Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss vom 21. Juli 2010 (1 BvR 420/09) entschieden, dass die Sorgerechtsregelung für Väter nichtehelicher Kinder in den §§ 1626a Abs. 1 Nr. 1, 1672 Abs. 1 BGB nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer ist Vater eines 1998 nichtehelich geborenen Sohnes. Die Eltern trennten sich noch während der Schwangerschaft der Mutter. Der gemeinsame Sohn lebt seit seiner Geburt im Haushalt der Mutter, hat aber regelmäßig Umgang mit seinem Vater. Der Beschwerdeführer erkannte die Vaterschaft an. Eine Erklärung zur Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge wurde von der Mutter verweigert. Als diese einen Umzug mit dem Kind beabsichtigte, beantragte der Beschwerdeführer beim Familiengericht, der Mutter das Sorgerecht teilweise zu entziehen und das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf ihn selbst zu übertragen. Hilfsweise beantragte er, ihm das alleinige Sorgerecht zu übertragen oder die Zustimmung der Mutter zu einer gemeinsamen Sorge zu ersetzen. Das Familiengericht wies die Anträge mit der Begründung zurück, dass es für eine Übertragung des Sorgerechts oder von Teilen davon an der nach dem geltenden Recht erforderlichen Zustimmung der Mutter fehle. Gründe für eine Entziehung des Sorgerechts der Mutter lägen nicht vor. Die hiergegen beim Oberlandesgericht eingelegte Beschwerde blieb ohne Erfolg. Mit der anschließend erhobenen Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG.
Der rechtliche Hintergrund dieser Entscheidung
Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts am 01.07.1998 wurde unverheirateten Eltern durch § 1626a BGB erstmals die Möglichkeit eröffnet, die elterliche Sorge für ihr Kind gemeinsam zu tragen. Voraussetzung hierfür ist, dass dies ihrem Willen entspricht und beide Elternteile entsprechende Sorgeerklärungen abgeben (§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB). Anderenfalls bleibt die Mutter alleinige Sorgerechtsinhaberin für das nichteheliche Kind. Auch eine Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge von der Mutter auf den Vater kann nach § 1672 Abs. 1 BGB bei dauerhaftem Getrenntleben der Eltern nur mit Zustimmung der Mutter erfolgen. Gegen ihren Willen kann der Vater eines nichtehelichen Kindes nur dann das Sorgerecht erhalten, wenn der Mutter wegen Gefährdung des Kindeswohls die elterliche Sorge entzogen wird, ihre elterliche Sorge dauerhaft ruht oder wenn sie stirbt.
EGMR erklärt Ausschluss gerichtlicher Überprüfungsmöglichkeit für unverhältnismäßig
Bereits im Jahr 2003 wies das BVerfG darauf hin, dass § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB gegen das Elternrecht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 GG verstoßen würde, wenn sich entgegen der Annahme des Gesetzgebers herausstellen sollte, dass es in größerer Anzahl aus nicht vom Kindeswohl getragenen Gründen zu keiner gemeinsamen Sorgetragung von Eltern nichtehelicher Kinder kommt (BeckRS 2003, 30303792). Dem Gesetzgeber wurde ein entsprechender Prüfungsauftrag erteilt. Im Dezember 2009 erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den grundsätzlichen Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung des Sorgerechts an die Mutter mit Blick auf den Zweck der Sorgerrechtsregelung, das Wohl eines nichtehelichen Kindes zu schützen, für unverhältnismäßig.
Unverhältnismäßiger Eingriff in Elternrecht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 GG
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Ausschluss des Vaters eines nichtehelichen Kindes vom Sorgerecht für den Fall, dass die Mutter des Kindes der gemeinsamen Sorge mit dem Vater oder dessen Alleinsorge für das Kind nicht zustimmt, greife unverhältnismäßig in das Elternrecht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 GG ein. Denn dieser habe keine Möglichkeit, den Ausschluss vom Sorgerecht am Maßstab des Kindeswohls gerichtlich überprüfen zu lassen.
BVerfG trifft vorläufige Regelung
Das BVerfG hat bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung in Ergänzung der §§ 1626a Abs. 1 Nr. 1, 1672 Abs. 1 BGB vorläufig angeordnet, dass das Familiengericht den Eltern auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge oder einen Teil davon gemeinsam überträgt, soweit zu erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl entspricht. Dem Vater ist auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge oder ein Teil davon allein zu übertragen, soweit eine gemeinsame elterliche Sorge nicht in Betracht kommt und zu erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl am besten entspricht. Das BVerfG hat den Beschluss des Familiengerichts aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber das elterliche Sorgerecht für ein nichteheliches Kind zunächst allein seiner Mutter übertragen hat. Ebenfalls stehe mit der Verfassung in Einklang, dass dem Vater eines nichtehelichen Kindes nicht zugleich mit der wirksamen Anerkennung seiner Vaterschaft gemeinsam mit der Mutter das Sorgerecht eingeräumt werde. Eine solche Regelung wäre allerdings mit der Verfassung vereinbar, sofern sie mit der Möglichkeit verbunden werde, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob die gesetzlich begründete gemeinsame Sorge der Eltern dem Kindeswohl im Einzelfall tatsächlich entspreche.
