Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie zur Prüfung im öffentlichen Recht.
Frau X, welche Entscheidungen des BVerfG aus der jüngsten Zeit würden Sie als besonders wegweisend im Recht der Europäischen Union nennen?*
An dieser Stelle sind zunächst die Entscheidungen des BVerfG zum Vertrag von Lissabon und dem ESM zu nennen. Besonders wichtig ist zudem die Entscheidung des BVerfG zur 3 % Klausel bei Europawahlen.
Ja ganz gut, ein erster Überblick ist gegeben. An welcher Norm knüpft die Entscheidung des BVerfG zur 3 % Klausel an?**
In § 2 Abs. 7 EuWG ist die Sperrklausel von 3 % bei Wahlen zum EP bisher geregelt. Rechtlich geht es um den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit. Für die Bundestagswahlen ergibt sich dieser unmittelbar aus Art. 38 Abs. 1 GG. Aber auch für andere Wahlen und Abstimmungen ist dieser im Hinblick auf das Demokratieprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, und das Recht auf Chancengleichheit, Art. 3, Art. 21 GG, zu beachten. Daher müsste man hier nicht auf Art. 38 Abs.1 GG selbst rekurrieren, sondern auf Art. 20 Abs. 3, 21 und 3 GG.
Was meint denn Wahlrechtsgleichheit in diesem Sinne?*
Hier ist zu unterscheiden zwischen der sog. Zählwert- und der Erfolgswertgleichheit. Zählwertgleichheit meint das Prinzip des „one man, one vote“. Jeder Bürger muss zunächst einmal eine Stimme haben. Erfolgswertgleichheit geht darüber noch hinaus. Diese besagt, dass grundsätzlich alle Stimmen den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis, hier die Zusammensetzung des Parlaments, haben müssen.
Gut, also kann es bei der 3 % Klausel nur um die Erfolgswertgleichheit gehen, denn alle Stimmen für eine Partei, die keine 3 % erreicht, fallen ja unter den Tisch. Kann man diesen Eingriff in die das Prinzip der Erfolgswertgleichheit rechtfertigen und wenn ja, wie? **
Eine Rechtfertigung ist möglich, allerdings nur unter strengen Gesichtspunkten. So ist ein zwingender, sachlicher Grund erforderlich. Die Einschränkung der Erfolgswertgleichheit muss also nicht etwa bloß zweckmäßig oder verhältnismäßig sein, sondern zwingenden Charakter haben, also notwendig aus anderen verfassungsrechtlichen Gründen heraus. Hier kommt die sonst gefährdete Funktionsfähigkeit des Parlamentes in Betracht.
Und, liegt denn nun ein solcher zwingender Grund vor?*
Ein solcher kann darin gesehen werden, dass ohne die Sperrklausel einige kleinere Splitterparteien in das EP einziehen könnten, wodurch die Kompromissfindung sehr stark erschwert würde.
Welche historischen Gründe gibt es denn überhaupt für die Sperrklausel?*
Hier ist insbesondere die Zersplitterung des Parlamentes während der Weimarer Republik zu nennen, die dann später die Machtergreifung der Nationalsozialisten begünstigte. Diese Zersplitterung soll in Anbetracht der Tatsache, dass der Bundestag eine stabile Regierung bilden soll, möglichst vermieden werden. Durch die 5 % Klausel waren lange Zeit im Bundestag nur 3 Parteien, später 4 und heute 5 vertreten. Dies begünstigte die Bildung einer sattelfesten Regierung.
Und warum sollte dieses Argument nun zumindest bei Wahlen zum EP nicht mehr gelten? *
Hierfür könnte sprechen, dass das EP keine eigene „Regierung“ wählt. Es hat eine andere Funktion als der Bundestag, der unmittelbar Ausgangspunkt jeder demokratischen Legitimierung innerhalb der BRD ist. Das kann man vom EP nicht sagen. Zudem gibt es faktisch bereits sehr viele kleinere Parteien im EP, ohne dass man von einem Funktionsverlust sprechen könnte. Auf dieses tatsächliche Argument hat wohl auch das BVerfG maßgeblich abgestellt.
