VG Berlin: Keine Filmaufnahmen bei friedlichen Demos!
Mit der Frage, ob Filmaufnahmen durch die Polizei bei friedlichen Demonstrationen einen Eingriff in die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer darstellen, hatte sich das VG Berlin (1 K 905.09) in einem Urteil vom 5.7.2010 aufeinanderzusetzen. In dem vorliegenden Sachverhalt hatte die Klägerin mit einer Feststellungsklage begehrt, die Rechtswidrigkeit der Filmaufnahmen festzustellen. Der Sachverhalt könnte in der Klausur im Öffentlichen Recht jedoch auch problemlos im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde abgeprüft werden. Gegenstand dieses Artikels soll daher nur die Frage sein, ob die Klägerin durch die Filmaufnahmen in ihren Grundrechten verletzt ist.
Sachverhalt (vereinfacht)
Die Klägerin veranstaltete zusammen mit anderen Interessenverbänden einen Aufzug vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor mit mindestens 25.000 Teilnehmern. Am Platz des 18. März sollte noch eine Abschlusskundgebung stattfinden. Auf der Route des Aufzuges kam es zu keinen Zwischenfällen. Die Veranstaltung verlief – wie erwartet – ruhig und friedlich. Während des Aufzuges vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor fuhren Einsatzkräfte der Polizei mit einem Kleintransporter weniger Meter vor dessen Spitze her und filmten den Aufzug mit mehreren auf dem Dach des Transporters montierten Kameras. Die so gewonnen Bilder wurden ohne Zeitverzögerung an die Einsatzleitstelle der Polizei übertragen. Einzelne Personen waren auf den Monitoren gut erkennbar. Auf Nachfrage teilten die Polizeibeamten diesem mit, dass eine Speicherung der Aufnahmen nicht stattfinde. Am Zielort der Kundgebung wurde der Übertragungswagen so aufgestellt, dass er einen Großteil der Versammlung mit seinen Kameras abdecken konnte.
Die Klägerin sieht sich durch die Videoaufnahmen in ihren Grundrechten verletzt.
I. Versammlungsfreiheit, Art.8 I GG
1. Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich: (+)
b) Sachlicher Schutzbereich: jede örtliche Zusammenkunft von mehreren Personen zur gemeinschaftlichen, auf Teilhabe an öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (+)
Der Aufzug als Versammlung, die sich fortbewegt, ist ebenfalls geschützt. (vgl. § 19 VersG).
2. Eingriff
Ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts ist jedes staatliche Handeln, dass die Ausübung bzw. Wahrnehmung des Grundrechts zumindest erschwert. Zwar wird nach dem klassischen Eingriffsbegriff unter einem Grundrechtseingriff ein staatliches Handeln durch Rechtsakt verstanden, das unmittelbar und gezielt (final) durch ein erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot, also imperativ zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2002 – 1 BvR 670/91 -, BVerfGE 105, 279, 300). Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend, ist jedoch ein moderner Eingriffsbegriff zu Grunde zu legen. Dieser moderne Eingriffsbegriff, der sich jedenfalls für die speziellen Grundrechte durchgesetzt hat, lässt für einen Eingriff jedes staatliche Handeln genügen, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht (BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2002 – 1 BvR 670/91 -, BVerfGE 105, 279, 299 – 301).
Fraglich ist hier, ob die Videoüberwachung ohne Speicherung als Maßnahme mit Eingriffsqualität zu werten ist.
VG Berlin + BVerfG: Eingriff (+)
Nach der Rechtsprechung des BVerfG liegt hier ein Eingriff durch die Videoüberwachung wegen seiner Abschreckungswirkung.
Dazu das VG Berlin:
Wenn der einzelne Teilnehmer der Versammlung damit rechnen muss, dass seine Anwesenheit oder sein Verhalten bei einer Veranstaltung durch Behörden registriert wird, könnte ihn dies von einer Teilnahme abschrecken oder ihn zu ungewollten Verhaltensweisen zwingen, um den beobachtenden Polizeibeamten möglicherweise gerecht zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2007 – 1 BvR 2368/06 –, DVBl 2007, 497 – 502). Durch diese Einschüchterung der Teilnehmer könnte mittelbar auf den Prozess der Meinungsbildung und demokratischen Auseinandersetzung eingewirkt werden (VG Münster, Urteil vom 21. August 2009 – 1 K 1403/08 – juris Rn. 13). Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist (BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 -, BVerfGE 65, 1, 43 – Volkszählung; BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 –, BVerfGE 122, 342, 369).
