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Schlagwortarchiv für: Wohnung

Dr. Melanie Jänsch

BGH: Mieterhöhung trotz Irrtums über die Größe der Wohnung wirksam

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mietrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Zivilrecht

Mit am Dienstag veröffentlichtem Urteil vom 11.12.2019 (Az. VIII ZR 234/18) hat der BGH festgestellt, dass Mieterhöhungen selbst dann wirksam sein können, wenn der Berechnung jahrelang eine falsche Quadratmeterzahl zugrunde gelegt wurde – soweit die höhere Miete unter der ortsüblichen Vergleichsmiete bleibt. Ein Anspruch des Mieters auf Rückzahlung aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB bzw. eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB komme nicht in Betracht. Der Fall ist dabei nicht nur praktisch interessant, sondern erfordert auch eine Auseinandersetzung mit verschiedenen rechtlichen Problemen wie der Behandlung des beiderseitigen Kalkulationsirrtums sowie den Voraussetzungen einer Vertragsanpassung nach § 313 BGB – die erhöhte Klausur- und Examensrelevanz liegt damit auf der Hand. Im Rahmen dieses Beitrags sollen daher die Grundzüge der Entscheidung dargestellt und erläutert werden.
 
Anmerkung: Einen ausführlichen Grundlagenbeitrag zur Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB  findet ihr hier.
 
A) Sachverhalt (leicht abgewandelt und vereinfacht)
Der Sachverhalt ist schnell erzählt: M war im Zeitraum vom 1.7.2006 bis zum 31.12.2014 Mieter einer Wohnung des V in D. Die ursprüngliche Kaltmiete belief sich auf 495 €, wobei der schriftliche Mietvertrag keine Angaben zur Größe der Wohnung enthielt. V übersandte dem M mit Schreiben vom 26.7.2007, 21.1.2009, 21.3.2011 und 28.6.2013 insgesamt vier Mieterhöhungsverlangen, in denen V ausgehend von einer Wohnfläche von 114 qm jeweils erhöhte Grundmieten errechnete, die allerdings immer noch deutlich unter der ortsüblichen Vergleichsmiete nach dem Mietspiegel der Stadt D. lagen, der den genannten Schreiben jeweils beigefügt war. M stimmte jedem Erhöhungsverlangen schriftlich zu und zahlte fortan die erhöhten Mieten. Im Jahre 2013 kamen dem M erstmals Zweifel über die Größe der Wohnung; er beauftragte einen Sachverständigen, welcher eine Größe von etwa 100 qm feststellte. Nunmehr begehrt der M Rückzahlung der vermeintlich zu viel gezahlten Miete.
 
B) Rechtsausführungen
Die Vorinstanz, das LG Dresden, hat unter teilweiser Abänderung des erstinstanzlichen Urteils den V zur Zahlung verurteilt. Der BGH hat das Urteil nunmehr aufgehoben – der M habe keinen Anspruch auf Rückzahlung der auf falscher Berechnungsgrundlage beruhenden Miete. Doch der Reihe nach:
 
I. Anspruch auf Rückzahlung aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB
Ein Anspruch auf Rückzahlung aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB sei nicht gegeben. Zwar habe der V durch Leistung des M etwas erlangt; indes bestehe nach Ansicht des BGH unabhängig von der Einhaltung der mietrechtlichen Vorschriften nach §§ 558, 558a BGB ein Rechtsgrund in den wirksamen Vereinbarungen der Parteien über die Erhöhung der Miete. Denn die Vereinbarungen seien dahingehend auszulegen, dass sie sich in dem explizit genannten Betrag, auf den die Nettokaltmiete erhöht wurde, erschöpfen; nicht dagegen sei die Wohnfläche, die der Berechnung zugrunde gelegt wurde, Vertragsinhalt – hierbei handele es sich lediglich um den (insofern unerheblichen) Grund zur vom M akzeptierten Vertragsänderung. Ausdrücklich formuliert der BGH:

„Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es im Falle einer Zustimmung des Mieters zu einem Mieterhöhungsbegehren des Vermieters nicht darauf an, ob das Begehren des Vermieters den formellen Anforderungen des § 558a BGB entsprochen und dem Vermieter ein materieller Anspruch auf Zustimmung zu der begehrten Mieterhöhung (§ 558 Abs. 1 BGB) zugestanden hat. Denn durch die Zustimmung des Mieters zu einem Mieterhöhungsverlangen des Vermieters kommt – nach allgemeiner Meinung – eine vertragliche Vereinbarung zwischen Mieter und Vermieter über die Erhöhung der Miete zustande [..]. Dass eine solche vertragliche Vereinbarung neben den gesetzlich vorgesehenen einseitigen Mieterhöhungen und dem (gerichtlichen) Mieterhöhungsverfahren nach § 558, § 558b BGB möglich ist, ergibt sich aus § 557 Abs. 1 BGB. […]. Die hier in Rede stehenden Mieterhöhungsvereinbarungen sind dahin auszulegen, dass die Miete auf den darin jeweils explizit genannten neuen Betrag erhöht wird und nicht lediglich auf den geringeren Betrag, der sich durch Multiplikation des jeweils erhöhten Quadratmeterbetrages mit der tatsächlichen Wohnfläche ergibt. […] Gegenstand der vereinbarten Mieterhöhungen ist hier der jeweils genannte Betrag, auf den die Nettomiete für die Wohnung erhöht wurde. Bei der Wohnfläche, die zur Ermittlung dieser neuen (erhöhten) Miete genannt war, handelt es sich hingegen – ebenso wie bei der gleichfalls explizit angegebenen ortsüblichen Vergleichsmiete (je qm) – lediglich um den (nicht zum Vertragsinhalt gewordenen) Grund für die von den Beklagten angestrebte und vom Kläger akzeptierte Vertragsänderung.“ (Rn. 15 ff.)

Mit anderen Worten: Unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach §§ 558, 558a BGB können die Vertragsparteien privatautonom eine Mieterhöhung vereinbaren. Dies ist durch die Schreiben des V und die schriftlichen Zustimmungen des M sowie die darauffolgende Zahlung der erhöhten Mieten im vorliegenden Fall geschehen. Die Vereinbarung der Parteien ist dahingehend auszulegen, dass sich die Miete auf den in den Schreiben benannten Betrag erhöht. Die Wohnfläche, die als Berechnungsgrundlage angegeben wurde, ist hingegen nach Auslegung vom objektiven Empfängerhorizont nach §§ 157, 133 BGB kein Vertragsinhalt geworden, sodass der diesbezügliche gemeinsame Irrtum die Wirksamkeit der Abrede nicht hindert. Da ein Rechtsgrund besteht, scheidet ein Anspruch auf Rückzahlung aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB also aus.
 
