VGH Baden-Württemberg: Zur „Gehsteigberatung“ für Schwangere
Der VGH Baden-Württemberg hat entschieden, dass das gezielte Ansprechen von Frauen auf Schwangerschaft oder Abtreibung in unmittelbarer räumlicher Nähe zu einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle (sog. „Gehsteigberatung“) durch unbekannte Dritte weiterhin verboten bleibt (Urteil vom 19.10.2012 – Az. 1 S 915/11). Die „Gehsteigberatung“ verletze aller Voraussicht nach das allgemeine Persönlichkeitsrecht der angesprochenen Frauen, so der VGH Baden-Württemberg.
Sachverhalt
Die Stadt Freiburg hat im zugrunde liegenden Fall dem Kläger (einem gemeinnützigen Verein) mittels einer sofort vollziehbaren Untersagungsverfügung und unter Androhung eines Zwangsgeldes i.H.v. 250 €, verboten, in unmittelbarer räumlicher Nähe zu einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle Personen auf eine Schwangerschaftskonfliktsituation anzusprechen oder ihnen unaufgefordert Broschüren, Bilder oder Gegenstände zu diesem Thema zu zeigen oder zu überreichen. Der Verein (Kläger) hat zunächst – ohne Erfolg – einstweiligen Rechtsschutz gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung ersucht. Das Verwaltungsgericht Freiburg hat die Klage im Hauptsacheverfahren ebenfalls abgewiesen. Der VGH bestätigte nunmehr – nachdem in der Berufungsverhandlung zahlreiche Zeugen angehört wurden – dieses Urteil.
Rechtliche Würdigung
Man wird zunächst bei der gutachterlichen (Begründetheits)Prüfung der Klage untersuchen müssen, auf welche Ermächtigungsgrundlage die Behörde ihre Untersagungsverfügung stützen konnte. Dabei sollte vorliegend nicht voreilig auf die polizeiliche bzw. ordnungsbehördliche Generalklausel rekurriert werden. Vielmehr sollte zunächst geprüft werden, ob entsprechende Vorschriften des Landesstraßenrechts einschlägig sind (die Landesstraßengesetze finden Sie hier). Nach Maßgabe der straßenrechtlichen Vorschriften kann die zuständige Behörde die erforderlichen Maßnahmen zur Beendigung der Straßenbenutzung anordnen, wenn und soweit die Straße ohne die erforderliche Sondernutzungserlaubnis benutzt wird (vgl. etwa § 22 Satz 1 StrWG NRW). Die landesrechtlichen Vorschriften des Straßenrechts legen fest, dass eine über den Gemeingebrauch der Straße hinausgehende Sondernutzung einer behördlichen Erlaubnis bedarf. Der Gemeingebrauch wird regelmäßig dahingehend definiert, dass der Gebrauch der öffentlichen Straßen jedermann im Rahmen der Widmung und der Straßenverkehrsvorschriften innerhalb der verkehrsüblichen Grenzen gestattet ist. Öffentliche Straßen sind nur Straßen, Wege und Plätze, die dem öffentlichen „Verkehr“ gewidmet sind (vgl. § 2 Abs. 1 StrWG NRW). Der klassische Verkehrsbegriff erfasst dabei nach allgemeinem Verständnis die Benutzung zum Zwecke der Ortsveränderung bzw. Fortbewegung von Menschen und Sachen, einschließlich des ruhenden Verkehrs. In Fußgängerbereichen umfasst dies auch sonstige verkehrsbezogene Nutzungen, wie etwa das bloße Herumstehen oder Ausruhen auf einer Bank. Allerdings wird nunmehr auch dem kommunikativen Aspekt des Gemeingebrauchs Rechnung getragen. Danach sind insbesondere Fußgängerzonen nicht nur zur Fortbewegung bzw. zum kurzzeitigen Verweilen bestimmt, sondern dienen auch dazu, Fußgängern die Möglichkeit zum Austausch und Verbreiten von Informationen und Meinungen zu geben. Das bloße Verteilen von Flugblättern und Ansprechen von Passanten wird dabei im Lichte von Art. 5 Abs. 1 GG generell als Gemeingebrauch gewertet. Gleiches gilt mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 GG für das Verbreiten religiöser bzw. weltanschaulicher Schriften und Missionierungstätigkeiten. Eine erlaubnispflichtige Sondernutzung wird hingegen regelmäßig bejaht, wenn die Leichtigkeit und Sicherheit des Fußgängerverkehrs etwa durch das Aufstellen von Schildern oder sonstigen Hindernissen beeinträchtigt wird oder wenn mit dem Verteilen von Flugblättern gewerbliche Zwecke verfolgt werden. Vorliegend dürfte das Verhalten des Klägers noch dem kommunikativen Verkehr und damit dem Gemeingebrauch zuzurechnen sein, sodass straßenrechtliche Eingriffsbefugnisse nicht einschlägig sind.
