Warum die Kirche 300.000 € Schmerzensgeld an ein Missbrauchsopfer zahlen muss
Schon viele schreckliche Missbrauchsfälle aus dem Umfeld der katholischen Kirche haben die deutschen Gerichte beschäftigt. Häufig wurden die bisher zugesprochenen Schmerzensgelder von Opfern als zu gering empfunden. Viele verzichteten daher gleich auf den mühsamen und gegebenenfalls retraumatisierenden Klageweg. Doch nun sorgt ein Urteil des Landgerichts Köln für Aufsehen: Einem ehemaligen Messdiener des Erzbistums Köln wurden 300.000€ Schmerzensgeld zugesprochen (LG Köln, Urteil vom 16.07.2024, 5 O 197/22). Was aus dem Urteil für die Berechnung der Höhe des Schmerzensgeldes zu lernen ist, erklärt unser Gastautor Micha Mackenbrock. Er absolvierte das erste Staatsexamen an der Universität Bonn und widmet sich nun seinem Promotionsvorhaben im Bereich Arbeitsrecht.
I. Der Sachverhalt
Der Kläger wurde im Jahr 1970 Messdiener und lernte kurz danach den Pfarrer Z, dessen Dienstherr das beklagte Erzbistum Köln war, kennen. Ab 1971 kam es regelmäßig zum Missbrauch durch den Pfarrer Z, etwa im Rahmen von Freizeiten, zu denen nur Jungen eingeladen wurden. Auf den Freizeiten inszenierte Pfarrer Z ein „Gericht“: Kinder und Jugendliche, die sich in den Augen des Pfarrers nicht benommen hatten, wurden verurteilt und bestraft. Die Strafen waren dabei kaltes Abduschen, sich Ausziehen oder Einschmieren mit Schuhcreme oder Zahnpasta. Auch wurden die Jungen halbnackt an einen Baum gebunden, um sodann Schläge über sich ergehen lassen zu müssen. Pfarrer Z ergötzte sich an diesen Darbietungen und gab Anweisungen.
Ab 1972 fanden dann auch sexuelle Übergriffe seitens des Pfarrers Z gegenüber dem Kläger statt: Von 1972 bis 1979 fanden 320 Fälle sexuellen Missbrauchs statt, darunter auch Vergewaltigungen. 1980 endete der Missbrauch schließlich dadurch, dass der Stiefvater eines anderen betroffenen Kindes Anzeige gegen den Pfarrer erstattete. Dieser wurde daraufhin vom Erzbistum Köln versetzt. Weitere Untersuchungen durch das Erzbistum, etwa die Suche nach weiteren Missbrauchsopfern, fanden aber nicht statt.
Der Kläger wurde durch den jahrelangen Missbrauch schwer traumatisiert. Infolge des Missbrauchs erkrankte er an schwerer Neurodermitis, Bluthochdruck, Migräne und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Im Jahr 2004 wurde ein Grad der Behinderung von 50% anerkannt. Im Zeitraum 1991-1995 beziehungsweise 2002-2012 befand er sich in Psychotherapie. 2012 forderte der Kläger vom Erzbistum außergerichtlich eine Entschädigung: Er erhielt 5.000 €. Nach einem Widerspruch erhielt er 2022 weitere 20.000 €. Zwischenzeitlich ist Pfarrer Z verstorben.
Nun fordert der Kläger vom Erzbistum Köln Schadensersatz in Höhe von 750.000 €.
II. Die Entscheidung
Das Landgericht Köln hat der Klage in weitem Umfang stattgegeben und das Erzbistum zur Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 € verurteilt.