Anmerkung: Ein Kalkulationsirrtum berechtigt grundsätzlich nicht zur Anfechtung nach § 119 BGB. Denn derjenige, der aufgrund einer für korrekt gehaltenen, tatsächlich aber unzutreffenden Berechnungsgrundlage einen bestimmten Preis oder eine Vergütungsforderung ermittelt und diese seiner Willenserklärung zugrunde legt, trägt das Risiko dafür, dass seine Kalkulation zutrifft. Insofern handelt es sich um einen unerheblichen Motivirrtum (BeckOK BGB/Wendlandt, 52. Edition, Stand: 01.11.2019, § 119 Rn. 33 m.w.N.). Liegt – wie hier – ein gemeinsamer Irrtum der Parteien vor, sind die Grundsätze zur Störung der Geschäftsgrundlage heranzuziehen (BeckOK BGB/Wendlandt, 52. Edition, Stand: 01.11.2019, § 119 Rn. 34).
 
II. Anspruch auf Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1, 2 BGB
Ein Anspruch auf Vertragsanpassung auf die jeweils geringere Miete nach den Grundsätzen zur Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1, 2 BGB erscheint denkbar. Als eine vom Grundsatz pacta sunt servanda abweichende Regelung betrifft die Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB den Fall, dass Umstände von vornherein fehlen oder nachträglich wegfallen, die für eine Vertragspartei so wesentlich sind, dass der Vertrag geändert oder aufgehoben werden muss, weil ein Festhalten am unveränderten Vertrag sich als unzumutbar darstellen würde.
 
1. Wegfall oder Fehlen der Geschäftsgrundlage

Erforderlich ist hierfür zunächst, dass es sich die Geschäftsgrundlage, also ein Umstand, dessen (Fort-)Bestand von jedenfalls einer Vertragspartei vorausgesetzt wurde – der zwar nicht Vertragsinhalt geworden ist, aber der nach der Intention zumindest einer Partei erforderlich ist, um den Vertrag als sinnvolle Regelung aufrechtzuerhalten, nachträglich weggefallen ist bzw. sich schwerwiegend verändert hat (§ 313 Abs. 1 BGB) oder von vornherein fehlt (§ 313 Abs. 2 BGB). Dies betrifft im vorliegenden Fall die Wohnfläche, die die Parteien aufgrund des beiderseitigen Kalkulationsirrtums den jeweiligen Mieterhöhungsvereinbarungen zugrunde gelegt haben.
 
2. Hypothetisches Element
Dieser Umstand, der von der Vertragspartei vorausgesetzt wurde, also im konkreten Fall die für größer gehaltene Wohnfläche, muss überdies so wesentlich sein, dass die Vertragspartei ohne ihn den Vertrag nicht bzw. zu anderen Konditionen abgeschlossen hätte. Hier muss also die Frage gestellt werden, ob die Partei den Vertrag ggf. mit anderem Inhalt abgeschlossen hätte, wenn sie die wesentliche Veränderung des Umstands vorhergesehen hätte. Im betreffenden Fall ist bereits fraglich, ob die Parteien bei Kenntnis der tatsächlichen Wohnfläche die Mieterhöhungsvereinbarungen nicht oder nicht mit demselben Inhalt geschlossen hätten. Dagegen könnte sprechen, dass sich die vereinbarte erhöhte Miete noch deutlich unter der ortsüblichen Vergleichsmiete befand sowie dass die Voraussetzungen des § 558 BGB, unter denen der V ohnehin ein berechtigtes Verlangen nach einer Mieterhöhung gehabt hätte, vorlagen; dies kann als Indiz gewertet werden. Gleichwohl hat der M „in den Tatsacheninstanzen vorgetragen, dass es ihm auf die Wohnfläche entscheidend angekommen sei und er bei Kenntnis der wahren Wohnfläche einer Mieterhöhung nicht zugestimmt, sondern dass Mietverhältnis gekündigt hätte.“ (Rn. 22) Vor diesem Hintergrund kann auch davon ausgegangen werden, dass die tatsächliche Wohnfläche als derart wesentliche Geschäftsgrundlage einzuordnen ist, dass der M in deren Kenntnis den Vertrag so nicht abgeschlossen hätte. Der BGH hat dies letztlich offen gelassen, da es ohnehin an der Unzumutbarkeit mangelte.
 
3. Normatives Element
Denn: In einem dritten Schritt ist zu prüfen, ob der Partei das Festhalten am unveränderten Vertrag zugemutet werden kann. Hierbei handelt es sich um eine Wertungsentscheidung, die eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls erfordert. Wie § 313 Abs. 1 BGB vorgibt, fließen hierbei insbesondere vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilungen ein. Unzumutbarkeit ist folglich nicht gegeben, wenn es sich um einen Umstand handelt, der dem Risikobereich der Vertragspartei zuzuordnen ist. Dass gemeinsame Irrtümer der Vertragsbeteiligten, die zu einer fehlerhaften Berechnung auf einer als maßgeblich erachteten Berechnungsgrundlage geführt haben, eine Anpassung über § 313 BGB rechtfertigen können, entspricht der wohl herrschenden Meinung (exemplarisch MüKoBGB/Finkenauer, 8. Aufl. 2019, § 313 Rn. 278). Dies hat der BGH unter anderem in einer Entscheidung aus dem Jahre 2004 explizit für Grundstücksflächen im Kontext eines Kaufvertrages entschieden:

„Ist bei dem Verkauf einer noch zu vermessenden Grundstücksfläche der Kaufgegenstand in der notariellen Urkunde sowohl durch eine bestimmte Grenzziehung in einem maßstabsgerechten Plan als auch durch eine als ungefähr bezeichnete Flächenmaßangabe bestimmt, kommt die Anpassung oder Auflösung des Vertrags nach den Grundsätzen vom Fehlen der Geschäftsgrundlage in Betracht, wenn die Parteien bei Vertragsschluss übereinstimmend davon ausgingen, dass die Größe der zeichnerisch dargestellten Fläche in etwa der bezifferten Flächengröße entspricht und das Ergebnis der Vermessung davon wesentlich abweicht“ (Urt. v. 30.1.2004 – V ZR 92/03, NJW-RR 2004, 735)