Bei der sodann anstehenden Prüfung der polizei- bzw. ordnungsbehördlichen Generalklausel kommt es zunächst primär darauf an, ob das dem Kläger zurechenbare Verhalten eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Eine Gefahr liegt bei einem Lebenssachverhalt vor, der bei ungehindertem Ablauf in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden an polizeirechtlich geschützten Gütern führt. Der Gefahrenbegriff setzt eine Prognose im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und der zeitlichen Nähe des Schadenseintritts voraus, wobei das zu erwartende Schadensausmaß Berücksichtigung finden muss. Dabei gilt: Je größer das Ausmaß des Schadens, umso geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit und die zeitliche Nähe des Schadenseintritts zu stellen. Maßgeblich ist dabei die ex-ante Perspektive eines fähigen, besonnenen und sachkundigen Beamten. Die öffentliche Sicherheit umfasst drei Schutzgüter: den Schutz von Individualrechten, den Schutz der Unversehrtheit der objektiven Rechtsordnung und den Schutz des Bestandes und der Veranstaltungen des Staates und anderer Hoheitsträger.
Zum Schutzgut der öffentlichen Sicherheit zähle auch das durch das Grundgesetz geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG). Die gezielte Ansprache auf eine Schwangerschaftskonfliktsituation durch unbekannte Dritte auf der Straße verletze das Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frauen. In der Frühphase der Schwangerschaft befänden sich die meisten Frauen in einer besonderen seelischen Lage, in der es in Einzelfällen zu schweren Konfliktsituationen komme. Diesen Schwangerschaftskonflikt erlebe die Frau als höchstpersönlichen Konflikt. Diese Situation begründe ein hohes Schutzniveau für das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Frauen hätten daher gerade in dieser Lebensphase ein Recht darauf, von fremden Personen, die sie auf der Straße darauf ansprächen, in Ruhe gelassen zu werden. Die für den Kläger tätige Gehsteigberaterin missachte mit der gezielten Ansprache auf eine Schwangerschaft das Persönlichkeitsrecht der Frauen. Erschwerend komme hinzu, dass die Ansprache in der Öffentlichkeit auf einer belebten Straße und in einer für unbeteiligte Dritte wahrnehmbaren Weise erfolge. Dies hätten zahlreiche Zeuginnen bestätigt. Die Verletzung des Persönlichkeitsrechts werde noch weiter verstärkt durch die den angesprochenen Frauen angebotenen Faltblätter mit teilweise einschüchternden und verstörend wirkenden Bildern von Föten und Teilen von Föten.
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bedarf es sodann einer Abwägung zwischen den sich im konkreten Fall gegenüberstehenden Grundrechtspositionen. Dazu heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts:
Der Kläger könne sich nicht auf den grundgesetzlichen Schutz der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) berufen. Denn die „Gehsteigberatung“ ziele allein auf eine individuelle Kommunikation mit Einzelpersonen. Im Rahmen der Abwägung müsse auch die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) des Klägers im konkreten Fall gegenüber dem Persönlichkeitsrecht der Frauen zurücktreten. Denn auch bei einem Thema von besonderem öffentlichen Interesse wie dem eines Schwangerschaftsabbruchs schütze das Recht auf Meinungsfreiheit keine Tätigkeiten, mit denen anderen eine bestimmte Meinung aufgedrängt werden solle. Gerade hierauf ziele aber die Gehsteigberatung ab. Die Meinungsfreiheit des Klägers und seiner Mitglieder werde durch das Verbot der „Gehsteigberatung“ ferner nicht unverhältnismäßig beschränkt. Denn außerhalb der Humboldtstraße bleibe die Gehsteigberatung möglich. Eine allgemeine Kritik an der Möglichkeit der Abtreibung könnte darüber hinaus – ohne eine gezielte Ansprache von möglicherweise schwangeren Frauen – auch in der Humboldtstraße geäußert werden. Weiterhin komme dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frauen Vorrang auch gegenüber dem durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Klägers zu.