1. Die Anspruchsgrundlage
Der Kläger hat Anspruch auf Schadenersatz gegen das beklagte Erzbistum Köln aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG. Der Amtshaftungsanspruch findet auch Anwendung bei Amtspflichtverletzungen von Personen, die im Rahmen von kirchlichen Aufgaben tätig geworden sind. Denn schließlich handelt es sich bei dem Erzbistum um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Folglich ist der Amtshaftungsanspruch also auch bei Handlungen des Pfarrers Z anzuwenden, in welchen er sein Kirchenamt als Pfarrer ausübt. Das umfasst seine Arbeit mit den Messdienern und die Teilnahme an den Freizeiten, bei welchen es zum Missbrauch gekommen ist. Indem Pfarrer Z den Kläger in Ausübung seines Priesteramtes während seiner Arbeit mit den Messdienern sexuell missbrauchte, verletzte er eine drittbezogene Amtspflicht (LG Köln, Urteil vom 16.07.2024, 5 O 197/22, Rn. 58-64).
Der Kläger hat auch vorgetragen, dass er im Rahmen eines Urlaubs des Pfarrers Z von selbigem missbraucht worden sei. Das Gericht lehnt es aber ab, auch für diese Übergriffe einen Amtshaftungsanspruch zu bejahen: Es bestehe im Rahmen des privaten Urlaubs kein Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit des Pfarrers (LG Köln, Urteil vom 16.07.2024, 5 O 197/22, Rn. 65).
2. Zur Höhe des Schadensersatzes
Der Missbrauch fand vor dem 31.07.2002 statt, sodass gemäß Art. 229 § 8 I Nr. 2 EGBGB der aktuelle § 253 II BGB keine Anwendung findet. Stattdessen gilt § 847 I 1 BGB in der Fassung von 01.01.1964. Die Ausführungen des Gerichts im vorliegenden Fall gelten aber entsprechend auch für den uns bekannten § 253 II BGB.
a. Berücksichtigung aller Umstände
Das Gericht führt aus: „Der Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes gebietet es, die Höhe des dem Geschädigten zustehenden Anspruchs aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen“ (LG Köln, Urteil vom 16.07.2024, 5 O 197/22, Rn. 82). Weiterhin führt das Gericht aus, dass – selbstverständlich – auch psychische Leiden zu berücksichtigen sind.
Für die Berechnung der Höhe des Schmerzensgeld steht „die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung ganz im Vordergrund“ (LG Köln, Urteil vom 16.07.2024, 5 O 197/22, Rn. 90). Aber auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten und des Schädigers finden Berücksichtigung.
b. Vergleichbarkeit mit Fällen körperlicher Behinderung
Des weiteren zieht das Gericht andere Fälle zur groben Orientierung heran. Vorsichtig ist das Gericht aber mit einer Heranziehung von anderen Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs, da sich solche Fälle wegen verschiedener Täterprofile, Intensität und Folgen nur schwer miteinander vergleichen lassen. Jedoch führt das Gericht aus, dass die durch Missbrauch bedingten psychischen Folgen ein Leben lang bleiben. Die Situation sei mit der eines Rollstuhlfahrer vergleichbar, der sein Leben ebenso komplett umstellen müsse. Daher sei es erforderlich, den vorliegenden Fall mit Fällen schwerwiegender körperlicher Behinderungen gleichzustellen. Denn jeweils wurde „die Möglichkeit eines Lebens als selbstbestimmte Persönlichkeit verloren“ (LG Köln, Urteil vom 16.07.2024, 5 O 197/22, Rn. 102).
Das Gericht verweist auf Fälle, in denen die Opfer schwere körperliche Beeinträchtigungen (Hirnschäden, beidseitige Amputation der Unterschenkel) erlitten haben. Wie im vorliegenden Fall lägen auch hier ganz erhebliche Belastungen, Schmerzen und Einschränkungen bis zum Lebensende vor. Die psychische Belastung des Klägers habe sich wegen des jahrlangen Missbrauchs, ähnlich wie eine körperliche Einschränkung, gefestigt.
c. Berücksichtigung von wirtschaftlichen Verhältnissen
Zuungunsten des Klägers berücksichtigt das Gericht aber auch, dass der Kläger trotz seiner Erfahrungen in der Lage war, eine Ausbildung abzuschließen und zu arbeiten. Auch konnte er trotz seiner Erfahrungen eine Familie gründen. Des Weiteren hat der Kläger die Aussicht, das Geschehene durch Therapie und den Abschluss des Gerichtsverfahrens eines Tages zu verarbeiten, um schließlich inneren Frieden finden zu können. Demnach stellte sich die Situation für den Kläger nicht hoffnungslos dar.
