Entscheidung „Überseering“ (EuGH, Urt. v. 5.11.2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 – Überseering) befasste sich der EuGH mit dem Fall einer in den Niederlanden gegründeten Kapitalgesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Deutschland verlegt hatte und nun dort ein deutsches Unternehmen verklagen wollte. Die Klage wurde von den Gerichten aufgrund der in Deutschland geltenden Sitztheorie mangels Rechts- und Prozessfähigkeit der zugezogenen Gesellschaft abgewiesen (BGH, Beschl. v. 30.3.2000 – VII ZR 370/98; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.9.1998 – 5 U 1/98). Die niederländische Gesellschaft könne ohne Neugründung und Eintragung in das deutsche Handelsregister nicht als rechtsfähige Gesellschaft nach deutschem Recht angesehen werden (vgl. BGH, Beschl. v. 30.3.2000 – VII ZR 370/98; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.9.1998 – 5 U 1/98). Der EuGH sah hierin einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit. Die Mitgliedsstaaten seien nach Art. 49, 54 AEUV dazu verpflichtet, die Rechts- und Prozessfähigkeit der zugezogenen Gesellschaften zu achten, welche ihnen nach dem Recht ihrer Gründungsstaaten als Mitgliedstaaten der EU zukomme ( EuGH, Urt. v. 5.11.2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 Rn. 82, 94 – Überseering).
3. Entscheidung „Inspire Art“
In der Entscheidung „Inspire Art“ (EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 – Inspire Art) hatte der EuGH erneut über den Fall einer englischen Limited zu entscheiden. Die Gesellschaft war in England gegründet worden, entfaltete ihre Geschäftstätigkeit jedoch allein mittels einer Zweigniederlassung in den Niederlanden. Im Gegensatz zur „Centros“-Entscheidung verweigerten die niederländischen Behörden nicht die Eintragung, sondern verlangten für die Eintragung die Einhaltung bestimmter Kriterien, u.a. die Erbringung eines bestimmten Mindestkapitals sowie die Firmierung unter dem Zusatz „formal ausländische Gesellschaft“. Eine Nichtbeachtung dieser Kriterien hatte insbesondere die persönliche Haftung der Geschäftsführer zur Folge. Diese Anforderungen sah der EuGH als mit den Art. 49, 54 AEUV unvereinbar an. Denn die Regelungen würden dazu führen, dass die zugezogene Gesellschaft den Vorschriften des niederländischen Gesellschaftsrechts zum Mindestkapital und zur Geschäftsführerhaftung unterworfen sei, was eine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit darstelle (vgl. EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 Rn. 99, 100 f. – Inspire Art). Die Mindestkapitalanforderungen und der Zusatz „formal ausländische Gesellschaft“ seien aus Gründen des Gläubigerschutzes nicht erforderlich, da die Gesellschaft als englische Limited im Rechtsverkehr auftrete und die Gläubiger somit über die Gesellschaftsform und die damit verbundenen Folgen hinreichend informiert seien (EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 Rn. 135 – Inspire Art).
4. Zwischenfazit
In Bezug auf die Zuzugskonstellationen hat der EuGH den Schutzumfang der Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften gem. Art. 49, 54 AEUV durch seine Rechtsprechung stetig erweitert und konkretisiert. Diese Entwicklung ist im Hinblick auf die fortschreitende europäische Integration begrüßenswert. Überdies kann aus der Rechtsprechung zu „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“ hinsichtlich der Zuzugskonstellationen eine Absage an die Sitztheorie und Wendung hin zur Gründungstheorie zumindest bei grenzüberschreitenden Sachverhalten innerhalb der EU ermittelt werden (so auch Weller, in: MüKo GmbHG, Bd. 1, 2. Auflage, Einl. Rn. 350). Diese Entwicklung bedeutet jedoch nicht die vollkommene Unanwendbarkeit der Sitztheorie. Vielmehr verbleibt ein Anwendungsbereich der Sitztheorie in grenzüberschreitenden Sachverhalten außerhalb der Reichweite der Niederlassungsfreiheit, also im Verhältnis zu Drittstaaten außerhalb der EU (in diesem Sinne Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Auflage, § 35 II 2 c)).
