Wir freuen uns, einen weiteren Gastbeitrag von Patrick Otto veröffetlichen zu können. Studium in Hannover. Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht (Prof. Dr. Volker Epping) sowie am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft (Prof. Dr. Veith Mehde).
Die Wahlbeteiligung stagniert und geht in vielen Teilen stark zurück. Ein jüngeres Negativbeispiel ist die Landtagwahl in Bremen (50,2 % Wahlbeteiligung). Allerdings war auch die letzte Bundestagswahl im Jahr 2013 von keiner hohen Wahlbeteiligung gesegnet (71,5 %). Die Wahlbeteiligung lag damit auf dem zweitniedrigsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik. Noch vor 50 Jahren gingen hingegen ca. 87,7 % aller Wahlberechtigten für die Bundestagswahl an die Wahlurne. Doch welche Möglichkeiten bestehen, diesen Abwärtstrend zu stoppen? Eine inzwischen immer stärker in der Diskussion befindliche Alternative ist die Einführung einer Wahlpflicht. Neben der Diskussion, ob dies als ein Demokratieplus oder ein Demokratieminus anzusehen ist, stellt sich auch die Frage, ob eine Wahlpflicht überhaupt mit der Verfassung im Einklang steht. Dieser Beitrag geht dieser Frage kritisch nach und gibt zuletzt auch eine rechtspolitische Stellungnahme ab.
I. Einleitende Worte
„Führen wir die Wahlpflicht ein!“ – mit diesen Worten von SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi wurde die Debatte um die Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht wieder neu entfacht (vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/yasmin-fahimi-und-ihre-wahlwochen-fuehren-wir-die-wahlpflicht-ein/11163442.html). Gleichwohl ist dies keine neue Erscheinung, denn sie tritt in unregelmäßigen Abständen immer wieder zutage – vor allem wenn sich niedrige Wahlbeteiligungen häufen. Gerade ein Blick über die Ländergrenzen hinaus zeigt, dass die Wahlpflicht bereits in den Verfassungsordnungen anderer Staaten Eingang gefunden hat, insgesamt 19 auf der Welt und immerhin 4 in Europa (Belgien, Griechenland, Italien und Österreich). Dort wird die Wahlpflicht auch nahezu unisono positiv bewertet und führt zu einer sehr hohen Wahlbeteiligung (vgl. https://www.heise.de/tp/artikel/39/39783/1.html). Mittlerweile ist dieser Trend daher auch in Deutschland angekommen, sodass sich die Stimmen mehren, die eine Wahlpflicht einführen wollen. Obgleich man dies in politischer Hinsicht als etwas „Undemokratisches“ oder „Unerwünschtes“ ansieht, stellt sich zunächst in verfassungsrechtlicher Hinsicht die Frage, ob eine Wahlpflicht zulässig ist oder ob sich dieses Thema, wie so viele hehre Ziele, zwar im politischen Diskurs durchzusetzen vermag, aber letztlich rechtlich gesehen gar nicht umsetzbar ist.
II. Einführung einer Wahlpflicht auf einfachgesetzlicher Basis
Die vermeintlich einfachste und gesetzgeberisch schonendste Lösung wäre die Einführung der Wahlpflicht auf einfachgesetzlicher Basis durch eine Anpassung des Bundeswahlgesetzes (BWahlG). Jede Änderung des einfachen Rechts muss sich wiederum an den Grundsätzen der Verfassung messen lassen. Klärungsbedürftig ist insbesondere, ob ein Verstoß gegen Art. 38 GG vorliegt, dort vor allem hinsichtlich des Grundsatzes der Freiheit der Wahl.
Die Wahl kann nur dann als frei angesehen werden, wenn sie ohne Zwang, Druck und alle die freie Willensentscheidung des Wählers ernstlich beeinträchtigenden Beeinflussungen von staatlicher und nichtstaatlicher Seite durchgeführt wird. Zum Kerngehalt der Freiheit der Wahl gehört in diesem Zusammenhang auch das Recht, nicht wählen zu gehen (sog. negative Wahlfreiheit). Daraus folgert die herrschende Meinung, dass eine Wahlpflicht auf einfachgesetzlicher Basis unzulässig ist, zumindest soweit die inhaltliche Wahlfreiheit eingeschränkt wird, also das „Wie“ der Wahl. Demgegenüber zulässig ist es, die Pflicht zu statuieren, überhaupt einen Wahlzettel abzugeben, wobei dieser auch leer oder ungültig ausgefüllt sein kann. Somit ist die Wahlpflicht nach h.M. unter engen Voraussetzungen möglich.