Es macht hier keinen Unterschied, ob die durch die Polizei gefertigten Aufnahmen auch gespeichert wurden, denn das Beobachten der Teilnehmer stellt bereits einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Das polizeiliche Handeln knüpft einzig und allein an die Wahrnehmung des Versammlungsrechts durch die Teilnehmer an. Demnach ist die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen nach dem Kamera-Monitor-Prinzip auch geeignet, bei den Teilnehmern ein Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen und diese – wenn auch ungewollt – in ihrem Verhalten zu beeinflussen oder von der Teilnahme an der Versammlung abzuhalten. Ob die Aufnahmen tatsächlich auch gespeichert wurden, kann der einzelne Versammlungsteilnehmer nicht wissen.
Der Rechtsprechung des BVerfG folgend – der sich hier auch das VG Berlin anschließt – würde die Beobachtung der Versammlung im Kamera-Monitor-Verfahren einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstellen.
a.A. in der Literatur: Eingriff bei Filmaufnahmen ohne Speicherung (-)
Eine teilweise vertretene Ansicht in der Literatur verneint bei der Überwachung einer Versammlung einen Eingriff. Die Überwachung sei zu Koordinierungszwecken der Polizei erforderlich. Die Bejahung eines Eingriffs führe zu einer Versubjektisierung des Eingriffsbegriffs. Außerdem müsste man dann auch die Anwesenheit der Polizei bereits als einen Eingriff werten. Zudem zeige die Neuregelung des § 12a VersG, dass eine Überwachung nicht als Eingriff zu werten sei. Anders sei dies nur bei der Speicherung der Videoaufnahmen. Da laut Sachverhalt jedoch die Videoaufnahmen nicht gespeichert wurde, läge dieser Ansicht folgend kein Eingriff vor.
Streitentscheid:
Gegen die Ansicht der Literatur spricht jedoch, dass man nicht bereits einen Eingriff in die Grundrechte der Klägerin ablehnen muss, nur weil die Videobeachtung zur Koordinierung der Sicherheitskräfte erforderlich ist. Es ist nicht eine Frage des Eingriffs, sondern eine Frage, ob die Filmaufnahmen als Eingriff hier verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.
Das VG Berlin hierzu:
Die Tatsache, dass die Einsatzkräfte der Polizei erklärte, es fände keine Aufzeichnung der Bilder statt, ändert nichts an der Beurteilung der Sachlage. Zum einen wurde dies nicht allen Versammlungsteilnehmern kundgetan. Zum anderen bleibt die einschüchternde Wirkung des für alle Teilnehmer deutlich sichtbaren und ständig vorausfahrenden Übertragungswagens erhalten. Der einzelne Versammlungsteilnehmer muss ständig damit rechnen, durch eine Vergrößerung des ihn betreffenden Bildausschnittes (Heranzoomen) individuell und besonders beobachtet zu werden. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten ist dies generell möglich, so dass ein prinzipieller Unterschied zwischen Übersichtsaufnahmen und personenbezogenen Aufnahmen nicht mehr besteht (BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 –, BVerfGE 122, 342, 368 – 369; VG Münster, Urteil vom 21. August 2009 – 1 K 1403/08 – juris Rn. 16). Hinzu kommt, dass die technische Möglichkeit, die Übersichtsaufnahmen auch zu speichern, dem Grunde nach besteht und jederzeit mittels Knopfdruck erfolgen kann – auch versehentlich. Insofern verweist der Beklagte zu Unrecht darauf, dass hier kein Unterschied zu einem die Sachlage beobachtenden Polizeibeamten vor Ort vorliege. Dieser würde die Versammlungsteilnehmer – in der Regel abseits stehend – wohl kaum in derselben Weise irritieren, wie ein nur wenige Meter vor ihnen herfahrender Übertragungswagen, der fortlaufend mehrere Kameras auf sie gerichtet hat.
Wegen der erheblichen Einschüchterungswirkung, die von ungewollten Verhaltensweisen bis hin zum vollständigen Verzicht der Teilnahme an der Versammlung führen kann, ist hier, der Rechtsprechung folgend auch bei Filmaufnahmen ohne Speicherung ein Eingriff folglich zu bejahen.