Schließlich entscheidet das Gericht, dass ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 € angemessen sei.
III. Einordnung der Entscheidung
Wie das Urteil des Landgerichts Köln zeigt, hat ein Sinneswandel stattgefunden. Mittlerweile können psychische mit körperlichen Belastungen gleichgestellt werden. Während es vor einigen Jahren noch eine Tendenz dahingehend gab, dass sich Betroffene „doch nicht so anstellen“ mögen, werden ihre Schicksale zunehmend anerkannt und angemessen berücksichtigt. Die Arbeit der Gerichte kann insoweit Vorbild für die Gesellschaft allgemein sein. Und auch Studierende und Referendare können aus dem Urteil einiges für die Fallbearbeitung mitnehmen. Insbesondere, wenn es darum geht, Kriterien für die Höhe von Schmerzensgeld aufzustellen.
Für einene Messdiener könnte eventuell noch ein (verschuldensunabhängiger) Aufwendungsersatzanspruch – etwa entsprechend einem „innerbetrieblichen Schadensausgleich“ – in Betracht kommen?
Unklar könnte noch ein Verhältnis zu einer staatlichen Opferentschädigung entsprechend einem staatlichen Aufopferungsgedanken wirken?
Hier kann bedeutsam sein, dass Kirche mit der Aufgabe einer weltanschaulich religiös-spirituellen Organisiertheit auch eine Aufgabe mit staatlicher Bedeutung übernehmen kann und dass die Kirche für rechtswidriges Vorgehen in der Kirche mitunter teils selbst „opferähnlich“ betroffen sein kann, weil etwa ähnliche Vorgänge in großen Organisiertheiten schwer völlig auszuschließen scheinen könnten)?
Das kann andeuten, dass im Verhältnis zu einer staatlichen Opferentschädigung und einem staatlichen Aufopferungsgedanken Ansprüche gegen eine Kirche teils noch unklar zweifelhaft wirken könnten?
Falls Ansprüche gegen die Kirche im Verhältnis zu Opferentschädigung und zu einem Aufopferungsgedanken teils noch unklar wirken sollten, könnten noch Opferentschädigung und ein Aufopferungsgedanke gegen den Staat in Betracht kommen?
(Schmerzensgeld kann allerdings Teil eines selbst empfundenen Reuebedarfes sein, welchem Einwendungen widersprechen sollten,abgesehen von einer ungünstigen Außenwirkung von Einwendungen).
Gemeint war im vorangehenden Kommentar im ersten Satz, – etwa entsprechend einer „innerbetrieblichen Arbeitgeberhaftung“ -….
Gemeint war zudem, ein Schadensersatzanspruch gegen die Kirche könnte wegen des Verhältnis zum Aufopferungsedanken gegenüber dem Staat etwa bei Opferentschädigung teils noch etwas unklar wirken?
Aufopferungsersatz bei Opferentschädigung könnte eventuell zunächst vorrangig Aufgabe „unmittelbarer“ und weniger von „mittelbarer Staatsverwaltung“ sein, wonach vorrangig der „unmittelbare Gesamtstaat“ haften könnte?
Gemeint war im vorangehenden, zweiten Kommentar im letzten, dritten Satz, dass Aufopferung bei Opferentschädigung vorrangig den gesamten Staat betreffen kann, ungeachtet von Zahlungszuständigkeiten.