• Lerntipps
    • Examensvorbereitung
    • Fallbearbeitung und Methodik
    • Für die ersten Semester
    • Mündliche Prüfung
  • Examensreport
    • 2. Staatsexamen
    • Baden-Württemberg
    • Bayern
    • Berlin
    • Brandenburg
    • Bremen
    • Hamburg
    • Hessen
    • Lösungsskizzen
    • Mecklenburg-Vorpommern
    • Niedersachsen
    • Nordrhein-Westfalen
    • Rheinland-Pfalz
    • Saarland
    • Sachsen
    • Sachsen-Anhalt
    • Schleswig-Holstein
    • Thüringen
    • Zusammenfassung Examensreport
  • Interviewreihe
    • Alle Interviews
  • Rechtsgebiete
    • Strafrecht
      • Klassiker des BGHSt und RGSt
      • StPO
      • Strafrecht AT
      • Strafrecht BT
    • Zivilrecht
      • AGB-Recht
      • Arbeitsrecht
      • Arztrecht
      • Bereicherungsrecht
      • BGB AT
      • BGH-Klassiker
      • Deliktsrecht
      • Erbrecht
      • Familienrecht
      • Gesellschaftsrecht
      • Handelsrecht
      • Insolvenzrecht
      • IPR
      • Kaufrecht
      • Kreditsicherung
      • Mietrecht
      • Reiserecht
      • Sachenrecht
      • Schuldrecht
      • Verbraucherschutzrecht
      • Werkvertragsrecht
      • ZPO
    • Öffentliches Recht
      • BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker
      • Baurecht
      • Europarecht
      • Europarecht Klassiker
      • Kommunalrecht
      • Polizei- und Ordnungsrecht
      • Staatshaftung
      • Verfassungsrecht
      • Versammlungsrecht
      • Verwaltungsrecht
      • Völkerrrecht
  • Rechtsprechungsübersicht
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Karteikarten
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Suche
  • Menü Menü
Du bist hier: Startseite1 > Vorlagepflicht

Schlagwortarchiv für: Vorlagepflicht

Gastautor

Vorlagepflicht der nationalen Gerichte – Generalanwalt Bobek schlägt neue Perspektiven für Art. 267 Abs. 3 AEUV vor

Europarecht, Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns, folgenden Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
Über die Vorlagepflicht der nationalen Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV habe ich hier schon vor einigen Monaten berichtet anlässlich der Entscheidung des BVerfG (v. 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19, NJW 2021, 1005): Wann ein letztinstanzliches Gericht eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem EuGH vorlegen muss, ist eine Sache, eine andere aber, wann die Nichtvorlage trotz Vorlagepflicht ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist und vor dem BVerfG gerügt werden kann.
 
I. Nun gibt es neue Impulse vom EuGH. Generalanwalt Bobek setzt sich mit den bisherigen Maßstäben ausführlich auseinander und schlägt ein Umdenken der insb. im Urteil in der Rs. CIFLIT (v. 6.10.1982 – 283/81, EU:C:1982:335) niedergelegten Maßstäbe vor (Schlussanträge v. 14.4.2021 – C-561/19, EU:C:2021:291). Weniger, dafür bessere Vorlagen. Nehme man die bisherigen Maßstäbe ernst, dann droht die Überlastung der Gerichte. Er begründet seine Ansicht in seiner ihm sehr eigenen, sehr narrativen Weise, mit der er sich gerade auch an Studenten wendet:
 

