Das Bundesverfassungsgericht hat am 27.4.2019 (Az. 1 BvQ 36/19) einen Antrag der NPD auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Partei hatte unter Berufung auf ihre Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG begehrt, das ZDF zur Ausstrahlung ihres für die Europawahl entworfenen Wahlwerbespots zu verpflichten. Die Entscheidung des Gerichts ist dabei gleich unter mehreren Gesichtspunkten von hoher Examensrelevanz: Wegen ihrer enormen Aktualität bietet sie sich hervorragend als Anknüpfungspunkt verfassungsrechtlicher Fragen in einer mündlichen Prüfung an, zudem gibt sie zugleich Gelegenheit sich noch einmal umfassend mit den Voraussetzungen der – in der Examensvorbereitung häufig zu Unrecht vernachlässigten – einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG und der in Prüfungen beliebten Meinungsfreiheit auseinanderzusetzen.
I. Sachverhalt
Die NPD hatte bei der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt ZDF einen Wahlwerbespot für die Europawahl eingereicht, deren Ausstrahlung das ZDF jedoch ablehnte. Der Werbespot zeigt dabei zu Beginn einen dunklen Hintergrund, auf dem Blutspritzer herunterlaufen. Zu hören ist das Laden einer Waffe und schließlich ein Schuss. Im Anschluss werden in zunehmender Geschwindigkeit Tatorte und Namen von Opfern von Gewalt- und Tötungsdelikten eingeblendet. Diese Darstellung ist mit dem gesprochenen Text hinterlegt: „Seit der willkürlichen Grenzöffnung 2015 und der seither unkontrollierten Massenzuwanderung werden Deutsche fast täglich zu Opfern ausländischer Messermänner. Migration tötet!“. Die Aussage „Migration tötet!“ wird nachfolgend in großer roter Schrift eingeblendet, gefolgt von dem gesprochenen Text „Jetzt gilt es zu handeln, um Schutzzonen für unsere Sicherheit zu schaffen“. Im Anschluss wird durch den Parteivorsitzenden der NPD mitgeteilt, dass die Sicherheit in Deutschland in Gefahr sei. Um dem entgegenzuwirken wolle man Schutzzonen, d.h. Orte, an denen Deutsche sich sicher fühlen, schaffen. Dies wird bebildert mit Menschen, die auf Straßen patrouillieren und rote Schutzwesten tragen, auf denen ein „Z“ und der Schriftzug „Wir schaffen Schutzzonen“ zu sehen sind. Gegen die Ablehnung der Ausstrahlung dieses Werbespots durch das ZDF stellte die NPD einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO) vor dem Verwaltungsgericht. Der Antrag wurde indes sowohl durch das Verwaltungsgericht, als auch durch das Oberverwaltungsgericht abgelehnt, da durch den Wahlwerbespot der Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB) erfüllt werde. Daraufhin stellte die NPD beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG, der darauf gerichtet war, das ZDF zur Ausstrahlung des Wahlwerbespots zu verpflichten.
II. Entscheidung des Gerichts
Das Bundesverfassungsgericht trifft eine vorläufige Regelung eines Zustandes im Wege der einstweiligen Anordnung „wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist“ (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Maßgebliches Kriterium sind insofern die Erfolgsaussichten des Rechtsstreits in der Hauptsache, d.h. einer durch den Antragsteller erhobenen Verfassungsbeschwerde (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814). Dabei beschränkt sich die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG darauf, ob eine solche Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (BVerfG v. 23.6.2004 – 1 BvQ 19/04, NJW 2004, 2814).
1. Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG
Erfolg hat eine in der Hauptsache erhobene Verfassungsbeschwerde indes nur, soweit sie zulässig und begründet ist. Anhaltspunkte für eine von vornherein bestehende Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde sah das Bundesverfassungsgericht nicht gegeben, sodass es sich mit der Frage einer offensichtlichen Unbegründetheit beschäftigte. In Betracht kam dabei eine Verletzung der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG durch die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts, die den Antrag der NPD auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO abgelehnt hatten. Eine Verletzung der Meinungsfreiheit könnte sich daraus ergeben, dass die Verwaltungsgerichte der in diesem Rahmen zu beachtenden Wechselwirkungslehre nicht ausreichend Rechnung getragen haben. Diese beeinflusst neben der Auslegung und Anwendung des meinungsbeschränkenden Gesetzes (§ 130 Abs. 1 Nr. 2) in einem vorgelagerten Schritt – auch die Erfassung und Würdigung der Äußerung selbst, denn bereits auf der Deutungsebene fallen Vorentscheidungen hinsichtlich der Zulässigkeit von Äußerungen (BVerfG v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/19 u.a., NJW 1995, 3303, 3305). Ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG liegt demnach nicht nur dann vor, wenn das einschränkende Gesetz nicht im Sinne dieser Vorschrift ausgelegt und angewendet wurde, sondern auch dann, wenn bereits bei der Auslegung der Äußerung selbst die Bedeutung der Meinungsfreiheit nicht hinreichend beachtet worden ist. Letzteres ist der Fall, wenn die Äußerung den Sinn, den das Gericht ihr entnommen und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die für den Beschwerdeführer ungünstigste Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind (BVerfG v. 10.10.1995 – 1 BvR 1476/19 u.a., NJW 1995, 3303, 3305).
2. Die Erwägungen des Gerichts im Einzelnen
Eine Verletzung der Meinungsfreiheit sah das Bundesverfassungsgericht indes als offensichtlich ausgeschlossen an. Dies ergebe sich daraus, dass die Verwaltungsgerichte die Wertungen des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG bei ihren Entscheidungen ausreichend berücksichtigt haben, indem sie die Aussage des Wahlwerbespots im Lichte der Meinungsfreiheit ausgelegt und diese vor diesem Hintergrund zutreffend als den Tatbestand der Volksverhetzung gem. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllende Äußerung eingeordnet haben. Wörtlich führt das BVerfG aus:
„Es ist nicht erkennbar, dass die Verwaltungsgerichte in ihren Entscheidungen den Schutzgehalt der Meinungsfreiheit der Antragstellerin aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verkannt hätten. Vielmehr haben sie sich mit dem Aussagegehalt des Wahlwerbespots unter Berücksichtigung der hierfür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen ausreichend befasst und den Sinn der darin getätigten Äußerungen nachvollziehbar dahingehend eingeordnet, dass er den Tatbestand einer Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt. Das Oberverwaltungsgericht hat sich auch mit den anderen, von der Antragstellerin vorgebrachten Deutungsmöglichkeiten auseinandergesetzt und diese mit nachvollziehbarer Begründung als fernliegend ausgeschlossen. Diese Beurteilung hält sich auch unter Berücksichtigung der insoweit geltenden strengen Anforderungen im fachgerichtlichen Wertungsrahmen.“
So hatte insbesondere das Oberverwaltungsgericht (Beschl. v. 26.4.2019, Az. 2 B 10639/19) sich eingehend mit möglichen Deutungen des Wahlwerbespots beschäftigt. Dabei erwog das Gericht, dass die Botschaft des Wahlwerbespots sich aufgrund der Einblendung einzelner Opfernamen und Tatorte allein auf die jeweiligen Täter des Einzelfalls beschränken und gerade keine pauschale Aussage über alle in Deutschland lebenden Ausländer treffen könnte. Indes lehnte es ein solches Verständnis in Anbetracht der Art der Darstellung ab: Durch die zunehmende Geschwindigkeit der Einblendungen werde der Eindruck vermittelt, dass die Begehung von Gewalt- und Tötungsdelikten durch Ausländer sich gerade nicht auf Einzelfälle beschränke, sondern vielmehr signifikant zugenommen habe. Dieser Eindruck werde zudem durch die an die Einblendung angeschlossene Aussage „Migration tötet!