Eine noch höhere Relevanz erlangt in diesem Kontext ein anderes Urteil, ebenfalls aus dem Jahre 2004, in dem der BGH feststellte, dass für ein Mieterhöhungsverlangen nicht die vereinbarte, sondern die tatsächliche Größe der Wohnung entscheidend ist, denn ansonsten könnte der Vermieter eine Miete erzielen, die über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegt (s. BGH, Urt. v. 07.07.2004 – VIII ZR 192/03, BeckRS 2004, 07041).
In Abgrenzung hierzu hat der BGH in der aktuellen, hier zu besprechenden Entscheidung nunmehr aber die Zumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag bejaht. Zwar hat der BGH herausgestellt, die (richtige) Ermittlung der Wohnfläche sei grundsätzlich der Risikosphäre des Vermieters zuzuordnen (Rn. 24; s. auch Urt. v. 7.7.2004 – VIII ZR 192/03, aaO unter II 2 a sowie v. 18.11.2015 – VIII ZR 266/14, BGHZ 205, 18 Rn. 28). Dennoch bestehe im konkreten Fall die Besonderheit, dass die unzutreffende Berechnungsgrundlage sich schon deswegen nicht zu Lasten des Mieters ausgewirkt habe, weil dem Vermieter letztlich auch bei Berücksichtigung der tatsächlichen Wohnfläche ein Anspruch auf Zustimmung zur begehrten Mieterhöhung nach § 558 Abs. 1 BGB zugestanden hätte:

„Jedenfalls spricht nichts dafür, dass sich die wirtschaftliche Situation des Klägers in irgendeiner Weise günstiger dargestellt hätte, wenn er bei Kenntnis der tatsächlichen Wohnfläche eine Mieterhöhung abgelehnt und das Mietverhältnis gekündigt hätte. Denn in diesem Fall wären dem Kläger durch die Suche einer neuen Wohnung Mühen und Kosten entstanden und ist nicht ersichtlich, dass anderweit eine vergleichbare Wohnung zu einer unterhalb der ortsüblichen Vergleichsmiete liegenden Miete zur Verfügung gestanden hätte. Der den Beklagten bei den Mieterhöhungsbegehren bezüglich der Wohnfläche unterlaufene Fehler hatte somit für den Kläger keine negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, so dass ihm ein unverändertes Festhalten an den Vereinbarungen auch zumutbar ist. Da eine Anpassung der Mieterhöhungsvereinbarungen auf eine jeweils geringere Miete somit nicht in Betracht kommt, besteht der Rechtsgrund für die vom Kläger erbrachten (erhöhten) Mietzahlungen fort.“ (Rn. 26)

Der BGH lehnt also auch einen Anspruch aus § 313 Abs. 1, 2 BGB auf Vertragsanpassung mangels Unzumutbarkeit ab.
 
C) Fazit
Zusammenfassend gilt: Eine Mieterhöhung kann auch dann wirksam sein, wenn die Wohnung tatsächlich kleiner ist als vom Vermieter im Rahmen der Berechnung zugrunde gelegt. Ein Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB kommt mangels fehlenden Rechtsgrundes dann nicht in Betracht, wenn eine wirksame Parteivereinbarung vorliegt, die dahingehend auszulegen ist, dass ausschließlich der konkret genannte Betrag und nicht die der Berechnung zugrunde gelegte Wohnfläche Vertragsinhalt geworden ist. Auch eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen zur Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1, 2 BGB scheidet aus, wenn ein Festhalten am Vertrag dem Mieter mangels negativer wirtschaftlicher Auswirkungen durch die Mieterhöhungsabrede zumutbar ist. Das ist dann der Fall, wenn die Miete unter der ortsüblichen Vergleichsmiete bleibt. Anderes kann sich aber dann ergeben, wenn durch die auf falscher Berechnungsgrundlage beruhende Erhöhungsvereinbarung zu einer Miete führt, die die ortsübliche Vergleichsmiete übersteigt. In einer Klausur sollte daher genaues Augenmerk auf die im Sachverhalt konkret genannten Aspekte gelegt werden, um anhand dieser eine Zumutbarkeitsabwägung vornehmen zu können.
 
 

06.02.2020/1 Kommentar/von Dr. Melanie Jänsch
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Melanie Jänsch https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Melanie Jänsch2020-02-06 09:05:562020-02-06 09:05:56BGH: Mieterhöhung trotz Irrtums über die Größe der Wohnung wirksam
Dr. Yannik Beden, M.A.

