VGH München: Paintball und die Menschenwürde
Der VGH München hat mit Urteil vom 30.01.2013 (Az. 15 BV 09.2719) entschieden, dass das Paintball-Spiel grundsätzlich nicht gegen die Menschenwürde verstößt (laut Wikipedia ist Paintball ein Mannschaftssport, bei dem Gegenspieler mit Hilfe von Druckluft- oder Gasdruckmarkierern und Farbgeschossen markiert werden, s. dazu hier). Wir berichteten bereits im Februar 2010 über eine ähnlich lautende Entscheidung des OVG Lüneburg (Urteil vom 18.02.2010 – 1 LC 244/07; siehe dazu hier).
Der Verwaltungsgerichtshof kommt in einer umfassenden Bewertung zu dem Ergebnis, dass Paintball nicht gegen die Menschenwürde verstößt. Insbesondere komme eine entwürdigende Behandlung der (gegnerischen) Mitspieler beim Paintball-Spiel nicht zum Ausdruck, weil sich die Spieler beim Wettkampf chancengleich gegenüberstünden und der Gegenspieler nicht gleichsam zur bloßen Zielscheibe herabgewürdigt werde. Auch entscheide jeder Spieler freiwillig, ob er teilnehme. Ob das Paintball-Spiel als moralisch verwerflich eingestuft werden könne, sei ohne Relevanz, da dies eine Verletzung des Grundrechts auf Menschenwürde nicht begründen könne.
Schutzbereich der Menschenwürde
Die Entscheidung gibt also Grund genug, sich noch einmal mit Art. 1 Abs. 1 GG und der dazugehörigen Prüfungssystematik auseinanderzusetzen. Für die Klausur und mündliche Prüfung ist es insbesondere wichtig, wie es argumentativ angehen kann, dass kriegsähnliche Unterhaltungsspiele überhaupt in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG fallen können. Exemplarisch lassen sich zu diesem Gesichtspunkt ausgewählte Passagen des vorgenannten Urteils aus dem Jahr 2010 heranführen:
Mit der Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch „unwürdiges“ Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt.
Darin erschöpft sich jedoch der erkennbare Sinn der Vorschrift nicht. Vielmehr ergibt sich aus deren Wortlaut und systematischem Zusammenhang, daß sie vor allem auch Fälle erfassen soll, in denen die Schilderung des Grausamen und Unmenschlichen eines Vorgangs darauf angelegt ist, beim Betrachter eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt. Das geschieht insbesondere dann, wenn grausame oder sonstwie unmenschliche Vorgänge gezeigt werden, um beim Betrachter ein sadistisches Vergnügen an dem Geschehen zu vermitteln, oder um Personen oder Gruppen als menschenunwert erscheinen zu lassen. Eine solche Tendenz schließt die Vorstellung von der Verfügbarkeit des Menschen als bloßes Objekt ein, mit dem nach Belieben verfahren werden kann. Deshalb kann auch eine menschenverachtende Darstellung rein fiktiver Vorgänge das Gebot zur Achtung der Würde des Menschen verletzen. Sie ist zudem geeignet, einer allgemeinen Verrohung Vorschub zu leisten, den Respekt vor der Würde des Mitmenschen beim Betrachter zu mindern und so auch die Gefahr konkreter Verletzungen dieses Rechtsguts zu erhöhen. Daß auch solche Darstellungen unter den Tatbestand fallen sollen, wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. So wird im Bericht des federführenden Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit das „genüßliche“ Verharren bei einem unmenschlichen Vorgang als Beispiel für den Anwendungsbereich der Norm angeführt (BTDrucks. 10/2546, S. 21 f.).
Subsumtion im Einzelfall
Konkret zum hiesigen Fall des Paintball- Spiels subsumierte das OVG Lüneburg damals folgendermaßen:
Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich kein Grundsatz dahin, dass der Staat die Würde des Menschen als Gattungswesen auch unterhalb der Schwelle des § 131 StGB schützen muss. Im Gegenteil mehren sich die Warnungen, dass bei der Annahme einer Menschenwürdeberührung Zurückhaltung zu üben ist […].