“ untermauert. Diese werde durch einen unvoreingenommenen, verständigen Dritten durch den Zusammenhang mit dem Begriff „Messermänner“ regelmäßig als „Migranten töten“ verstanden. Gerade durch die Zusammenschau von Text, Bilddarstellungen und den dramaturgischen Aufbau werden sämtliche Ausländer als Straftäter und Gefährdung für die Sicherheit der deutschen Bevölkerung dargestellt. Auch die Aussage, dass es der Einrichtung von Schutzzonen für Deutsche bedürfe, damit diese sich wieder sicher fühlen können, stehe einer Deutung dahingehend, dass allein auf einzelne Gewalt- und Tötungsdelikte durch Migranten verwiesen und diese nicht pauschal als Straftäter dargestellt werden sollen, entgegen. So stellte das OVG ausdrücklich fest:
„Durch diese Aussagen wird auch i.S. des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB die Menschenwürde der betroffenen Ausländer angegriffen, indem ihnen derart als Bevölkerungsgruppe pauschal sozial unerträgliche Verhaltensweisen und Eigenschaften zugeschrieben werden.“
Vor dem Hintergrund dieser detaillierten Auseinandersetzung des Oberverwaltungsgerichts mit dem Inhalt des Wahlwerbespots und der begründeten Ablehnung anderer Deutungsmöglichkeiten sah das Bundesverfassungsgericht die sich aus der Wechselwirkungslehre ergebenden Anforderungen als gewahrt und damit eine Verletzung der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 BVerfG als offensichtlich ausgeschlossen an. Eine in der Hauptsache erhobene Verfassungsbeschwerde bliebe damit ohne Erfolg, sodass das Bundesverfassungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG ablehnte.
III. Ausblick
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt nicht nur Anlass sich mit den Voraussetzungen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG auseinander zu setzen, sondern dient auch der Konkretisierung der Anforderungen der Wechselwirkungslehre im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Besonders herausgestellt wird dabei das Erfordernis der Auslegung bereits der in Rede stehenden Äußerung im Lichte der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1. Die Entscheidung enthält indes über § 32 BVerfGG und Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG hinaus zahlreiche weitere Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Examensprüfung: So stellt sie mit Blick auf die vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen einen Bezug zum vorläufigen Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren und insbesondere den Voraussetzungen des § 123 VwGO her. Zugleich kann die Entscheidung zum Anlass genommen werden, den Anspruch politischer Parteien auf Ausstrahlung eines Wahlwerbespots (§ 5 Abs. 1 PartG i.V.m. Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG) zum Gegenstand einer Prüfung zu machen. Sowohl die Meinungsfreiheit, aber auf der vorläufige Rechtsschutz gem. § 123 VwGO und die Gleichbehandlung politischer Parteien sind Prüfungsklassiker und werden nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sicherlich erneut Eingang in künftige Examensprüfungen finden.
Hinweis: Die NPD hatte zu einem späteren Zeitpunkt einen veränderten Wahlwerbespot beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) eingereicht. Dieser hatte auch die Ausstrahlung dieses veränderten Werbespots abgelehnt, da auch er den Tatbestand der Volksverhetzung erfülle. Diese Auffassung bestätigten sowohl das Verwaltungsgericht Berlin als auch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mit dem Argument, dass der Wahlwerbespot jedenfalls vor dem Hintergrund des politischen Konzepts der NPD nicht anders verstanden werden könne. Die NPD stellte daraufhin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Bundesverfassungsgericht, das diesem stattgab (Beschl. v. 15.5.2019 , Az. 1 BvQ 43/19), da ein volksverhetzender Inhalt sich jedenfalls nicht unmittelbar aus dem Wahlwerbespot ergebe. Auch könne das politische Konzept der NPD oder ihr Wahlprogramm nicht zur Auslegung des Wahlwerbespots herangezogen werden, maßgeblich für dessen rechtliche Berurteilung sei vielmehr allein der Werbespot selbst (s. Pressemitteilung Nr. 36/2019 des Bundesverfassungsgerichts vom 15.5.2019).