Grundrechte: Die 30 wichtigsten Definitionen für Klausur und Examen

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verschiedenes

Wer das juristische Studium erfolgreich absolvieren will, muss Zusammenhänge verstehen und auch für Unbekanntes praktikable Lösungsansätze entwickeln können. Bloßes Auswendiglernen führt nicht zum Ziel. Trotzdem gilt, dass einige wesentliche Begrifflichkeiten in fast jedem Rechtsgebiet bekannt sein sollten – nicht zuletzt, um in der Klausur wertvolle Zeit einzusparen. Der Grundrechtskatalog umfasst eine überschaubare Anzahl an Begriffen, die jeder ambitionierte Student und Examenskandidat im Handumdrehen definieren können sollte. Die nachstehende Auflistung enthält diejenigen Definitionen, die für die Grundrechtsklausur notwendig sind. Wer diese beherrscht, ist für den Ernstfall bestens gewappnet:
(1) Eingriff
Nach dem sog. klassischen Eingriffsverständnis ist ein Eingriff jeder staatliche Akt, der final und unmittelbar die Rechtssphäre des Bürgers verkürzt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist. Nach dem sog. modernen Eingriffsbegriff ist ein Eingriff bereits jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.
(2) Geeignetheit
Geeignet ist eine Maßnahme, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Zwecks dienlich bzw. förderlich sein kann.
(3)Erforderlichkeit
Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn es keine milderen, den Bürger weniger belastende Mittel gibt, die zur Erreichung des verfolgten Zwecks gleich geeignet sind.
(4) Angemessenheit
Angemessen ist eine Maßnahme, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.
(5) Verfassungsmäßige Ordnung
Verfassungsmäßige Ordnung i.S.v. Art 2 Abs. 1 GG meint alle Rechtsnormen, die formell und materiell mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Beachte: Der Begriff findet sich auch in Art. 9 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG und hat in diesen Zusammenhängen andere Bedeutung!
(6) Glaube
Die Auffassung über die Stellung des Menschen in der Welt und seine Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten.
(7) Gewissen
Der Begriff meint jede ernste und sittliche, an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ orientiere Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen diese nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.
(8) Wissenschaft
Jeder ernsthafte, auf einem gewissen Kenntnisstand aufbauende Versuch zur Ermittlung der wahren Erkenntnisse durch methodisch geordnetes und kritisch reflektierendes Denken.
(9) Formeller Kunstbegriff
Danach sind Kunst nur solche Tätigkeiten, die einer traditionellen Kunstform zuzuordnen sind (Malerei, Theater, Dichtung etc.).
(10) Materieller Kunstbegriff
Kunst liegt vor, wenn das Werk das geformte Ergebnis einer freien, schöpferischen Gestaltung ist, in dem der Künstler seine Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse in einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung bringt und das auf kommunikative Sinnvermittlung nach Außen gerichtet ist.
(11) Offener Kunstbegriff
Ein Kunstwerk liegt vor, wenn das Werk interpretationsfähig und -bedürftig sowie vielfältigen
Interpretationen zugänglich ist. 
(12) Meinung
Meinung ist jedes Werturteil, das durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder des Meinens geprägt ist.
(13) Tatsache
Tatsachen sind dem Beweis zugängliche Zustände oder Ereignisse. Der Wahrheitsgehalt der Äußerung steht bei der Tatsachenbehauptung im Vordergrund.
(14) Allgemeine Gesetze
Hierunter fallen alle Gesetze, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit oder die Freiheit von Presse und Rundfunk an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, welches in der Rechtsordnung allgemein geschützt wird.
(15) Presse
Der Begriff meint alle Druckerzeugnisse, die unabhängig von der Anzahl ihrer Vervielfältigung zur allgemeinen Verbreitung geeignet und bestimmt sind (Bücher, Zeitungen, Zeitschriften o.ä.).
(16) Rundfunk
Rundfunk meint jede an eine unbestimmte Vielzahl von Personen gerichtete, drahtlose oder drahtgebundene Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege elektrischer Schwingungen.
(17) Enger Versammlungsbegriff
Nach dem engen Versammlungsbegriff, den das BVerfG vertritt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.
(18) Erweiterter Versammlungsbegriff
Nach dem erweiterten Versammlungsbegriff bedeutet Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Meinungsbildung und Meinungsäußerung. Im Gegensatz zum engen Versammlungsbegriff muss die kollektive Meinungsbildung nicht auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet sein.
(19) Weiter Versammlungsbegriff
Nach dem weiten Versammlungsbegriff versteht man unter einer Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen, zwischen denen durch einen gemeinsamen Zweck eine innere Verbindung besteht. Der weite Versammlungsbegriff verzichtet auf das Merkmal der kollektiven Meinungsäußerung und Meinungsbildung und lässt jede Art von Verbundenheit der Teilnehmer ausreichen.
(20) Verein
Verein ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.
(21) Beruf
Unter Beruf ist jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit zu verstehen, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient.
(22) Berufsausübungsregelung
Eine solche liegt vor, wenn der Gesetzgeber eine reine Ausübungsregelung trifft, die auf die Freiheit der Berufswahl nicht zurückwirkt, vielmehr nur bestimmt, in welcher Art und Weise die Berufsangehörigen ihre Berufstätigkeit im Einzelnen zu gestalten haben.
(23) Subjektive Berufswahlregelung
Bei der subjektiven Berufswahlregelung wird auf persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, erworbene Abschlüsse oder erbrachte Leistungen abgestellt, wobei es nicht auf den Einfluss des Betroffenen auf die Eigenschaften ankommt.
(24) Objektive Berufswahlregelung
Bei der objektiven Berufswahlregelung erfolgt die Beschränkung der Berufsfreiheit anhand von objektiven Kriterien, die nicht in der Person des Betroffenen liegen und auf die der Betroffene keinen Einfluss hat.
(25) Freizügigkeit
Freizügigkeit umfasst das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Hierzu gehört die Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Wohnsitznahme und die Freizügigkeit zwischen Ländern, Gemeinden und innerhalb einer Gemeinde.
(26) Wohnung
Der Begriff der Wohnung meint die räumliche Privatsphäre und damit jeden Raum, den der Einzelne der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zum Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens bestimmt. Auch Betriebs- und Geschäftsräume fallen unter den Schutzbereich; wegen des teilweise erheblichen Sozialbezugs von Betriebs- und Geschäftsräumen ist grundsätzlich aber ein im Vergleich zu privaten Wohnräumen geringeres Schutzniveau anzunehmen.
(27) Eigentum
Art. 14 GG ist ein „normgeprägtes Grundrecht“, sodass der Begriff des Eigentums nur schwerlich abschließend definiert werden kann. „Eigentum“ i.S. des GG sind jedenfalls alle vermögenswerten Rechte, die die Rechtsordnung dem Einzelnen dergestalt zuweist, dass dieser ausschließlich über das Recht verfügen kann. Eigentum iSd Art. 14 GG sind alle dinglichen Rechte des Zivilrechts, Ansprüche und Forderungen des privaten Rechts.   
(28) Inhalts- und Schrankenbestimmung
Unter Inhalts- und Schrankenbestimmungen ist die generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum geschützt werden, zu verstehen.
(29) Enteignung
Enteignung ist die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter, durch Art. 14 GG gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben. Die Enteignung beschränkt sich auf Vorgänge, bei denen Güter hoheitlich beschafft werden.
(30) Mittelbare Drittwirkung
Grundrechte entfalten mittelbar Wirkung in privaten Rechtsbeziehungen, indem Generalklausen und unbestimmte Rechtsbegriffe des Zivilrechts grundrechtskonform ausgelegt und angewendet werden („Ausstrahlungswirkung“).
 
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18.11.2019/0 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
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Dr. Yannik Beden, M.A.

Neue Entscheidung des BVerfG: Richtervorbehalt aus Art. 13 GG kann nächtlichen Bereitschaftsdienst erforderlich machen

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Eine aktuelle Entscheidung aus Karlsruhe mit besonders hoher Klausurrelevanz: Der Beschluss des BVerfG vom 12. März 2019 – 2 BvR 675/14 gibt Aufschluss über die aus der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG resultierenden Pflicht des Staates, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters zu sichern – im Zweifel auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes. Die Erwägungen des Gerichts betreffen in weiten Teilen auch Grundlegendes zur praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehaltes und damit eine Materie, die insbesondere in öffentlich-rechtlichen Examensklausuren gerne Prüfungsgegenstand ist. Schon deshalb ist jedem Kandidaten geraten, sich mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts zu beschäftigen:      
I. Sachverhalt (dem Beschluss entnommen)