„Anders als die nationalen letztinstanzlichen Gerichte werden Studierende des Europarechts für das Urteil CILFIT u. a. vermutlich immer eher Sympathie gehabt haben. Im Lauf der letzten ein oder zwei Jahrzehnte werden die Herzen vieler Europarechtsstudenten wahrscheinlich mit einem plötzlichen Anflug von Freude und Erleichterung geklopft haben, wenn sie „Urteil CILFIT“, „Ausnahmen von der Vorlagepflicht“ und „Diskussion“ auf ihrem Prüfungs- oder Übungsblatt gelesen haben. Die Frage nach der Durchführbarkeit der nach dem Urteil CILFIT geltenden Ausnahmen von der Verpflichtung, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einzureichen, insbesondere der Ausnahme in Bezug auf das Fehlen eines vernünftigen Zweifels des nationalen letztinstanzlichen Gerichts, ist nämlich vielleicht nicht die anspruchsvollste Erörterungsaufgabe. Müssen diese Gerichte wirklich (alle) gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen des Unionsrechts miteinander vergleichen? Wie sollen sie, praktisch betrachtet, bestimmen, ob die Frage für die Gerichte anderer Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof gleichermaßen offenkundig ist?

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, die Ausnahmen von dieser Pflicht und vor allem ihre Durchsetzung sind seit Jahren, bildlich gesprochen, schlafende Hunde des Unionsrechts. Wir wissen alle, dass sie da sind. Wir können alle über sie diskutieren oder gar akademische Aufsätze über sie schreiben. Im echten Leben aber weckt man sie am besten nicht. Pragmatisch (oder zynisch) gesagt, funktioniert das gesamte Vorabentscheidungssystem, weil niemand das Urteil CILFIT wirklich anwendet, jedenfalls nicht wörtlich. Oft ist es besser, sich einen Hund vorzustellen, als es mit dem lebenden Tier zu tun zu haben.

Aus einer Reihe von Gründen, die ich in den vorliegenden Schlussanträgen darlegen werde, trage ich dem Gerichtshof den Vorschlag vor, dass es an der Zeit ist, die Rechtssache CILFIT zu überprüfen. Mein Vorschlag hierfür ist eher einfach und geht dahin, die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie die von ihr geltenden Ausnahmen so anzupassen, dass sie den Anforderungen des gegenwärtigen unionsrechtlichen Gerichtssystems entsprechen und dann realistisch angewendet (sowie möglicherweise zu gegebener Zeit durchgesetzt) werden können.

Der vorgeschlagene Anpassungsvorgang erfordert jedoch einen erheblichen Paradigmenwechsel. Die Grundgedanken und Ausrichtung der Vorlagepflicht und der von ihr geltenden Ausnahmen sollten sich wegbewegen vom Fehlen eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall, der in Form eines subjektiven gerichtlichen Zweifel bestehen und festgestellt werden muss, hin zu einem objektiveren Gebot der Gewährleistung einer in der gesamten Union einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Mit anderen Worten sollte die Vorlagepflicht nicht in erster Linie auf die richtigen Antworten, sondern vielmehr auf die Ermittlung der richtigen Fragen ausgerichtet sein.“

 
II. Neugierig geworden? Einfach lesen. Es lohnt sich wirklich (und man erfährt auch noch was über den braven Soldat Schwjk). Und wer dann noch Lust und Energie hat, das Thema zu vertiefen, dann kann man sich auch mit dem Gegenteil beschäftigen: Wann nicht vorgelegt werden kann, selbst wenn man wollte. Auch Bobek betont: Vorgelegt werden kann nur, was entscheidungserheblich ist (nicht anders als bei der konkreten Normenkontrolle nachkonstitutionellen Rechts durch das BVerfG nach Art. 100 GG, s. hierzu BVerfG v. 28.1.1092, BVerfGE 85, 191). Hierbei ist anerkannt „dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; vgl. u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08 bis C-80/08, EU:C:2011:550 Rn. 30 und die dort angeführte Rspr.). Es gilt eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit von zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen. Daher kann der Gerichtshof eine Entscheidung nur in begrenzten Fällen ablehnen, insbesondere dann, wenn die Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht erfüllt sind oder wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung der betreffenden Unionsregelung in keinem Zusammenhang mit dem Sachverhalt steht oder wenn die Fragen hypothetischer Natur sind (Generalanwalt Bobek, Schlussantrag v. 13.1.2021 – C-645/19, EU:C:2021:5 Rn. 33). Die Frage ist unzulässig, „wenn das Problem hypothetischer Natur ist“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; in diesem Sinne u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08, EU:C:2011:550 Rn. 31 und die dort angeführte Rspr.). Denn der Gerichtshof sieht die ihm durch Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe im Kern darin, „[…] zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben“ (wiederum EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105).
 