Das OVG erläutert insbesondere, was es mit der leeren Phrase „die Menschenwürde sei keiner Abwägung zugänglich“ auf sich hat:
Unergiebig ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis etwa von Kramer (NVwZ 2004, 1083), die Menschenwürde sei keiner Abwägung zugänglich (vgl. dazu grundsätzlich Hömig, EuGRZ 2007, 633, 640; Hofmann, NVwZ 2010, 217). Damit würde als feststehend davon ausgegangen, dass eine Menschenwürdemissachtung überhaupt vorliegt. Das kann jedoch erst das Ergebnis einer Gesamtbetrachtung sein, die auch die thematisch berührten Freiheitsrechte der Bürger einbezieht. Diese Freiheitsrechte konturieren nicht nur mit, wo die schwer bestimmbare Grenze der Menschenwürdeverletzung liegt (vgl. Maunz-Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 24; ferner VGH München, Beschl. v. 21.2.2003 – 4 CS 03.462 -, NJW 2003, 1618 – Körperwelten), sondern stellen ihrerseits – namentlich Art. 5 GG – Anforderungen an die Bewertung der inkriminierten Tätigkeit. Dieser darf mit anderen Worten nichts „unterschoben“ werden, sondern ihr Bedeutungsgehalt ist mit besonderer Sorgfalt auszuloten (vgl. z.B. BVerfG, Beschl. v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 u.a., BVerfGE 93, 266 = NJW 1995, 3303).
Jedenfalls wird allgemein zu gelten haben, dass eine Einschränkung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG) um so begründungsbedürftiger ist, je abstrakter die geltend gemachte Menschenwürdeverletzung ist. Zwar ist das genannte Recht durch die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz begrenzt; das bietet aber keine Handhabe für moralische und geschmackliche Gängelung.
Soweit […] einer Teilnahme am Paintball-/Reballspiel nachteilige Wirkungen auf die charakterliche Entwicklung zugeschrieben wird, fehlt es an einer tragfähigen und gesicherten empirischen Grundlage. Die sogenannte Wirkungsforschung bemüht sich zwar bereits seit Jahrzehnten um belastbare Ergebnisse. Diese liegen jedoch noch nicht vor.
Die gesetzgebenden Organe haben auch kein anderes Material präsentiert, das schlüssig in eine bestimmte Richtung weist. Generell scheint zwar vermutet zu werden, dass – bei hohem Einfluss kultureller Faktoren – ein übermäßiger Konsum von Gewalt im Fernsehen, im Kino, im Internet und bei Spielen (insbesondere Computerspielen) dann zu Verhaltensstörungen führen oder diese verstärken kann, wenn der Betreffende nicht über eine hinreichende soziale Einbettung verfügt. Quantifiziert wird dieser Effekt allerdings kaum. Je länger der Zeitraum andauert, in dem die Behörden keine Belege für die genannten nachteiligen Wirkungen vorlegen können, um so weniger können sie sich angesichts der berührten Freiheitsrechte auf die bislang nur vermuteten Effekte berufen.
Das OVG räumt überdies im Hinblick mit oft geäußerten Vorurteilen auf und erforscht vortrefflich die Grundzüge des menschlichen Verhaltens:
Das Spielgeschehen übt keineswegs die Situation eines Amoklaufs ein. Die Gegner sind gerade nicht arg- und wehrlos, sondern – jedenfalls im Durchschnitt – „gleich stark“. Schon aus praktischen Gründen spricht eine Vermutung dafür, dass sich die Spieler gegenseitig im Ansatz fair behandeln, weil sie andernfalls dem Spielbetrieb sehr schnell den Boden entziehen würden. Das erbarmungslose „Niedermetzeln“ hoffnungslos unterlegener Opfer wäre dagegen kein erfolgversprechendes Spielkonzept, weil sich niemand finden würde, der die Rolle des Opfers übernimmt. „Spielerische Gewalt“ und fair play müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Die in der mündlichen Verhandlung betrachteten Videoclips zeigen deutlich, dass getroffene Mitspieler von sich aus anzeigen, dass sie getroffen sind; dass „gefoult“ wird wie etwa beim Fußball, ist nicht bekannt geworden. Erkennbar ist auch, dass es sich um ein Mannschaftsspiel handelt, bei welchem der einzelne Mitspieler keinen ungezügelten Aggressionstrieb auslebt, sondern spielstrategisch und -taktisch für seine Mannschaft eintritt; „soziales“ Verhalten ist also sogar gewinnentscheidend.