Kritisch ist die Entscheidung „Inspire Art“ hinsichtlich eines ausreichenden Gläubigerschutzes zu betrachten. Im täglichen Handelsverkehr ist kaum zu erwarten, dass jeder Vertragspartner weiß, was sich hinter der Abkürzung „Ltd.“, also einer englischen Limited, verbirgt und welche Auswirkungen diese Gesellschaftsform nach englischem Recht für die Mindestkapitalanforderungen als Instrument des Gläubigerschutzes hat. Dieser Situation wollte der niederländische Gesetzgeber mit den Regelungen zur Aufbringung eines bestimmten Mindestkapitals als Schutz für den inländischen Rechtsverkehr und insbesondere für die Gläubiger entgegenwirken. Indem der EuGH die Regelungen als unvereinbar mit der Niederlassungsfreiheit ansah, machte er dieses Instrument des Gläubigerschutzes wirkungslos. Die Aussage des EuGH, dass potentielle Gläubiger durch den Zusatz „Ltd.“ hinreichend gewarnt seien, da dies eine ausländische Gesellschaftsform erkennen lasse, ist kaum überzeugend (vgl. Bayer, BB 2003, 2357, 2364; Geyrhalter/Gänßler, NZG 2003, 409, 411 f.). Natürlich ist kein Vertragspartner nach dem Grundsatz der Privatautonomie verpflichtet, mit Vertragspartnern in unbekannter ausländischer Gesellschaftsform zu kontrahieren. Doch erscheint z.B. die Erstellung eines Rechtsgutachtens vor einem möglichen Vertragsschluss über die Risiken einer ausländischen Gesellschaftsform im täglichen Handelsverkehr kaum praxisgerecht.
Auch wenn die Entscheidung als Fortentwicklung der Niederlassungsfreiheit im Sinne eines reibungslosen Binnenmarktes begrüßenswert ist, dürfen Aspekte des Gläubigerschutzes nicht vernachlässigt werden. Der EU müsste zum Wohle eines schnellen und sicheren Rechtsverkehrs als grundlegende Voraussetzung eines funktionierenden Binnenmarktes an einem umfassenden Gläubigerschutz durch Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung gelegen sein. Die Entscheidung „Inspire Art“ mag bezüglich der Weiterentwicklung der Niederlassungsfreiheit erfreulich sein, hinsichtlich eines umfassenden Gläubigerschutzes durch Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften, gerade auch im Rechtsverkehr mit ausländischen Gesellschaften, erscheint sie jedoch bedenklich.
II. Sitzverlegung vom Inland ins Ausland (Wegzug)
1. Entscheidung „Daily Mail“
In der Entscheidung „Daily Mail“ (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 – Daily Mail) befasste sich der EuGH mit einer englischen Gesellschaft, die ihren Verwaltungssitz aus Gründen der Steuerersparnis in die Niederlande verlegen wollte. Die britischen Finanzbehörden verweigerten die nach englischem Recht für eine solche Sitzverlegung erforderliche Genehmigung. Dadurch sah sich die Gesellschaft in ihren Rechten aus Art. 49, 54 AEUV verletzt. Der EuGH urteilte aber, dass das Genehmigungserfordernis nach englischem Recht mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sei (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 18 – Daily Mail). Im Unterschied zu natürlichen Personen würden juristische Personen nach Stand des derzeitigen Gemeinschaftsrechts auf Grundlage einer nationalen Rechtsordnung gegründet und hätten jenseits dieser Rechtsordnung „keine Realität“ (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 19 f. – Daily Mail). Die Gesellschaft habe keinen Anspruch auf Genehmigung des Wegzugs nach dem nationalen Recht (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 24 f. – Daily Mail).
2. Entscheidung „Cartesio“
Auch in der Entscheidung „Cartesio“ (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 – Cartesio) beschäftigte sich der EuGH mit Wegzugsbeschränkungen eines Mitgliedsstaates. Eine ungarische Gesellschaft hatte ihren Verwaltungssitz nach Italien verlegt und begehrte die Änderung des ungarischen Handelsregisters hinsichtlich der Sitzverlegung. Das ungarische Registergericht lehnte den Änderungsantrag mit der Begründung ab, dass ein Auseinanderfallen von Satzungs- und Verwaltungssitz nach ungarischem Recht nicht möglich sei. In Fortsetzung seiner „Daily Mail“-Rechtsprechung sah der EuGH in der Weigerung des ungarischen Registergerichts keine Verletzung der Niederlassungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 110 f., 124 – Cartesio). Eine Anwendung der Art. 49, 54 AEUV komme nach derzeitigem Stand des Gemeinschaftsrechts erst in Betracht, wenn die Gesellschaft nach der nationalen Rechtsordnung des Wegzugsstaates auch nach der Sitzverlegung in formwahrender Weise weiter existieren könne (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 109 – Cartesio). Den Mitgliedsstaaten obliege damit die Regelungshoheit über die Voraussetzungen der rechtsformwahrenden Sitzverlegung einer Gesellschaft ins Ausland. (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 110 – Cartesio).