3. Rechtfertigung aufgrund der Grundrechtsschranke des Art.8 II GG
Als Rechtsgrundlage kommt hier die §§ 12a i.V.m. 19a VersG in Betracht. Danach darf die Polizei Bild- und Tonaufnahmen von Teilnehmern bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen nur anfertigen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor, da zum Zeitpunkt des Aufzuges keine tatsächlichen Anhaltspunkte erkennbar waren, dass von den Versammlungsteilnehmern erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgingen. Eine Gefahrenprognose im Vorfeld des Aufzuges am 5. September 2009 in Berlin, welche ein polizeiliches Eingreifen erforderlich gemacht hätte, ist nicht ersichtlich.
Weitere Rechtsgrundlagen liegen hier nicht vor. Insbesondere ist kein Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht möglich, da dieser nur zum Schutz der Versammlung oder aber als milderes Mittel gegenüber einer tatbestandlich zulässigen Auflösung möglich ist. Diese Fälle liegen hier nicht vor.
Zwischenergebnis: Eingriff in die Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 Abs. 1 GG damit (+)
II. Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, Art.2 I i.V.m Art.1 I GG
1. Schutzbereich
Dieses Grundrecht umfasst die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 -, BVerfGE 65, 1, 41 – 42 – Volkszählung).
2. Eingriff
Das VG Berlin bejaht vorliegend auch einen Eingriff:
Bereits die Beobachtung der Versammlungsteilnehmer im Kamera-Monitor-Verfahren, ohne eine Speicherung der Daten, stellt einen Eingriff dar, denn die Beobachtung, Auswertung und Speicherung der Daten stellt aus der Sicht der betroffenen Versammlungsteilnehmer einen einheitlichen Lebenssachverhalt dar (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8. Mai 2009 – 16 A 3375/07 – juris Rn. 39 – Videoüberwachung einer Universitätsbibliothek). Es besteht jederzeit die Möglichkeit, ohne weiteres von der Übersichtsaufnahme in die Nahaufnahme überzugehen und somit den Einzelnen individuell zu erfassen. Durch die so aufwandslose Möglichkeit der Erhebung personenbezogener Daten liegt eine faktische Beeinträchtigung des grundrechtlichen Schutzgegenstandes vor, die einer Grundrechtsgefährdung als Eingriff gleichkommt.
3. Rechtfertigung
Auch hier ist keine Rechtsgrundlage vorhanden (s.o).
Zwischenergebnis: Mithin ist ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gegeben.
Gesamtergebnis:
Die Klägerin ist durch die Videoaufnahmen – auch ohne Speicherung – in Ihren Grundrechten aus Art. 8 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.
Die Leitsätze des VG Berlin als Zusammenfassung:
1. Die Beobachtung einer Versammlung durch die Polizei mittels Kameras und die Übertragung der Bilder in die Einsatzleitstelle ohne die Einwilligung der Versammlungsteilnehmer stellt einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.Vm. Art. 1 Abs. 1 GG) dar. Dies gilt auch, wenn keine Speicherung der Bilder erfolgt.
2. Das bloße Beobachten und Anfertigen von Übersichtsaufnahmen durch die Polizei, verbunden mit der technischen Möglichkeit des gezielten Heranzoomens einzelner Teilnehmer einer Versammlung, überschreitet die Schwelle zum Eingriff in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG). Der einzelne Versammlungsteilnehmer könnte durch das Gefühl des Beobachtetseins ungewollt eingeschüchtert und zu bestimmten, aus seiner Sicht den beobachtenden Polizeibeamten gerecht werdenden Verhaltensweisen veranlasst oder sogar von der Teilnahme an der Versammlung abgehalten werden. Für den Teilnehmer ist es nicht erkennbar, ob neben der Übertragung der Bilder in Echtzeit auch eine Speicherung der Daten erfolgt.
3. Die §§ 12a und 19a des Versammlungsgesetzes stellen keine Rechtsgrundlage für das Anfertigen von Übersichtsaufnamen zur Lenkung und Leitung während einer Versammlung dar, sofern nicht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegt. Das Anfertigen von Übersichtsaufnahmen während einer Versammlung bedarf einer gesetzlichen Grundlage.
Quelle für Zitierungen in der Lösung und die Leitsätze: Entscheidungsdatenbank Berlin-Brandenburg
War am 27.1. Gegenstand des Prüfungsgesprächs im ÖR am JPA Köln!
Super Artikel! Vielen Dank! Bin übrigends über meine Alpmann Schmidt Karteikarten bei repetico hierhergekommen und habe gemerkt, dass der Autor einer der Mitbegründer von repetico ist… so schließt sich der Kreis. 🙂