Der Senat sieht auch keinen letztlich entscheidenden Unterschied zwischen der hier in Rede stehenden Variante von Paintball/Reball und herkömmlichen sozial anerkannten Sportarten. Wie verschiedentlich hervorgehoben worden ist, gibt es reiches Anschauungsmaterial an Spielen, bei denen es um die „Ausschaltung“ von Gegnern geht (vgl. auch die Anmerkungen von Bosbach, https://wolfgang-bosbach.de/news/sit-no-labitur-maiorum-nominati). Bestätigt wird dadurch offenbar, dass die Lust am Wettkampf zu den Grundelementen des menschlichen Wesens gehört, was möglicherweise entwicklungsgeschichtlich bedingt ist.
Gemessen am Realitätsgrad mancher Computerspiele, deren Schauplatz historische oder fiktionale Kriegshandlungen sind, wirkt Paintball/Reball geradezu harmlos. Dass die Teilnehmer, die – wie andere Mitbürger auch – wesentlich plastischeren Gewaltdarstellungen in Fernsehen, Kino und Internet ausgesetzt sind, gerade durch dieses Spiel zu einer Einstellung gelangen sollen, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt, ist schwer nachvollziehbar. Eher ist anzunehmen, dass die Teilnehmer das Spiel ebenso als Gemeinschaftserlebnis empfinden wie andere Mannschaftsspiele auch und dass soziale Kontakte dadurch eher geknüpft und bestärkt werden als dass moralischer Verfall eintritt. Es wäre lebensfremd, anzunehmen, dass der Gegner, mit dem man nach dem Spiel bei einem Bier zusammensitzt, mit Hass und Verachtung verfolgt wird, oder dass diese Einstellung unbeteiligten Dritten gegenüber eintritt. Soweit bei anderen Spielen wie dem Fußball gelegentlich Gewaltexzesse auftreten, steht dies in gänzlich anderem Zusammenhang und betrifft vor allem nicht die an den Spielen Beteiligten.
Anders argumentierte in einem ähnlichen Fall allerdings das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 24.10.2001 – Az.: 6 C 3/01 (Verbot eines Laserspiels). Der entscheidende Unterschied zum vorliegenden Fall bestand soweit ersichtlich allerdings darin, dass es im Rahmen des „Laserspiels“ primär darauf ankam, seine Gegner mit maschinenpistolenähnlichen Laserzielgeräten zu treffen, um dadurch Punkte zu erlangen, die mittels am Brust- und Rückenbereich befestigter Infrarotsensoren registriert wurden. Im Mittelpunkt des Spiels stand also nach Lesart des BVerwG das „spielerische Töten von Menschen“, wohingegen es bei dem hier in Rede stehenden Paintballspiel primär darauf ankommt, gegnerische Fähnchen zu erobern. Dennoch erntete das BVerwG seinerzeit zu Recht erhebliche Kritik aus dem Schrifttum. Der Autonomieanspruch des Einzelnen sei als Ausfluss der individuellen Entscheidungsfreiheit des Einzelnen bereits Kernbestandteil der Menschenwürde, sodass es mit der Schutzwirkung von Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar sei, wenn der Staat dem Bürger seine Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen einseitig auferlegt. Die Menschenwürde dürfe also nicht zur Durchsetzung partikularer Moralvorstellungen instrumentalisiert werden. Ausgangspunkt für die Auslegung des Würdebegriffs müsse daher stets das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers sein.
Fazit
Wer mit einer Menschenwürdediskussion im Rahmen einer Klausur konfrontiert wird, darf sich auf das Verfassen eines Besinnungsaufsatzes freuen. Wichtig ist in systematischer Hinsicht lediglich, dass sich der Eingriff in die Menschenwürde nicht positiv definieren lässt. Vielmehr hat eine negative Abgrenzung zu erfolgen. Ein Eingriff in die Menschenwürde ist indes nicht zu rechtfertigen. Das bedeutet also, dass das Bejahen eines Eingriffs gleichsam eine Verletzung des Grundrechts zur Folge hat. Aus diesem Grunde muss eine erschöpfende Diskussion, wie sie oben etwa vom OVG Lüneburg vorgenommen wurde, bereits auf Ebene des Schutzbereichs/Eingriffs stattfinden. Eine Rechtfertigungsebene mit einer klassichen Abwägung im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung gibt es bei Art. 1 Abs. 1 GG insofern nicht.
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