Obiter dictum stellte der EuGH klar, dass im Gegensatz dazu nationale Regelungen zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung mit Formwechsel an der Niederlassungsfreiheit zu messen seien (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 111 f. – Cartesio).
3. Entscheidung „National Grid“
Im Rahmen der „National Grid“-Entscheidung (EuGH, Urt. v. 29.11.2011, Rs. C-371/10, Slg. 2011 – National Grid) hatte der EuGH Gelegenheit, den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit bei Wegzugsfällen weiter zu konkretisieren. Es ging um eine niederländische Kapitalgesellschaft, die ihren Verwaltungssitz nach England verlegte, um der Besteuerung durch den niederländischen Staat zu entgehen. Die niederländischen Finanzbehörden verlangten infolge der Sitzverlegung die sofortige Versteuerung bisher noch nicht realisierter Gewinne, wogegen sich die Gesellschaft unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit zur Wehr setzte.
Nach dem EuGH konnte die in den Niederlanden gegründete Gesellschaft aufgrund der dort vorherrschenden Gründungstheorie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz ins Ausland verlegen, ohne ihren Rechtsstatus als Gesellschaft im Herkunftsland zu verlieren (EuGH, Rs. C-371/10, Urt. v. 29.11.2011, Slg. 2011 Rn. 31 f. – National Grid). Aufgrund des unberührten Rechtsstatus in den Niederlanden könne sich die Gesellschaft weiterhin auf die Niederlassungsfreiheit berufen (EuGH, Urt. v. 29.11.2011, Rs. C-371/10, Slg. 2011 Rn. 31 f. – National Grid).
4. Zwischenfazit
Die Entscheidung „National Grid“ erscheint in der Zusammenschau mit den Entscheidungen „Daily Mail“ und „Cartesio“ in mehrerer Hinsicht widersprüchlich.
In der Entscheidung „Cartesio“ hatte der EuGH geurteilt, dass Wegzugsbeschränkungen durch den Herkunftsstaat generell nicht der Niederlassungsfreiheit unterfallen würden. Hieraus ließe sich ableiten, dass wenn der Herkunftsstaat den Wegzug sogar ganz verbieten kann, er dann erst recht zu weniger härteren Wegzugsbeschränkungen, wie der Wegzugssteuer, ermächtigt sein muss (so die Argumentation Deutschlands, vgl. EuGH, Rs. C-371/10, Slg. 2011 Rn. 29 – National Grid). Indem der EuGH bei der Entscheidung „National Grid“ dieser Argumentation nicht gefolgt ist, muss jedoch kein Widerspruch zur Entscheidung „Cartesio“ gesehen werden: Vielmehr kann die Entscheidung „National Grid“ als Weiterentwicklung der „Cartesio“-Entscheidung gedeutet werden (So Verse, ZeuP 2013, 458, 463 f.). Wenn ein Mitgliedsstaat den rechtsformwahrenden Wegzug von Gesellschaften nach seiner Rechtsordnung zulässt, so muss er sich auch diesbezüglich an der Niederlassungsfreiheit messen lassen (Verse, ZeuP 2013, 458, 464 f.). Dieser Argumentation ist unter dem Gesichtspunkt des „effet utile“ der Niederlassungsfreiheit zuzustimmen. Soweit die nationale Rechtsordnung des Wegzugsstaates den rechtsformwahrenden Wegzug für zulässig hält, muss dieser unter Beachtung der bestmöglichen Wirkung der Niederlassungsfreiheit erfolgen.
Jedoch steht die Entscheidung „National Grid“ im Widerspruch zur „Daily Mail“-Entscheidung des EuGH. Wie in den Niederlanden wird auch in Großbritannien die Gründungstheorie vertreten, weshalb der EuGH gemessen an den in der Entscheidung „National Grid“ aufgestellten Kriterien auch in der Rechtssache „Daily Mail“ die Wegzugsbeschränkung an der Niederlassungsfreiheit hätte messen müssen (Verse, ZeuP 2013, 458, 464 f.). Insoweit ist die Entscheidung „National Grid“ als „verdeckte“ Aufhebung der „Daily Mail“-Entscheidung durch den EuGH anzusehen (Mörsdorf, EuZW 2012, 296, 298; Schall/Barth, NZG 2012, 414, 418). Dabei ist nicht die Korrektur der eigenen Rechtsprechung durch den EuGH zum Zwecke einer genaueren Justierung der eigenen Rechtsprechung zu kritisieren. Wohl aber ist die Art und Weise der Korrektur im Rahmen der Entscheidung „National Grid“, in welcher der EuGH mit keinem Wort auf seine selbst aufgestellten Kriterien aus der Entscheidung „Daily Mail“ eingeht, zumindest als unglücklich zu bewerten. Eine solche verdeckte oder „stille“ Korrektur des EuGH, durch welche der Gerichtshof die Deutungshoheit den Stimmen der Literatur überlässt, führt nur sehr bedingt zu mehr Rechtssicherheit. Im Interesse einer größeren Rechtssicherheit für die Praxis wäre eine klare Absage an die frühere Rechtsprechung zu „Daily Mail“ durch den EuGH wünschenswert gewesen.