Das Einschreiten der Stadt sei auch im öffentlichen Interesse geboten, da eine unbestimmte Vielzahl schwangerer Frauen von der mit der „Gehsteigberatung“ einhergehenden Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betroffen sei. Eine zeitnahe wirkungsvollere Abwehr der Beeinträchtigungen sei nicht zu erreichen. Schließlich leide die Untersagungsverfügung an keinen Ermessensfehlern.
Examensrelevanz
Die vorliegende Entscheidung ist geradezu prädestiniert, um in naher Zukunft in schriftlichen und/oder mündlichen Examensprüfungen abgefragt zu werden. Ihr kann mithin eine äußerst hohe Examensrelevanz beigemessen werden. Der Fall lässt sich verwaltungsprozessual wunderbar einbetten (vor allem im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes; s. dazu hier). Das erforderliche polizeirechtliche Standardwissen, die vorliegend bei der rechtlichen Würdigung ebenfalls heranzuziehenden grundrechtlichen Erwägungen sowie die Aktualität des Falles, dürfte einige Prüfer sicherlich dazu verleiten den Sachverhalt in naher Zukunft abzuprüfen.
Wieso hat der VGH nicht auf die Schwangerschaftsberatungsstellen als Veranstaltung des Staates abgestellt? Auf diesem Wege erspart man sich auch den enormen Begründungsaufwand, der für das Umschiffen der Privatrechtsklausel nötig ist.
Dies dürfte m.E. wohl daran liegen, dass die betroffene Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle jedenfalls nicht unmittelbar von einem Träger hoheitlicher Gewalt betrieben wird. Die Schwangerschaftsberatung stellt als solche darüber hinaus auch keine Ausübung hoheitlicher Eingriffsbefugnisse dar. Die Beratungsstellen fungieren vielmehr als Erfüllungsgehilfen der öffentlichen Hand bei der Warnehmung ihres grundgesetzlichen Schutzauftrags hinsichtlich des werdenden Lebens. Das macht ihre Tätigkeit allerdings nicht zu einer „Veranstaltung des Staates“ i.S.d. Polizeirechts. Abgesehen davon hätte es – angenommen Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen sind „Veranstaltungen des Staates“ – eines nicht minder großen Begründungsaufwands bedurft, da die Tätigkeit der Klägerin (Verteilen von Flugblätter, Ansprechen der Frauen) für sich genommen noch keine konkrete Gefahr für den Veranstaltungsbetrieb darstellt. Für eine dahingehende behördliche Prognoseentscheidung müssten schon belastbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die Tätigkeit des Klägers kausal für das Fernbleiben beratungswilliger Schwangerer und einem damit einhergehenden Nichterreichen des „Veranstaltungszwecks“ ist.
Dazu liegen mir nur der Beschluss des VG Freiburg vom 04.03.2011 und der des VGH BW vom 10.06.2011 und schließlich der Anlass dieses Artikel die Pressemitteilung des VGH vom 19.10.2012 zum Ausgang der Berufungsverhandlung vor (1 S 36/12).
Keinem der Dokumente kann ich entnehmen, wer Träger der Beratungsstelle ist. Zwar sieht § 3 SchKG auch Beratungsstellen „freier Träger“ vor, in erster Linie dürften aber die Länder die Träger sein. Nur kommt es darauf wohl auch nicht an.
Das Schwangerschaftsberatungskonzept als Veranstaltung des Staates ergibt sich nach meinem Dafürhalten aus den 3 ff. SchKG. Schließlich stimmen wir darin überein, der Staat genüge damit seinem grundgesetzlichen Schutzauftrag.
