Wir freuen uns, folgenden Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
Über die Vorlagepflicht der nationalen Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV habe ich hier schon vor einigen Monaten berichtet anlässlich der Entscheidung des BVerfG (v. 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19, NJW 2021, 1005): Wann ein letztinstanzliches Gericht eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem EuGH vorlegen muss, ist eine Sache, eine andere aber, wann die Nichtvorlage trotz Vorlagepflicht ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist und vor dem BVerfG gerügt werden kann.
I. Nun gibt es neue Impulse vom EuGH. Generalanwalt Bobek setzt sich mit den bisherigen Maßstäben ausführlich auseinander und schlägt ein Umdenken der insb. im Urteil in der Rs. CIFLIT (v. 6.10.1982 – 283/81, EU:C:1982:335) niedergelegten Maßstäbe vor (Schlussanträge v. 14.4.2021 – C-561/19, EU:C:2021:291). Weniger, dafür bessere Vorlagen. Nehme man die bisherigen Maßstäbe ernst, dann droht die Überlastung der Gerichte. Er begründet seine Ansicht in seiner ihm sehr eigenen, sehr narrativen Weise, mit der er sich gerade auch an Studenten wendet:
„Anders als die nationalen letztinstanzlichen Gerichte werden Studierende des Europarechts für das Urteil CILFIT u. a. vermutlich immer eher Sympathie gehabt haben. Im Lauf der letzten ein oder zwei Jahrzehnte werden die Herzen vieler Europarechtsstudenten wahrscheinlich mit einem plötzlichen Anflug von Freude und Erleichterung geklopft haben, wenn sie „Urteil CILFIT“, „Ausnahmen von der Vorlagepflicht“ und „Diskussion“ auf ihrem Prüfungs- oder Übungsblatt gelesen haben. Die Frage nach der Durchführbarkeit der nach dem Urteil CILFIT geltenden Ausnahmen von der Verpflichtung, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einzureichen, insbesondere der Ausnahme in Bezug auf das Fehlen eines vernünftigen Zweifels des nationalen letztinstanzlichen Gerichts, ist nämlich vielleicht nicht die anspruchsvollste Erörterungsaufgabe. Müssen diese Gerichte wirklich (alle) gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen des Unionsrechts miteinander vergleichen? Wie sollen sie, praktisch betrachtet, bestimmen, ob die Frage für die Gerichte anderer Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof gleichermaßen offenkundig ist?
Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, die Ausnahmen von dieser Pflicht und vor allem ihre Durchsetzung sind seit Jahren, bildlich gesprochen, schlafende Hunde des Unionsrechts. Wir wissen alle, dass sie da sind. Wir können alle über sie diskutieren oder gar akademische Aufsätze über sie schreiben. Im echten Leben aber weckt man sie am besten nicht. Pragmatisch (oder zynisch) gesagt, funktioniert das gesamte Vorabentscheidungssystem, weil niemand das Urteil CILFIT wirklich anwendet, jedenfalls nicht wörtlich. Oft ist es besser, sich einen Hund vorzustellen, als es mit dem lebenden Tier zu tun zu haben.
Aus einer Reihe von Gründen, die ich in den vorliegenden Schlussanträgen darlegen werde, trage ich dem Gerichtshof den Vorschlag vor, dass es an der Zeit ist, die Rechtssache CILFIT zu überprüfen. Mein Vorschlag hierfür ist eher einfach und geht dahin, die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie die von ihr geltenden Ausnahmen so anzupassen, dass sie den Anforderungen des gegenwärtigen unionsrechtlichen Gerichtssystems entsprechen und dann realistisch angewendet (sowie möglicherweise zu gegebener Zeit durchgesetzt) werden können.