III. Kritische Würdigung der Rechtsprechung des EuGH
In der Entwicklung der Rechtsprechung hat der EuGH immer wieder die strikte Trennung zwischen den Zuzugs- und den Wegzugskonstellationen hervorgehoben. Diese strikte Trennung hat nicht zuletzt zur Folge, dass der Zuzugsstaat strengeren Prüfungskriterien durch den EuGH mit Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit unterliegt als der Wegzugsstaat (Teichmann, ZIP 2009, 393, 396). Während der EuGH Regelungen der Zuzugsstaaten bezüglich der grenzüberschreitenden Sitzverlegung mit der Niederlassungsfreiheit für unvereinbar erklärte, stärkte er in den Wegzugsfällen, insbesondere in den Entscheidungen „Daily Mail“ und „Cartesio“, die Regelungsautonomie der Wegzugsstaaten hinsichtlich gesetzlicher Wegzugsbeschränkungen.
1. Meinungsstand in der Literatur
Die Literatur ist dieser Auffassung teilweise gefolgt. Die unterschiedliche Behandlung von Zuzugs- und Wegzugsfällen wird vor allem mit der mangelnden Vergleichbarkeit der beiden Konstellationen begründen (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Nur durch die unterschiedliche Behandlung der Zuzugs- und Wegzugsfälle könnte die Regelungsautonomie der Gründungsstaaten hinreichend berücksichtigt werden (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Es unterfalle der Regelungsautonomie des Wegzugsstaates, ob für eine nach seinem Recht gegründete Gesellschaft der Wegzug unter Formwahrung möglich ist (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Dagegen könne der Zuzugsstaat regeln, ob ein solcher Zuzug unter Rechtsformwechsel zulässig sei (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Der Regelungsautonomie des Gründungsstaates über die nach seinem Recht gegründeten Gesellschaften sei dabei Vorrang gegenüber der Regelungsautonomie des Zuzugsstaates hinsichtlich der fremden Gesellschaften einzuräumen (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Schließlich richte sich das Bestehen der Gesellschaft allein nach dem Recht des Gründungsstaates (Barthel, EWS 2010, 316, 320; Leible/Hoffmann, BB 2009, 58, 59). Diese enge Verbindung zwischen der Rechtsordnung des Gründungsstaates und der Existenz der Gesellschaft begründe den Vorrang der Rechtsautonomie des Gründungsstaates (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Dieser Vorrang mache die Unterscheidung zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen zwingend (Barthel, EWS 2010, 316, 320).
Andere Teile der Literatur haben die strikte Trennung zwischen den Zuzugs- und Wegzugskonstellationen stark kritisiert. Als naheliegendes Argument gegen die unterschiedliche Behandlung der Zuzugs- und Wegzugsfälle wird angeführt, dass es sich dabei um denselben Vorgang handele (Teichmann, ZIP 2009, 393, 396). Denn was für den Gründungsstaat einen Wegzug bedeute, stelle für den Aufnahmestaat einen Zuzug dar (Teichmann, ZIP 2009, 393, 396).
Weiterhin könne die Niederlassungsfreiheit komplett „leer“ laufen, wenn ein Mitgliedsstaat den Wegzug einer Gesellschaft durch Verlegung ihres Verwaltungssitzes ins Ausland nach seiner nationalen Rechtsordnung schlicht verbiete (Campos Nave, BB 2008, 1410, 1413).
Auch wird unter Berufung auf den „effet utile“ vertreten, dass eine Unterscheidung zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen mit Blick auf einen freien, ungehinderten grenzüberschreitenden Verkehr nicht überzeuge (Behme/Nohlen, BB 2009, 11, 13). Von welchem Staat die jeweilige Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Verkehrs erfolge, könne für die Förderung eines ungehinderten Handelsverkehrs im Wirtschaftsraum der EU nicht entscheidend sein (Behme/Nohlen, BB 2009, 11, 13).