Der Beschwerdeführer wurde an einem frühen Samstagmorgen, dem 14. September 2013, von Rettungskräften in Rostock aufgefunden. Er befand sich infolge eines akuten Rauschzustands in hilfloser Lage, hatte keine Dokumente bei sich und konnte weder zu seiner Person noch zu konsumierten Rauschmitteln Angaben machen. Da die Rettungskräfte vermuteten, dass er Rauschpilze oder ähnlich wirkende Betäubungsmittel zu sich genommen hatte, verständigten sie die Polizei. Nach ihrem Eintreffen gegen 4 Uhr versuchten die Polizeibeamten vergeblich, von einer Zeugin zu erfahren, um wen es sich bei der hilflosen Person handle, brachten aber in Erfahrung, dass sie in unmittelbarer Nähe wohne. Da die Rettungskräfte baten, in der Wohnung nach Personaldokumenten und Hinweisen darauf zu suchen, was die Person zu sich genommen haben könnte, betraten die Polizeibeamten die Wohnung, während der Beschwerdeführer in das Universitätsklinikum Rostock verbracht wurde. Die Wohnung teilte sich der Beschwerdeführer mit einem zu diesem Zeitpunkt abwesenden Mitbewohner. Im Zimmer des Beschwerdeführers fanden die Polizeibeamten zwei große Plastiktüten mit Cannabisprodukten, eine Feinwaage sowie eine Haschischpfeife und nahmen starken Cannabisgeruch wahr.
Aufgrund ihres Fundes sahen die Polizeibeamten einen Verdacht gegen den Beschwerdeführer wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln begründet. Sie hielten deshalb telefonisch Rücksprache mit der zuständigen Bereitschaftsstaatsanwältin der Staatsanwaltschaft Rostock, die um 4:44 Uhr die Durchsuchung der Wohnung zur Beschlagnahme von Beweismitteln anordnete. Die Bereitschaftsstaatsanwältin folgte der Argumentation der Polizeibeamten, es bestehe Gefahr im Verzug, weil sich der Beschwerdeführer jederzeit aus dem Universitätsklinikum Rostock entfernen könne. Dass sie zuvor versucht hatte, den zuständigen Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Rostock zu erreichen, lässt sich der Ermittlungsakte nicht entnehmen. Bei der im Anschluss vollzogenen Durchsuchung des Zimmers des Beschwerdeführers und der Gemeinschaftsräume wurde umfangreiches Beweismaterial beschlagnahmt, unter anderem Cannabisprodukte mit einem THC-Gehalt von insgesamt über 44 Gramm.
Im weiteren Verlauf des 14. September 2013 ordnete das Amtsgericht Rostock auf Antrag der Staatsanwaltschaft die nochmalige Durchsuchung des Wohnraums des Beschwerdeführers sowie der gemeinschaftlich genutzten Küche und des Bades an, da zu vermuten sei, dass unter Einsatz eines Drogenspürhundes weitere Betäubungsmittel aufgefunden werden könnten. Diese Erwartung bestätigte sich nicht.

II. Richtervorbehalt aus Art. 13 Abs. 2 GG und Gefahr im Verzug
Wohnungsdurchsuchungen bedürfen grundsätzlich der richterlichen Anordnung, Art. 13 Abs. 2 Hs. 1 GG. Die richterliche Durchsuchungsanordnung – und dies zeigen bereits Wortlaut und Systematik der Norm – bildet den Regelfall, mit der Folge, dass die nichtrichterliche die Ausnahme bleiben soll (vgl. BVerfGE 103, 142 (153)). Nur bei Gefahr im Verzug sollen andere staatliche Organe eine Anordnungsbefugnis haben. Ordnen die Strafverfolgungsbehörden eine Durchsuchung an, entfällt in erster Linie die präventive Kontrolle durch einen unabhängigen Richter. Es liegt auf der Hand, dass hiermit Gefahren für die effektive Durchsetzung des Grundrechtsschutzes einhergehen. Prüft der zuständige Richter erst nachträglich den mit der Durchsuchung einhergehenden Grundrechtseingriff, können die mit einer Durchsuchung verbundenen Folgen nicht mehr rückgängig gemacht werden. Verbindet man diese Erkenntnis mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis von Richtervorbehalt und Anordnung durch anderweitige Staatsorgane, muss schlussgefolgert werden, dass der Begriff „Gefahr im Verzug“ i.S.v. Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG restriktiv auszulegen ist. Die praktische Konsequent ist dann, dass Gefahr im Verzug nur anzunehmen ist, „wenn die richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme – regelmäßig die Sicherung von Beweismitteln – gefährdet würde“ (vgl. BVerfGE 51, 97 (111)).
Wann aber kann eine richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden? Schon nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG kann Gefahr im Verzug nicht lediglich damit, dass eine richterliche Entscheidung für gewöhnlich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. in einer gewissen Zeitspanne mangels Erreichbarkeit eines Richters zu erlangen sei, begründet werden (BVerfGE 103, 142 (155)). Ein solcher abstrakter Verweis genügt den strengen Anforderungen des Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG in keinem Fall. Das Verfassungsgericht stellt vielmehr auf den Einzelfall ab: „Gefahr im Verzug liegt in einem solchen Fall nur vor, wenn ein richterlicher Bereitschaftsdienst zu dieser Zeit im Einklang mit Art. 13 Abs. 2 GG nicht eingerichtet wurde und ein Zuwarten bis zur Erreichbarkeit eines Richters nicht möglich ist.“  
III. Konkretisierung dieser Vorgaben für Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes
Aus dem engen Verständnis der Dispensvorschrift ergeben sich unmittelbare Folgen für die Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes: Praktische Wirksamkeit entfaltet der grundrechtssichernde Richtervorbehalt nur, wenn den Gerichten die (verfassungsrechtliche) Pflicht auferlegt wird, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters – sofern notwendig – durch die Einrichtung eines Eil- oder Notdienstes zu sichern. Die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters muss deshalb auch außerhalb der üblichen Dienststunden möglich sein. Problematisch sind insoweit regelmäßig nächtliche Durchsuchungsanordnungen. Hier stellt des BVerfG nun fest:
„Weil nach den heutigen Lebensgewohnheiten zumindest die Zeit zwischen 21 Uhr und 6 Uhr ganzjährig als Nachtzeit anzusehen ist, ist es von Verfassungs wegen geboten, dass sich der Schutz vor nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen auch in den Monaten April bis September auf die Zeit von 4 Uhr bis 6 Uhr morgens erstreckt. Dies folgt unmittelbar aus Art. 13 Abs. 1 GG. Dabei kann das Regelungskonzept aus § 104 Abs. 1 und Abs. 2 StPO übertragen werden, so dass Wohnungsdurchsuchungen zur Verfolgung auf frischer Tat, bei Gefahr im Verzug oder zur Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen zulässig bleiben und sich die Durchsuchungsbeschränkungen nicht auf die in § 104 Abs. 2 StPO genannten Räume erstrecken.“
Da in der Nachtzeit allerdings regelmäßig von einem geringeren Bedarf an Anordnungen ausgegangen werden kann, ist ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst nur unter bestimmten Voraussetzungen geboten. Das Verfassungsgericht entschied, dass Notwendigkeit hierfür nur soweit besteht, wie ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen besteht. Bleibt es beim jeweils zuständigen Gericht jedoch bei Ausnahmefällen, kann entsprechend dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG auch ohne einen richterlichen Notdienst vorgegangen werden.  
IV. Beurteilungs- und Prognosespielraum der Gerichtspräsidien
Da sich ein abstrakter Verweis auf Zeitpunkte oder Zeiten, in denen eine Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters üblicherweise nicht in Betracht kommt, nicht ausreicht, muss auf das einzelne Gericht abgestellt werden. Maßgeblich ist danach die Frequenz, in der außerhalb der üblichen Zeiten Anordnungen ergehen müssen bzw. Notwendigkeit hierfür besteht. Wann ein erhöhter Bedarf besteht – so nun ausdrücklich das BVerfG – hat das Gerichtspräsidium nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung zu entscheiden. Wie der Bedarf ermittelt wird, können die Präsidien dabei im Rahmen eines Beurteilungs- und Prognosespielraums selbst entscheiden. Hier ist Vorsicht geboten: Das BVerfG spricht den Gerichten keinen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Entscheidung über das „Ob“ der Bedarfsermittlung zu, vielmehr beschränkt sich der Spielraum auf das „Wie“.
Die spezifischen Verhältnisse im jeweiligen Gerichtsbezirk können nach Auffassung des Verfassungsgerichts auf unterschiedliche Art und Weise ermittelt werden. Eine Bedarfsprognose kann dabei etwa durch statistische Erhebungen substantiiert werden. Auch Erfahrungswerte können herangezogen werden, diese müssen allerdings plausibilisiert werden. Zu denken ist etwa an Erfahrungswerte, nach denen in Großstädten bzw. Ballungsgebieten zur Abend- und Nachtzeit regelmäßig mehr eilbedürftige Anträge gestellt werden müssen als in kleineren Ortschaften. Auch die Grenznähe zu anderen Gerichtsbezirken sowie zeitlich begrenzter Mehrbedarf aufgrund von Großveranstaltungen o.ä. können Gesichtspunkte sein, die das Präsidium im Rahmen seiner Prognoseentscheidung miteinbezieht. Entscheidend bleibt jeweils der Bezug zu den individuellen Verhältnissen im zuständigen Gerichtsbezirk.
V. Was man für die Klausur behalten muss
Zwecks effektiver Durchsetzung des grundrechtlichen Schutzes aus Art. 13 GG muss der Richtervorbehalt streng verstanden werden. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis in Art. 13 Abs. 2 GG gebietet es, hohe Anforderungen an den Begriff der Gefahr im Verzug zu legen. Praktische Wirksamkeit erlangt der Richtervorbehalt jedoch bei erhöhtem Anordnungsbedarf zu Abend- und Nachtzeiten nur, wenn ein richterlicher Eil- bzw. Notdienst vom Gerichtspräsidium eingerichtet wird – aber eben auch nur, sofern der Bedarf über einzelne Ausnahmefälle hinausgeht. Bei der Ermittlung des Bedarfs steht den Präsidien jeweils ein eigener Beurteilungs- und Prognosespielraum zu. Maßgebend sind jeweils die Umstände im jeweiligen Gerichtsbezirk, die sowohl durch Statistiken als auch plausibel begründete allgemeine Erfahrungssätze festgestellt werden können. Summa summarum entwickelt die Entscheidung des BVerfG das zum Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG bereits Bekannte konsequent fort und gibt dabei Aufschluss zur Konkretisierung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses sowie zur praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehalts. Der Beschluss ist ein Muss für jeden Examenskandidaten!
 