Die Gegenauffassung, nach der auch eine sehr extensive einfachgesetzliche Lösung nicht verfassungswidrig wäre, rekurriert auf das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 GG. Sie geht von der Grundannahme aus, dass Art. 38 Abs. 1 GG eine Konkretisierung des Demokratieprinzips ist und daher auch die Einschränkungen des Demokratieprinzips darauf Anwendung finden. Das Demokratieprinzip selbst werde nicht absolut gewährleistet, sondern relativiere sich im Lichte anderer Vorschriften des Grundgesetzes. Diese Grundannahme auf Art. 38 Abs. 1 GG anwendend, sei daher auch die Freiheit der Wahl kein absolutes Recht, sondern verfassungsrechtlichen Einschränkungen zugänglich. Die Einführung einer Wahlpflicht führe nach der Mindermeinung dazu, dass das demokratische Ziel der stärkeren parlamentarischen Legitimation gestärkt werde, wodurch eine Kompensation für die Einschränkung der Wahlrechtsfreiheit möglich sei. Vielmehr sei diese Ausprägung auch vorzugswürdig gegenüber einer Verfassungsänderung, die nach dieser Ansicht überhaupt nicht möglich sei. Daher sei die Frage der Wahlpflicht einzig an Art. 38 Abs. 1 GG zu messen, dem keine „demokratisch garantierte Wahlenthaltung“ zu entnehmen sei.
Letztlich kommen beide Auffassungen zum selben Ergebnis: Die einfachgesetzliche Wahlpflicht ist möglich. Der Unterschied liegt lediglich im Umfang der Wahlpflicht. Im Ergebnis ist indes die herrschende Meinung vorzugswürdig. Durch eine Wahlpflicht kann in jedem Fall kein Zwang auf den Bürger dahingehend ausgeübt werden, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Ihm darf nur aufgegeben werden, überhaupt einen Wahlzettel abzugeben. Dies stellt sich für ihn dann auch nicht als Belastung dar, da die Wahl nach wie vor geheim ist und der Bürger auch lediglich einem unausgefüllten Wahlzettel abgeben kann. Zutreffend ist jedoch der Einwand der Gegenansicht, dass eine Wahlpflicht für die demokratische Legitimation des Parlaments ein starkes „Mehr“ darstellt, welches insoweit vor dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 2 GG möglicherweise sogar geboten sein könnte. Daher ist eine Einführung der Wahlpflicht auf einfachgesetzlicher Ebene möglich, solange der Gesetzgeber keine inhaltlichen Entscheidungen trifft und ein Auszählen der Wahlzettel erst nach Ende der Wahl erfolgt.
III. Eigene rechtspolitische Stellungnahme
Nachdem nun geklärt ist, dass eine einfachgesetzliche Lösung möglich ist, ist noch eine rechtspolitische Bewertung vorzunehmen. Eine Wahlpflicht ist dabei m.E. sehr zu begrüßen. Zunächst einmal wirkt eine Wahlpflicht aus Sicht der Abgeordneten legitimationsfördernd, da nicht mehr nur eine knappe Mehrheit der Bevölkerung über die Zusammensetzung der Parlamente entscheidet. So könnte die Wahl auch endlich die tatsächliche Interessenverteilung des Volkes offenlegen, sodass die Politik nicht mehr sprichwörtlich „im Dunkeln herumstochern“ müsste. Zudem ist das Wahlrecht heutzutage ein derart hohes Gut, dass es auch als Bürgerpflicht angesehen werden darf, dieses auszuüben. Dem häufig angeführten Gegenargument, dass auch das Recht gewährleistet sein müsse, nicht wählen zu gehen, kann damit begegnet werden, dass es auch die Möglichkeit der Enthaltung bzw. der Abgabe eines ungültigen Stimmzettels gibt, sodass auch die Interessen der Nicht-Wähler berücksichtigt werden. Auch das zweite Gegenargument, dass die Wahlpflicht nur durch Zahlung einer Geldbuße bei Nichterscheinen effektiv durchgesetzt werden könne, vermag freilich nicht zu überzeugen. So zeigt sich etwa in Belgien, wo es keinerlei Sanktionen bei Nichterscheinen im Wahllokal gibt, dass trotzdem 87 % aller Wähler ihre Stimme abgeben.
IV. Resümee
Wie der Beitrag zeigt, kann die Wahlpflicht durch einfachgesetzliche Anpassung des BWahlG eingeführt werden. Dies wäre aus den genannten rechtspolitischen Argumenten auch als positiv zu bewerten und wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der demokratischen Legitimation zuträglich. Damit steht das Ergebnis der im Beitragstitel gestellten Frage fest: Die Wahlpflicht ist ein Heilmittel zur Steigerung der Wahlbeteiligung und keinesfalls verfassungswidriger Aktionismus. Ob es letztlich tatsächlich zur Einführung kommt, darf wiederum aufgrund des starken politischen Diskurses und der erheblichen Widerstände stark bezweifelt werden.
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