BVerfG: Derzeitige Sorgerechtsregelung verletzt das Elternrecht des Vaters
Jedoch greife der Gesetzgeber dadurch unverhältnismäßig in das Elternrecht des Vaters eines nichtehelichen Kindes ein, dass er ihn generell von der Sorgetragung für sein Kind ausschließe, wenn die Mutter des Kindes ihre Zustimmung zur gemeinsamen Sorge mit dem Vater oder zu dessen Alleinsorge für das Kind verweigere, ohne dass ihm die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung am Maßstab des Kindeswohls eingeräumt ist.
Die Regelung des § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB, der die Teilhabe an der gemeinsamen Sorge von der Zustimmung der Mutter abhängig macht, stelle ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung einen tiefgreifenden Eingriff in das Elternrecht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 GG dar. Der Gesetzgeber setze das Elternrecht des Vaters in unverhältnismäßiger Weise generell hinter das der Mutter zurück, ohne dass dies durch die Wahrung des Kindeswohls geboten sei.
Denn die dem geltenden Recht zugrunde liegende Annahme des Gesetzgebers hätte sich nicht als zutreffend erwiesen. Neuere empirische Erkenntnisse bestätigten danach nicht, dass Eltern die Möglichkeit der gemeinsamen Sorgetragung in der Regel nutzten und die Zustimmungsverweigerung von Müttern in aller Regel auf einem sich nachteilig auf das Kind auswirkenden elterlichen Konflikt basiere sowie von Gründen getragen sei, die nicht Eigeninteressen der Mutter verfolgten, sondern der Wahrung des Kindeswohls dienten. Vielmehr verständigten sich lediglich knapp über die Hälfte der Eltern nichtehelicher Kinder darauf, Erklärungen zur Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge abzugeben. Zum anderen sei aufgrund der Ergebnisse von Befragungen von Institutionen und Experten davon auszugehen, dass in nicht unbeträchtlicher Zahl Mütter allein deshalb die Zustimmung zur gemeinsamen Sorge verweigern, weil sie ihr angestammtes Sorgerecht nicht mit dem Vater ihres Kindes teilen wollen.
Auch der generelle Ausschluss des Vaters vom alleinigen Sorgerecht ist verfassungswidrig
Auch die Regelung in § 1672 Abs. 1 BGB, der die Übertragung der Alleinsorge für ein nichteheliches Kind von der Zustimmung der Mutter abhängig macht, stelle einen schwerwiegenden und nicht gerechtfertigten Eingriff in das Elternrecht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 GG dar. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass die Eröffnung einer gerichtlichen Übertragung der Alleinsorge auf den Vater andererseits schwerwiegend in das Elternrecht der Mutter eingreife, wenn dem väterlichen Antrag im Einzelfall stattgegeben wird. Denn der Mutter werde die bisher von ihr ausgeübte Sorge gänzlich entzogen, und zwar nicht, weil sie bei ihrer Erziehungsaufgabe versagt hat und dadurch das Kindeswohl gefährdet ist, sondern weil in Konkurrenz zu ihr der Vater sein Recht reklamiere, an ihrer Stelle für das Kind zu sorgen. Zudem sei mit einem Sorgerechtswechsel regelmäßig auch ein Wechsel des Kindes vom Haushalt der Mutter in den des Vaters verbunden, wodurch insbesondere das Bedürfnis des Kindes nach Stabilität und Kontinuität berührt werde. Unter Berücksichtigung dessen und in Abwägung der grundrechtlich geschützten Interessen beider Eltern sei es zwar mit Art. 6 Abs. 2 GG nicht vereinbar, dem Vater mangels Möglichkeit einer gerichtlichen Einzelfallprüfung den Zugang auch zur alleinigen Sorge zu verwehren. Eine Übertragung der Alleinsorge von der Mutter auf den Vater des nichtehelichen Kindes sei jedoch nur gerechtfertigt, wenn es zur Wahrung des väterlichen Elternrechts keine andere Möglichkeit gebe, die weniger in das mütterliche Elternrecht eingreife, und wenn gewichtige Kindeswohlgründe vorlägen, die den Sorgerechtsentzug nahelegen. Deshalb sei zunächst zu prüfen, ob eine gemeinsame Sorgetragung beider Eltern als weniger einschneidende Regelung in Betracht komme. Sofern dies der Fall sei, habe eine Übertragung der Alleinsorge zu unterbleiben. Ansonsten sei dem Vater die Alleinsorge zu übertragen, wenn zu erwarten sei, dass dies dem Kindeswohl am besten entspricht.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 21. Juli 2010 – 1 BvR 420/09
Pressemitteilung Nr. 57/2010 vom 3. August 2010
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