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08.04.2019/1 Kommentar/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2019-04-08 09:30:102019-04-08 09:30:10Neue Entscheidung des BVerfG: Richtervorbehalt aus Art. 13 GG kann nächtlichen Bereitschaftsdienst erforderlich machen
Dr. Christoph Werkmeister

Bundeswehr greift in Cyberkrieg ein – die Schutzbereiche bei computerspezifischen Grundrechtseingriffen

Fallbearbeitung und Methodik, Schon gelesen?, Tagesgeschehen, Verfassungsrecht

Nach jahrelanger Vorbereitung schuf die Bundeswehr kürzlich eine Abteilung, die zu Angriffen auf fremde Computernetzwerke fähig sein soll (s. dazu hier). Eine Vielzahl an Informatikexperten aus deutschen Universitäten stellten das „Cyber-Heer“ zur Verfügung. Der rechtliche Rahmen derartiger Hack-Attacken ist allerdings noch nicht geklärt.
Das Thema ist nicht nur von politischer Brisanz, sondern auch im höchsten Grade examensrelevant. Computerbezogene Grundrechtseingriffe eignen sich nämlich hervorragend um die Grundrechtssystematik abzuprüfen. Im Zuge der stetig voranschreitenden technischen Entwicklungen muss die Staatsgewalt stets berücksichtigen, welche Grundrechtspositionen bei internetbezogenen Eingriffen überhaupt tangiert sein können. Eine saubere Trennung der einzelnen Schutzbereiche ist nicht nur für den Rechtsanwender, sondern auch für Examenskandidaten in Klausuren von hoher Relevanz, da die infrage kommenden Grundrechte mitunter sehr unterschiedliche Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen auf Ebene der Schranken stellen. So bedürfen etwa „Durchsuchungen“ i. S. d. Art. 13 II GG eines Richtervorbehalts, wohingegen Eingriffe in die Berufsfreiheit nach Art. 12 I GG bereits durch ein einfaches Gesetz gerechtfertigt sein können. Die im Folgenden aufgezeigten Aspekte stellen solche dar, wie sie wohl am häufigsten in Klausuren und mündliche Prüfungen Einzug erhalten. Gleichwohl sei dem Examenskandidat gerade im Kontext computerspezifischer Fallgestaltungen geraten eine genaue Würdigung des konkreten Einzelfalls vorzunehmen. Mit den stetig voranschreitenden technischen Entwicklungen und der technikneutralen Grundrechtsdogmatik geht nämlich einher, dass es keinen numerus clausus an computerspezifischen Eingriffen geben kann.
1. Schutz der räumlichen Privatsphäre durch Art. 13 I GG
Schutzgut des Art. 13 I GG ist die räumliche Privatsphäre. Unter einer Wohnung versteht man jeden Raum, den der Einzelne der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zum Ort seines Lebens und Wirkens bestimmt. Hierzu werden nach h.M. auch Betriebs- und Geschäftsräume gezählt.[1] Sofern ein Computer in einer Wohnung lokalisiert ist, könnte bei einem Hackerangriff durch den Staat der Schutzbereich von Art. 13 I GG tangiert sein. Die staatliche Maßnahme spielt sich allerdings auf virtueller Ebene ab. Sofern kein Beamter die Wohnung betritt, etwa um Schadsoftware einzuspielen, ist die räumliche Privatsphäre der Wohnung also nur durch Bits und Bytes, nicht aber durch ein physisches Eindringen betroffen.
Beim Schutzbereich des Art. 13 I GG ist indes zu beachten, dass er sich nicht in der Abwehr eines körperlichen Eindringens in die Wohnung erschöpft, sondern etwa auch bei einer akustischen oder optischen Wohnraumüberwachung[2] berührt wird.[3] Umfasst ist deshalb ebenso die Infiltration eines informationstechnischen Systems, also etwa eines Computers, der sich in einer Wohnung befindet, um mit dessen Hilfe bestimmte Vorgänge innerhalb der Wohnung zu überwachen. Der Schutz des Art. 13 I GG greift insbesondere dann, wenn die an das System angeschlossenen Peripheriegeräte, wie ein Mikrofon oder eine Kamera, angezapft werden, um den Nutzer zu überwachen.[4] Wenn ein in der Wohnung befindlicher Computer mittels eines Trojaners infiltriert wird, ist die Privatheit in der räumlich abgeschotteten Wohnung somit zumindest dann tangiert, wenn die Geräte quasi als getarnte Überwachungskamera oder Abhörvorrichtung genutzt werden. Aus diesem Grund ist der Schutzbereich des Art. 13 I GG in solch einem Fall eröffnet. Mit dieser Sachverhaltskonstellation vergleichbar ist etwa das Beobachten einer Wohnung mittels Wärmebildkameras. Auch in einem solchen Fall wird nicht physisch eingegriffen. Gleichwohl ist die Privatheit in einem erheblichen Maße betroffen, da der Beobachter in diesem Fall ähnliche Einblicke hat, wie jemand, der die Wohnung tatsächlich physisch betritt.
Zu beachten ist an dieser Stelle zudem, dass die vorgenannten Ausführungen nicht bloß auf Computer in Form von stationären Endgeräten beschränkt sind. Informationstechnische Systeme und entsprechende Peripheriegeräte befinden sich gleichermaßen auf Laptops, Tablets und v.a. auch moderneren Smartphones. Werden solche Geräte gehackt um Vorgänge in der Wohnung auszuspähen, wäre ebenso der Schutzbereich des Art. 13 I GG tangiert.
2. Schutz des Post-, Brief und Fernmeldegeheimnisses, Art. 10 I GG
Für den Schutz der Privatsphäre des Bürgers ist neben Art. 13 I GG vor allem auch Art. 10 I GG relevant, der das Brief- und Postgeheimnis sowie das Fernmeldegeheimnis regelt. Damit gewährleistet Art. 10 GG allgemein die Vertraulichkeit des durch Kommunikationsmittel ermöglichten Informationsaustauschs über gewisse Entfernungen. Der geschützte Kommunikationsvorgang soll gegen unbefugte Kenntniserlangung „durch Dritte“ abgeschirmt werden.[5] Der Schutzbereich des Art. 10 GG wird dabei dynamisch interpretiert, er ist also offen für technische Entwicklungen.[6]
Das Fernmeldegeheimnis ist von den drei Einzelgrundrechten des Art. 10 I GG für den Bereich des Internets am wichtigsten. Es schützt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe der Telekommunikationstechnik. Die Beteiligten sollen dabei möglichst so gestellt werden, wie sie bei einer Kommunikation unter Anwesenden stünden.[7] Der Schutzbereich ist somit immer dann eröffnet, wenn ein dem Telefonieren vergleichbarer Vorgang überwacht wird. Sofern etwa ein Gespräch, das über Skype oder Google-Talk geführt wird, abgehört wird, liegt es nahe, dass auch der Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 I GG betroffen sein könnte.[8] Sofern eine Behörde ein Chatgespräch mitliest oder ein Skypetelefonat abhört, gestaltet es sich für den Betroffenen deshalb faktisch genauso, als würde die Behörde ein „klassisches“ Telefongespräch überwachen.