Manche Gerichte haben offensichtlich Freude an der Vorlage, zu der sie gar nicht verpflichtet sind. So gibt es z.B. ein Gericht mit acht Vorlagen desselben Richters innerhalb von etwas mehr als 20 Monaten (Vorlagebeschluss vom 27.3.2019 – 6 K 1016/15.Wi, entschieden durch den Gerichtshof am 9.7.2020 – Rs. C‑272/19; Vorlagebeschluss v. 27.6.2019 – 6 K 565/17, entschieden durch den Gerichtshof am 12.5.2021 – C-505/19; Vorlagebeschluss vom 13.5.2020 – 6 K 805/19.WI, anhängig Rs. C-215/20; Vorlagebeschluss vom 15.5.2020 – 6 K 806/19.WI, anhängig als Rs C-222/20; Vorlagebeschluss vom 17.12.2020 – 23 K 1360/20.WI.PV, anhängig als Rs. C-34/21; Vorlagebeschluss vom 30.7.2021 – 6 K 421/21.WI, anhängig als Rs. C-481/21; Vorlagebeschluss vom 31.8.2021 – 6 K 226/21.WI, anhängig als Rs. C-552/21; Vorlagebeschluss vom 1.10.2021 – 6 K 788/20.WI; vor einigen Jahren schon Vorlagebeschluss vom 27.2.2009 – 6 K 1045/08.WI, entschieden EuGH v. 9.11.2010 Rs. C-93/09). Sie betreffen alle – wie die anderen Vorlagen – auch diesmal den Datenschutz. Dieses Rechtsgebiet ist wohl das „Steckenpferd“ des Richters, zu dem er in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche engagierte, durchaus kluge und auch rechtspolitisch ausgerichtete Beiträge veröffentlicht hat. Dabei kommentiert er auch seine eigenen Vorlagen, in denen er das gewünschte Ergebnis der Prüfung des Gerichtshofs vorwegnimmt (s. ZD-Aktuell 2021, 05470), oder im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs das Ergebnis, von dem er dann ggf. auch deutlich macht, wo er anders denkt (ZD 2021, 426).
 
III. Das mag man auch rechtspolitisch bewerten. Ich habe schon vor mehr als 15 Jahren geschrieben, ohne dass sich meine Meinung geändert hätte: Nicht alles muss nach Luxemburg (Thüsing, BB Editorial, Heft 35/2005). Die deutschen Gerichte bleiben vorlagefreudig und das ist gut so, weil es in den meisten Fällen der größeren Rechtssicherheit dient. Nicht alle diese Vorlagen verfolgen freilich dieses Ziel (s. auch Thüsing, BB-Editorial, Heft 25/2007). Zuweilen spielen die Instanzgerichte über Bande und versuchen, ihre Rechtsprechung, die das BAG nicht überzeugt, über den Umweg des EuGH zu erzwingen (s. hierfür exemplarisch die Vorlage im Verfahren Schultz-Hoff Rs. C-350/06 durch das LAG Düsseldorf v. 21.8.2006). So etwas hat einen faden Beigeschmack, insbesondere wenn die europarechtlichen Anknüpfungspunkte gering sind und die erhoffte Antwort nur richtig sein könnte, wenn nicht nur Deutschland, sondern sehr viele andere Länder auch irren würden. Allgemein gilt: respice finem! Wer vorlegt, muss sorgsam die Folgen berechnen, die seine Vorlage haben könnte.