Das kann man so sagen. Lassen sich denn auch Argumente finden, die für die Sperrklausel sprechen?**
Das EP wählt auch den Kommissionspräsidenten (Art. 17 Abs. 7 EUV), welcher momentan noch Herr Barroso ist. Für die im Mai anstehende Wahl haben die beiden großen politischen Lager im EP aber zwei Spitzenkandidaten aufgestellt, Martin Schulz und Jean-Claude Juncker. Der Wahlgewinner soll dann in einem sich stärker politisierenden EP zum Kommissionspräsidenten gewählt werden.
Aus dieser neuen „Politisierung“ des EP könnte man die gleichen Argumente wie für die Sperrklausel für den Bundestag herleiten: Nunmehr muss eine „Regierung“ gebildet werden, so dass hierfür eine Koalitionsbildung im EP gerade nicht durch eine Zersplitterung erschwert werden sollte. Zudem könnte die Zusammenarbeit der großen Parteien nicht mehr so reibungslos funktionieren wie bisher.
Jedenfalls muss dem Gesetzgeber ein Beurteilungsspielraum zugebilligt werden hinsichtlich der tatsächlichen Gefahr der Zersplitterung. Das BVerfG soll nur die Prognoseentscheidung des Gesetzgebers kontrollieren, ohne aber eine eigene Prognose an dessen Stelle zu setzen. Es ist ein Organ der Rechtskontrolle, nicht der Rechtssetzung. Da die Prognoseentscheidung mE nicht offensichtlich verfehlt ist, spricht dies für die Zulässigkeit der 3 % Hürde. Zudem ist für mich systematisch gesehen der Unterschied zwischen Bundestag und EP nicht klar.
Das mag man so sehen. Doch welche Aufgaben des EP können Sie tatsächlich normativ benennen?**
Dem Europäischen Parlament sind in erheblichem Umfang Kreations- und Legislativfunktionen übertragen (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 Satz 2, UAbs. 3 EUV; Art. 289, Art. 294, Art. 314 AEUV). Neben der Wahl zum Kommissionspräsidenten, Art. 17 Abs. 7 EUV, werden auch der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und die übrigen Mitglieder der Kommission als Kollegium einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments gestellt. Diese üben wichtige Repräsentationsaufgaben für die EU aus, so dass deren Wahl sehr wichtig ist. Zudem bedarf es im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, Art. 289, 294 EUV, und bei Aufstellung des Jahreshaushaltsplan, Art. 314, der Zustimmung des EP. Es ist also kein Parlament wie der Bundestag, aber hat doch wichtige Entscheidungen mit Mehrheit zu treffen. Hier setzte die bisherige Sperrklausel daher mE zurecht an.
Kennen Sie denn die Rechtslage hinsichtlich Sperrklauseln im Ausland und wenn ja, kann man diese für die Prüfung der deutschen Norm fruchtbar machen?**
In vielen anderen Ländern der EU gibt es ebenfalls eine Sperrklausel und faktisch oder rechtlich bedarf es in allen Ländern außer Spanien mind. 3 % der abgegeben Stimmen um in das EP einzuziehen. Hieraus kann man aber nicht ableiten, dass dies ein sozusagen quantitatives Argument auch für die BRD ergibt: Die Wahl muss gerade auch dem deutschen Grundgesetz genügen.
Allerdings lässt sich hieraus ein anderes Argument stricken: Gäbe es europaweit keine Sperrklauseln würde dies offensichtlich zu einer Zersplitterung des EP führen. Nach der Entscheidung des BVerfG wären diese Sperrklauseln nach deutschem Recht aber verfassungswidrig. Somit begründet das BVerfG die Verfassungswidrigkeit der deutschen Regelung letztlich mit den nach eigenem Urteil verfassungswidrigen Regelungen anderer Staaten. Oder anders gewendet: Die Verfassungswidrigkeit der deutschen Regelung hinge vom Wahlrecht in den anderen Mitgliedsstaaten ab; sie sollte aber unabhängig davon beurteilt werden. Hierfür spricht auch, dass jeder Staat dazu angehalten ist, solche innerstaatlichen Regelungen zu treffen, die dem Wohl der EU als Ganzes dienen und Maxime für die Regelungen in allen EU-Mitgliedsstaaten sein können.
Ich denke wir haben das Problem der Sperrklausel für die Wahlen zum EP gut durchdacht und bedanke mich für Ihre rege Beteiligung.