Einen Grenzfall stellt in diesem Zusammenhang das Überwachen des E-Mail-Verkehrs dar. Hier gilt es nach der Rechtsprechung des BVerfG zu unterscheiden:[9] Werden E-Mails gelesen, die auf einer Festplatte als Datei – beispielsweise bei einer Nutzung der E-Mail-Software Microsoft Outlook – gespeichert sind, ist Art. 10 I GG nicht einschlägig, denn der Kommunikationsvorgang ist bereits beendet. Sofern sich die E-Mail aber noch auf dem Mailserver befindet und noch nicht auf dem lokalen Datenträger gespeichert ist, wird das „Abfangen“ der Mail hingegen noch vom Telekommunikationsgeheimnis erfasst.[10] Die auf dem Mailserver des Providers vorhandenen E-Mails sind noch nicht in den Herrschaftsbereich des Empfängers gelangt, sodass die spezifischen Gefährdungen, vor denen Art. 10 I GG schützen will, noch weiterhin bestehen.
3. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I i. V. mit 1 I GG
Sofern ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 13 I GG oder von Art. 10 I GG nicht in Betracht kommt, etwa wenn sich der Staat in cloudbasierte Internetspeicher wie Dropbox oder Google-Drive einhackt, kann zumindest das subsidiär anwendbare allgemeine Persönlichkeitsrecht (APR) relevant werden. Dieses leitet sich aus Art. 2 I i.V. mit 1 I GG ab. Das ursprünglich durch die zivilrechtliche Rechtsprechung entwickelte APR[11] ist mittlerweile auch im Verfassungsrecht als Grundrecht anerkannt und dient zur Abwehr von diversen Formen der Beeinträchtigung der Privatsphäre oder bestimmter Persönlichkeitsrechte, die sich nicht einem anderen spezifischen Freiheitsrecht zuordnen lassen.[12] Eine abschließende Definition des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gibt es daher nicht.[13] Es ergänzt „als ‚unbenanntes‘ Freiheitsrecht die speziellen (‚benannten‘) Freiheitsrechte“ und schützt allgemein die „engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen […], die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen.“[14] Ebenso wie Art. 10 I GG (s.o.), wird das APR dynamisch interpretiert, sodass das GG offen für neue Gefährdungen und technische Innovationen ist.[15]
Statt einer abschließenden Definition haben sich in Rechtsprechung und Literatur anerkannte Fallgruppen bzw. Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts herausgebildet. Eine für die hiesige Problematik sehr wichtige Ausprägung des APR ist das sog. Recht auf informationelle Selbstbestimmung, welches dem Einzelnen die Befugnis verleiht, grundsätzlich über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu verfügen.[16] Jeder Bürger darf also prinzipiell selber darüber bestimmen, „wer was wann und bei welcher Gelegenheit“[17] über ihn weiß. Der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist insbesondere ab dann beeinträchtigt, sobald Ermittlungsbehörden Daten erheben, wenn sie also ungefragt auf bestimmte Dateien des Nutzers zugreifen.
4. Computergrundrecht
Nicht geschützt ist jedoch die Integrität des informationstechnischen Systems als solches. Die bloße Infiltration, bei der noch keine konkreten Daten erhoben werden, berührt noch nicht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.[18] Da durch Art. 10, 13 GG und die bisherigen Ausprägungen des APR somit kein allumfassender Schutz im Hinblick auf die Nutzung informationstechnischer Systeme gewährleistet ist, musste im Hinblick auf den technischen Fortschritt und die damit einhergehenden Gefahren eine weitere Ausprägung des APR geschaffen werden. Als zusätzlicher Unterfall von Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG besteht aus diesem Grund das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (kurz: „Computergrundrecht“).[19] Es bewahrt den persönlichen und privaten Lebensbereich der Grundrechtsträger vor staatlichem Zugriff im Bereich der Informationstechnik auch insoweit, als auf das informationstechnische System insgesamt zugegriffen wird und nicht nur auf einzelne Kommunikationsvorgänge oder gespeicherte Daten.[20] Geschützt sind aber nur solche Systeme, die personenbezogene Daten in einem gewissen Umfang enthalten, so dass ein Zugriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten.[21] Außerdem muss der Betroffene das fragliche System „als eigenes“ nutzen. Es kommt also nicht darauf an, wer Eigentümer des Geräts ist, sondern es ist vielmehr danach zu fragen, wer über das informationstechnische System selbstbestimmt verfügt.[22]
Sofern im Rahmen einer Klausur Zugriffe auf informationstechnische Systeme zu diskutieren sind, ist es im Hinblick auf den Aufbau wichtig, zunächst die Schutzbereiche der vorgenannten Grundrechte zu diskutieren um anschließend die jeweils bestehenden Lücken im Bereich von computerbezogenen Eingriffen aufzeigen zu können, die dann durch das subsidiär greifende Computergrundrecht geschlossen werden.
5. Berufs-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit
Die vorgenannten Aspekte stellen den Grundstock für jedwede Argumentation im Kontext computerbasierter Grundrechtseingriffe dar. Je nach Ausgestaltung des Sachverhalts können jedoch noch weitere Grundrechte Gegenstand der Diskussion sein. Sofern Ermittlungsbehörden etwa Daten ausspähen, die berufsbezogene Informationen enthalten, ist fraglich, ob hierdurch neben den zuvor diskutierten Grundrechten auch ein Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) gegeben sein kann. Im Rahmen einer solchen Diskussion muss bei der Frage, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 12 I GG vorliegt, jedoch beachtet werden, dass nicht jede Maßnahme, die die Berufstätigkeit faktisch oder mittelbar betrifft, einen Grundrechtseingriff in Art. 12 I GG darstellt. Regelungen, die keine „objektiv berufsregelnde Tendenz“ haben, greifen nämlich nicht in die Berufsfreiheit ein.[23] Um einen Eingriff in Art. 12 I GG zu bejahen, muss der Datenüberwachungsvorgang deshalb Tätigkeiten betreffen, die typischerweise beruflich ausgeübt werden und es muss eine nennenswerte Behinderung der beruflichen Tätigkeit eintreten. Eine solche Fallgestaltung wäre in Bezug auf Online-Durchsuchungen etwa bei Fällen von Industriespionage denkbar.
Ähnliche Überlegungen können bei einem Forschungsbezug der überwachten Daten angestellt werden. In solch einem Fall müsste diskutiert werden, ob über die computerspezifischen Grundrechte hinaus auch noch die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 III S. 1 GG tangiert sein könnte. Der Begriff der Wissenschaft wird definiert als jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist.[24] Auch Bezüge zur Religionsfreiheit nach Art. 4 GG sind in diesem Kontext denkbar. Damit ein Grundrechtseingriff bejaht werden kann, muss allerdings neben der Berührung religionsspezifischer Inhalte darüber hinaus eine tatsächliche Beeinträchtigung der Glaubensbetätigung vorgebracht werden.[25] Es bleibt demnach bei derartigen Konstellationen primär bei einem Schutz über die jeweils einschlägigen Ausprägungen des APR, Art. 10 I GG und Art. 13 I GG. Die Berufs-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit stellen daher regelmäßig nicht den Schwerpunkt der Diskussion dar.