2. Stellungnahme
Stellungnehmend ist den kritischen Stimmen in der Literatur zuzustimmen, welche an der strikten Trennung von Zuzugs- und Wegzugsfällen durch den EuGH zweifeln. Zwar mag nach systematischen Gesichtspunkten der Regelungsautonomie der Wegzugsstaaten ein höheres Gewicht zukommen als der Regelungsautonomie der Zuzugsstaaten. Diese Argumentation kann jedoch mit Blick auf den Sinn und Zweck der Niederlassungsfreiheit nicht überzeugen.
Die Begründung anhand der höheren Gewichtung der Regelungsautonomie der Wegzugsstaaten stellt eine sich durch jahrelange Rechtsprechung ergebende Ungleichbehandlung lediglich auf eine systematische Grundlage und begründet damit nur vom Ergebnis her, ohne auf eine teleologische Betrachtung der Niederlassungsfreiheit einzugehen. Zu dieser Sichtweise passt auch die Rechtsprechung des EuGH zu „National Grid“, in welcher der EuGH seine ursprüngliche „Daily Mail“-Entscheidung teilweise korrigiert hat. Vielmehr kann in der Prüfung von Wegzugsbeschränkungen auf die Vereinbarkeit mit der Niederlassungsfreiheit eine Annäherung zwischen den Zuzugs- und Wegzugskonstellationen gesehen werden.
Insbesondere überzeugt die Argumentation, dass aufgrund des „effet utile“ eine Unterscheidung zwischen Zuzugs- und Wegzugskonstellation nicht geboten sein kann. Dem Grundgedanken der Niederlassungsfreiheit, einen reibungslosen und möglichst unbeschränkten Rechtsverkehr im Wirtschaftsraum der EU zu gewährleisten, muss auch bei der Betrachtung der grenzüberschreitenden Sitzverlegung eine entscheidende Rolle zu kommen. Wie in anderen Gebieten des Europarechts kann auch hier der Grundsatz des „effet utile“ eingreifen, um eine Gleichstellung des Schutzniveaus der Niederlassungsfreiheit von Zuzugs- und Wegzugskonstellationen zur Förderung eines freien und reibungslosen Binnenmarktes innerhalb des Wirtschaftsraums der EU zu bewirken.
Letztendlich sind die Zuzugs- und die Wegzugskonstellation als „zwei Seiten derselben Medaille“ (Campos Nave, BB 2008, 1410, 1413; Otte, EWS 2009, 38, 39) anzusehen, welche nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können und deren Ungleichbehandlung zu widersprüchlichen Ergebnissen führt. Das Angleichen des Schutzniveaus der Niederlassungsfreiheit bezüglich der Zuzugs- und Wegzugsfälle ist dringend erforderlich, um ein „Leerlaufen“ der Niederlassungsfreiheit durch restriktive Wegzugsbeschränkungen der Mitgliedsstaaten zu verhindern. Mit seiner „National Grid“-Entscheidung hat der EuGH den ersten richtigen Schritt hin zu einer Korrektur seiner früheren „Daily Mail“-Rechtsprechung gemacht. Zur Förderung des europäischen Rechtsverkehrs darf auch zukünftig auf weitere Korrekturen durch den EuGH hin zu einer Angleichung der Zuzugs- und Wegzugskonstellationen gehofft werden.
IV. Zusammenfassung
Zusammenfassend ist in Anbetracht der ausgewerteten Urteile festzustellen, dass Rechtssicherheit durch die Judikatur des EuGH hinsichtlich der grenzüberschreitenden Sitzverlegung nur bedingt erreicht werden konnte. Durch seine Rechtsprechung zu den Zuzugsfällen im Rahmen der rechtsformwahrenden Sitzverlegung hat der EuGH den Anwendungsbereich der Art. 49, 54 AEUV erweitern und konkretisieren können, was im Sinne eines reibungslosen Binnenmarktes zu begrüßen ist. Auch die Absage an die Sitztheorie und Anwendung der Gründungstheorie in grenzüberschreitenden Fällen innerhalb der EU trägt der Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit als Ziel des europäischen Binnenmarktes Rechnung.
Die Entwicklung der Rechtsprechung zu den Wegzugsfällen weist jedoch deutliche Widersprüche auf. Generell vermag die Differenzierung zwischen den Zuzugs- und Wegzugsfällen mit Blick auf eine bestmögliche Geltung der Niederlassungsfreiheit nach dem Grundsatz des „effet utile“ nicht zu überzeugen.
Abschließend bleibt damit festzustellen, dass der EuGH von einer widerspruchsfreien Klärung der grenzüberschreitenden rechtsformwahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften noch weit entfernt ist.