Der vorgeschlagene Anpassungsvorgang erfordert jedoch einen erheblichen Paradigmenwechsel. Die Grundgedanken und Ausrichtung der Vorlagepflicht und der von ihr geltenden Ausnahmen sollten sich wegbewegen vom Fehlen eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall, der in Form eines subjektiven gerichtlichen Zweifel bestehen und festgestellt werden muss, hin zu einem objektiveren Gebot der Gewährleistung einer in der gesamten Union einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Mit anderen Worten sollte die Vorlagepflicht nicht in erster Linie auf die richtigen Antworten, sondern vielmehr auf die Ermittlung der richtigen Fragen ausgerichtet sein.“
II. Neugierig geworden? Einfach lesen. Es lohnt sich wirklich (und man erfährt auch noch was über den braven Soldat Schwjk). Und wer dann noch Lust und Energie hat, das Thema zu vertiefen, dann kann man sich auch mit dem Gegenteil beschäftigen: Wann nicht vorgelegt werden kann, selbst wenn man wollte. Auch Bobek betont: Vorgelegt werden kann nur, was entscheidungserheblich ist (nicht anders als bei der konkreten Normenkontrolle nachkonstitutionellen Rechts durch das BVerfG nach Art. 100 GG, s. hierzu BVerfG v. 28.1.1092, BVerfGE 85, 191). Hierbei ist anerkannt „dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; vgl. u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08 bis C-80/08, EU:C:2011:550 Rn. 30 und die dort angeführte Rspr.). Es gilt eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit von zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen. Daher kann der Gerichtshof eine Entscheidung nur in begrenzten Fällen ablehnen, insbesondere dann, wenn die Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht erfüllt sind oder wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung der betreffenden Unionsregelung in keinem Zusammenhang mit dem Sachverhalt steht oder wenn die Fragen hypothetischer Natur sind (Generalanwalt Bobek, Schlussantrag v. 13.1.2021 – C-645/19, EU:C:2021:5 Rn. 33). Die Frage ist unzulässig, „wenn das Problem hypothetischer Natur ist“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; in diesem Sinne u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08, EU:C:2011:550 Rn. 31 und die dort angeführte Rspr.). Denn der Gerichtshof sieht die ihm durch Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe im Kern darin, „[…] zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben“ (wiederum EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105).
Manche Gerichte haben offensichtlich Freude an der Vorlage, zu der sie gar nicht verpflichtet sind. So gibt es z.B. ein Gericht mit acht Vorlagen desselben Richters innerhalb von etwas mehr als 20 Monaten (Vorlagebeschluss vom 27.3.2019 – 6 K 1016/15.Wi, entschieden durch den Gerichtshof am 9.7.2020 – Rs. C‑272/19; Vorlagebeschluss v. 27.6.2019 – 6 K 565/17, entschieden durch den Gerichtshof am 12.5.2021 – C-505/19; Vorlagebeschluss vom 13.5.2020 – 6 K 805/19.WI, anhängig Rs. C-215/20; Vorlagebeschluss vom 15.5.2020 – 6 K 806/19.WI, anhängig als Rs C-222/20; Vorlagebeschluss vom 17.12.2020 – 23 K 1360/20.WI.PV, anhängig als Rs. C-34/21; Vorlagebeschluss vom 30.7.2021 – 6 K 421/21.WI, anhängig als Rs. C-481/21; Vorlagebeschluss vom 31.8.2021 – 6 K 226/21.WI, anhängig als Rs. C-552/21; Vorlagebeschluss vom 1.10.2021 – 6 K 788/20.WI; vor einigen Jahren schon Vorlagebeschluss vom 27.2.2009 – 6 K 1045/08.WI, entschieden EuGH v. 9.11.2010 Rs. C-93/09). Sie betreffen alle – wie die anderen Vorlagen – auch diesmal den Datenschutz. Dieses Rechtsgebiet ist wohl das „Steckenpferd“ des Richters, zu dem er in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche engagierte, durchaus kluge und auch rechtspolitisch ausgerichtete Beiträge veröffentlicht hat. Dabei kommentiert er auch seine eigenen Vorlagen, in denen er das gewünschte Ergebnis der Prüfung des Gerichtshofs vorwegnimmt (s. ZD-Aktuell 2021, 05470), oder im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs das Ergebnis, von dem er dann ggf. auch deutlich macht, wo er anders denkt (ZD 2021, 426).
III. Das mag man auch rechtspolitisch bewerten. Ich habe schon vor mehr als 15 Jahren geschrieben, ohne dass sich meine Meinung geändert hätte: Nicht alles muss nach Luxemburg (Thüsing, BB Editorial, Heft 35/2005). Die deutschen Gerichte bleiben vorlagefreudig und das ist gut so, weil es in den meisten Fällen der größeren Rechtssicherheit dient. Nicht alle diese Vorlagen verfolgen freilich dieses Ziel (s. auch Thüsing, BB-Editorial, Heft 25/2007). Zuweilen spielen die Instanzgerichte über Bande und versuchen, ihre Rechtsprechung, die das BAG nicht überzeugt, über den Umweg des EuGH zu erzwingen (s. hierfür exemplarisch die Vorlage im Verfahren Schultz-Hoff Rs. C-350/06 durch das LAG Düsseldorf v. 21.8.2006). So etwas hat einen faden Beigeschmack, insbesondere wenn die europarechtlichen Anknüpfungspunkte gering sind und die erhoffte Antwort nur richtig sein könnte, wenn nicht nur Deutschland, sondern sehr viele andere Länder auch irren würden. Allgemein gilt: respice finem! Wer vorlegt, muss sorgsam die Folgen berechnen, die seine Vorlage haben könnte.