Zudem führt der VGH im Beschluss vom 10.06.2011 unter Rn 31 aus:
„Auch zum Schutz dieses dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden
normativen Beratungskonzepts erscheint die Untersagung der dieses
Konzept konterkarierenden Gehsteigberatung in der unmittelbaren Nähe
einer nach § 9 SchKG
anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle gerechtfertigt.
Dies hat das Verwaltungsgericht im Einzelnen zutreffend ausgeführt, so
dass der Senat von einer weiteren Begründung absehen und hierauf
verweisen kann (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).“
Gleichwohl hat das VG zuvor in seinem Beschluss vom 04.03.2011 unter Rn 11 insoweit eine Rechtfertigung noch ausdrücklich offen gelassen, aber zumindest den öffentlich-rechtlichen Gehalt der Beratungsstelle als Teil des Beratungskonzepts festgestellt:
„Nach dem Vorstehenden bedarf daher voraussichtlich auch die Frage keiner
Entscheidung, ob das normative Beratungskonzept, mit dem der Staat
seiner grundrechtlichen Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens
Rechnung tragen will (vgl. BVerfG [Senat], Urteil vom 28.05.1993 – 2 BvF 2/90 u.a. -, BVerfGE 88, 203) und das insoweit jedenfalls auch öffentlich-rechtlichen Gehalt hat (vgl. BVerfG [Senat], ebenda, RdNr. 242: Beratung als Aufgabe des Staates
), bereits für sich allein gesehen ein Eingreifen der Antragsgegnerin –
gleichsam zur institutionellen Absicherung der
Schwangerschaftskonfliktberatung nach den §§ 5 ff. SchKG
– rechtfertigen kann. Dieser Frage wird möglicherweise in einem
gegebenenfalls durchzuführenden Hauptsacheverfahren weiter nachzugehen
sein; für das vorläufige Rechtsschutzverfahren kommt es hierauf aus den
oben geschilderten Gründen nicht entscheidungserheblich an.“
Diese Erwägungen sprechen für die Annahme einer „Veranstaltung des Staates“.
Oder unterliege ich einem Denkfehler?
Keine Sorge! Du unterliegst keinem Denkfehler. Deine Argumentation ist nachvollziehbar und sicherlich vertretbar. Allerdings bin ich a.A. § 3 SchkG enthält lediglich einen Sicherstellungsauftrag der sich an die Länder richtet. Eine vergleichbare Bestmmung findet sich in § 11 GlüStV. DIe Vorschrift legt den Ländern einen Sicherstellungsauftrag hinsichtlich der Suchtforschung anheim. Die zu diesem Zwecke aufgenommenen bzw. durchgführten Suchtstudien stellen ebensowenig „Veranstaltungen des Staates“ dar, wie die Beratungsstellen.
Und es kommt wohl darauf an, ob die Beratungsstellen hoheitlich betrieben bzw. mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattet ist. In der Definition des Schutzguts heißt es ja auch: „Vernastaltungen des Staates und anderer Hoheitsträger“. Nichts desto trotz sprechen die von dir zitierten Entscheidungspassagen jedenfalls nicht generell gegen die von dir präferierte Einstufung. Es ist auch mit Sicherheit richtig und gern gesehen, wenn das Schutzgut „Veranstaltungen des Staates“ zumindest angeprüft wird. Für den Fall, dass man Schwangerschaftsberatungsstellen als staatl. Veranstaltungen qualifiziert, bedarf es eines nicht minder großen Begründungsaufwands, da die
Tätigkeit der Klägerin (Verteilen von Flugblätter, Ansprechen der
Frauen) für sich genommen noch keine konkrete Gefahr für den
Veranstaltungsbetrieb darstellt. Für eine dahingehende behördliche
Prognoseentscheidung müssten schon belastbare Anhaltspunkte dafür
vorliegen, dass gerade die Tätigkeit des Klägers kausal für das
Fernbleiben beratungswilliger Schwangerer und einem damit einhergehenden
Nichterreichen bzw. Vereiteln des “Veranstaltungszwecks” ist.