_________________________________________________

[1] BVerfGE 32, 54; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 13 Rdnr. 10.

[2] Vgl. Art. 13 III bis V GG.

[3] So das BVerfG in der Entscheidung zum großen Lauschangriff: BVerfGE 109, 279.

[4] BVerfGE 120, 274 (310).

[5] S. nur BVerfGE 115, 166 (182); 106, 28 (37).

[6] S. nur BVerfGE 124, 43 (54); 115, 166 (182): „Das Grundrecht ist entwicklungsoffen und umfasst nicht nur die bei Entstehung des Gesetzes bekannten Arten der Nachrichtenübertragung, sondern auch neuartige Übertragungstechniken. […] Auf die konkrete Übermittlungsart (Kabel oder Funk, analoge oder digitale Vermittlung) und Ausdrucksform (Sprache, Bilder, Töne, Zeichen oder sonstige Daten) kommt es nicht an.“ Vgl. instruktiv auch Durner, in: Maunz/Dürig, Art. 10 Rdnr. 47.

[7] Vgl. etwa BVerfGE 100, 313 (363).

[8] Zu den technischen Besonderheiten einer Skype-Überwachung s. Stadler, MMR 2012, 18 (20).

[9] S. dazu BVerfGE 124, 43.

[10] BVerfGE 124, 43 (54 f.).

[11] Grundlegend BGHZ 13, 334; 24, 72; 26, 349.

[12] Grundlegend BVerfGE 34, 269; ferner BVerfGE 54, 148; vgl. auch bereits BVerfGE 6, 32 (41), in der jedoch noch nicht ausdrücklich von einem „allgemeinen Persönlichkeitsrecht“ die Rede ist; s. ausführlich zur Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und seinen zahlreichen Unterfällen Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Rn. 127 ff; Brandner, JZ 1983, 689; Seifert, NJW 1999, 1889.

[13] So auch Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Rdnr. 147.
[14] BVerfGE 54, 148 (153).
[15] S. bereits BVerfGE 54, 148 (153).
[16] BVerfGE 65, 1 (43).
[17] BVerfGE 65, 1 (43).
[18] Vgl. BVerfGE 120, 274 (311 ff).

[19] S. allgemein zum Recht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme Wegener/Muth, Jura 2010, 847; Kutscha, NJW 2008, 1042; Britz, DÖV 2008, 411; Hoeren, MMR 2008, 365; Schnabel/Roßnagel, NJW 2008, 3534; Luch, MMR 2011, 75; s. ausführlich Drallé, Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, Diss. 2010.

[20] BVerfGE 120, 274 (316).

[21] BVerfGE 120, 274 (314).
[22] BVerfGE 120, 274 (315); Hornung, CR 2008, 299, 303; Wedde, AuR 2009, 373; Stögmüller, CR 2008, 435, 436; Roßnagel/Schnabel, NJW 2008, 3534, 3538.

[23] BVerfGE 13, 181 (186).

[24] BVerfGE 35, 79.

[25] Der Schutzbereich des Art. 4 GG erfasst zum einen das sog. forum internum, also die Freiheit, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zu bilden und zu haben, sowie gleichermaßen das sog. forum externum, also die Freiheit aus religiöser Überzeugung zu handeln, vgl. etwa BVerfGE 108, 282 (296).

05.06.2012/3 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
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