18.11.2021/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-11-18 08:27:472021-11-18 08:27:47Vorlagepflicht der nationalen Gerichte – Generalanwalt Bobek schlägt neue Perspektiven für Art. 267 Abs. 3 AEUV vor
Gastautor

EuGH als gesetzlicher Richter – Acte clair und éclairé darf nicht willkürlich angenommen werden

Europarecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Verfassungsrecht

Wir freuen uns, folgenden Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
 
Das BVerfG (v. 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19) hat eine alte Frage erneut entschieden: Wann ein letztinstanzliches Gericht eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem EuGH vorlegen muss, ist eine Sache, eine andere aber, wann die Nichtvorlage trotz Vorlagepflicht ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist und vor dem BVerfG gerügt werden kann.
Der Sachverhalt betraf eine höchst spannende Frage des Datenschutzes: Verpflichtet eine rechtswidrige Datenverarbeitung nach Art. 82 DSGVO auch bei relativ geringfügiger Beeinträchtigung zum Schadensersatz für Nichtvermögensschäden oder nur – Rechtsprechung Caroline von Monaco und Co. – ab einer gewissen Erheblichkeitsschwelle? Die Frage ist hoch umstritten (wer es nachlesen will, s. z.B. Fuhlrott/Oltmanns, ArbRAktuell 2020, 565; Ernst, BB 2020, 2164) – und dennoch ging das Amtsgericht Goslar davon aus, selbst entscheiden zu können, dass dem nicht der Fall ist. Ein Rechtsanwalt erhielt eine Werbe-E-Mail und mit Schreiben vom gleichen Tag mahnte der Beschwerdeführer den Beklagten des Ausgangsverfahrens ab. Einen Monat später verklagte er den Versender der E-Mail und beantragte u.a. die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes zu verurteilen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde, das aber den Betrag von 500 Euro nicht unterschreiten solle.
500 Euro ist schon happig – für ein HWS-Syndrom mit Schädelprellung bekommt man manchmal auch nicht mehr (s. LG Mannheim v. 20.9.2013 – 8 O 82/12). Und so schlimm war das ja vielleicht gar nicht mit der Mail. Dennoch hob das BVerfG die Entscheidung auf. Denn ohne Frage hätte das AG Goslar vorlegen müssen:

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 21; Urteil vom 15. September 2005, C-495/03, EU:C:2005:552, Rn. 33; Urteil vom 6. Dezember 2005, C-461/03, EU:C:2005:742, Rn. 16; stRspr) muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (acte éclairé) oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair) (vgl. auch BVerfGE 82, 159 <193>; 128, 157 <187>; 129, 78 <105 f.>; 140, 317 <376 Rn. 125>; 147, 364 <378 f. Rn. 37>). Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 16).

Aber nicht in jeder falschen Anwendung einfachen Rechts – und mag es auch Europarecht sein – liegt schon ein Entzug des gesetzlichen Richters (ausführlich Thüsing/Pötters/Traut, NZA 2010, 930). Das BVerfG ist auch hier keine „Superrevisionsinstanz“ und auch kein „oberstes Vorlagenkontrollgericht“. Das macht auch das BVerfG nun deutlich:

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV zur Klärung der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften wird in verfassungswidriger Weise gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht; vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 Rn. 181>; 147, 364 <380 Rn. 41>). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft; vgl. BVerfGE 75, 223 <245>; 82, 159 <195>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 Rn. 182>; 147, 364 <381 Rn. 42>).

Und dann fügt es einen anderen bereits bekannten Textbaustein an:

Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat er die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 f. Rn. 183>)“.

Aber was ist vertretbar, und was ist unvertretbar? Das BVerfG gibt Hinweise:

Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; BVerfGK 10, 19 <29>). Jedenfalls bei willkürlicher Annahme eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“ durch die Fachgerichte ist der Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten (vgl. BVerfGE 135, 155 <232 f. Rn. 183>; 147, 364 <381 Rn. 43>).

Und dann wird es präziser, und gibt wiederum Hinweise, die man schon in verschiedenen anderen Entscheidungen bekommen hat:

In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob sich das Gericht hinsichtlich des Unionsrechts ausreichend kundig gemacht hat. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 128, 157 <189>). Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts (vgl. BVerfGE 75, 223 <234>; 128, 157 <188>; 129, 78 <107>) die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“; vgl. BVerfGE 129, 78 <107>). Hat es dies nicht getan, verkennt es regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Zudem hat das Fachgericht Gründe anzugeben, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen (vgl. BVerfGE 147, 364 <380 f. Rn. 41>; BVerfGK 8, 401 <405>; 10, 19 <30 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 – 1 BvR 1036/99 -, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Februar 2008 – 1 BvR 2722/06 -; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 – 1 BvR 230/09 -, Rn. 19).

Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannten Fallgruppen handelt es sich um eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen für eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung der Vorlagepflicht. Für die Frage nach einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union kommt es im Ausgangspunkt nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts – hier der DSGVO – an, sondern auf die Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach der Vorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV, die den gesetzlichen Richter im Streitfall bestimmt (vgl. BVerfGE 128, 157 <188>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 – 1 BvR 230/09 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2010 – 1 BvR 1631/08 -, Rn. 48).
Es geht also darum: Sieht das Gericht die mögliche Vorlagepflicht, macht es sich kundig, und begründet es seine Meinung – dann darf es auch in der Subsumtion irren, ohne dass ein Verfassungsverstoß vorliegt. Willkür liegt vor, wenn es mehr oder wenig deutlich macht: Das entscheide ich jetzt selbst, mag es der EuGH auch noch nicht entschieden haben. Das BVerfG hat damit Spielraum im Einzelfall. Letztlich dürfte das in der Prüfung der Entscheidung eher ein gradueller als ein essentieller Unterschied sein.
Apropos: Die Rechtsfrage, die der EuGH jetzt bekommen könnte, ist wirklich spannend. Hoffen wir, dass er dies dann auch tatsächlich vorgelegt bekommt. Wenn das der Fall ist, dann wird die Vorlage hier besprochen werden. Versprochen.

25.02.2021/4 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-02-25 10:00:552021-02-25 10:00:55EuGH als gesetzlicher Richter – Acte clair und éclairé darf nicht willkürlich angenommen werden

Über Juraexamen.info

Deine Zeitschrift für Jurastudium, Staatsexamen und Referendariat. Als gemeinnütziges Projekt aus Bonn sind wir auf eure Untersützung angewiesen, sei es als Mitglied oder durch eure Gastbeiträge. Über Zusendungen und eure Nachrichten freuen wir uns daher sehr!

Werbung

Anzeige

Neueste Beiträge

  • Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“
  • Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“
  • Human Rights and Labour – Modern Slavery – Effektive Durchsetzung von Menschenrechten in globalen Lieferketten

Weitere Artikel

Auch diese Artikel könnten für dich interessant sein.

Gastautor

Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“

Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Simon Mantsch veröffentlichen zu können. Er studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Flick Gocke Schaumburg tätig. Ein nach §§ 823 […]

Weiterlesen
16.01.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-01-16 15:42:082023-01-25 11:42:19Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“
Gastautor

Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“

Alle Interviews, Für die ersten Semester, Interviewreihe, Lerntipps, Rezensionen, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Maximilian Drews veröffentlichen zu können. Der Autor studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und berichtet über sein absolviertes Pflichtpraktikum in einer Bonner Großkanzlei. […]

Weiterlesen
03.01.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-01-03 07:26:222023-01-04 10:57:01Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“
Gastautor

Human Rights and Labour – Modern Slavery – Effektive Durchsetzung von Menschenrechten in globalen Lieferketten

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Startseite, Tagesgeschehen, Uncategorized

Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Theo Peter Rust veröffentlichen zu können. Der Autor studiert Rechtswissenschaften im siebten Semester an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Mit dem vorliegenden […]

Weiterlesen
23.12.2022/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-12-23 07:42:522022-12-23 08:49:11Human Rights and Labour – Modern Slavery – Effektive Durchsetzung von Menschenrechten in globalen Lieferketten

Support

Unterstütze uns und spende mit PayPal

Jetzt spenden
  • Über JE
  • Das Team
  • Spendenprojekt
  • Gastautor werden
  • Mitglied werden
  • Alumni
  • Häufige Fragen
  • Impressum
  • Kontakt
  • Datenschutz

© 2022 juraexamen.info

Nach oben scrollen