Das aktuelle BGH-Urteil vom 26.11.2019 – 2 StR 557/18 ist nicht nur für Justizvollzugsbeamte, sondern auch für Examenskandidaten von enormer Relevanz. Denn der Fall ist wie gemacht für eine Examensklausur: Ein Häftling begeht während eines von den zuständigen Justizvollzugsbeamten genehmigten Freigangs mehrere Straftaten, unter anderem tötet er bei einer Flucht vor der Polizei, während er mit rasanter Geschwindigkeit als „Geisterfahrer“ auf die Gegenfahrbahn fährt, eine im Gegenverkehr befindliche junge Frau. So kann zuerst die Strafbarkeit des Häftlings und hier insbesondere auch die aufgrund mehrere aktueller BGH-Entscheidungen bei Prüfern äußerst beliebte Problematik der Strafbarkeit wegen Mordes in den sog. „Raser-Fällen“ abgeprüft werden und sodann die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Justizvollzugsbeamten für diese Taten. Nachdem zwei Justizvollzugsbeamten durch das LG Limburg (Urteil vom 7.6.2018 – 5 KLs 3 Js 11612/16) wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurden, judizierte nun der BGH als Revisionsinstanz.
I. Strafbarkeit des Häftlings wegen Mordes, § 211 StGB
Ist in der Klausur offen nach der Strafbarkeit der Beteiligten gefragt, so ist zunächst mit dem Häftling als Tatnächsten zu beginnen. Dieser hat sich gemäß § 211 StGB wegen Mordes strafbar gemacht, wobei er jedenfalls das Mordmerkmal der Gemeingefährlichkeit erfüllte. Hinsichtlich der Abgrenzung von fahrlässiger Tötung und vorsätzlichem Mord in „Raser-Fällen“ ist auf unsere Artikel dazu (hier hier und hier) zu verweisen. Ein Vorsatz in Form des dolus eventualis kann hier insbesondere deshalb angenommen werden, weil der Täter eine Flucht um jeden Preis wollte und daher auch eine Eigengefährdung des Täters dem Vorsatz nicht entgegensteht, da er die Gefährdung anderer und auch sich selbst zum Zwecke der Flucht bewusst in Kauf nahm.
II. Verurteilung der JVA-Beamten durch das LG Limburg
Sodann ist zu erkennen, dass auch eine Strafbarkeit der Vollzugsbeamten wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB in Betracht kommt. Tathandlung ist hierbei die Entscheidung der Justizvollzugsbeamten, dem Häftling offenen Vollzug und dort weitere Lockerungen durch Freigänge zu gewähren. Das LG Limburg sah hierin eine Sorgfaltspflichtverletzung, die objektiv vorhersehbar zur Tötung des Opfers führte. Das Gericht stellte darauf ab, dass der Häftling bereits zuvor in einer Vielzahl von Fällen wegen Verkehrsdelikten verurteilt wurde. Insbesondere habe sich die Neigung des Häftlings, sich unter riskantem Verkehrsverhalten einer Polizeikontrolle zu entziehen, bereits in der Vergangenheit gezeigt. Denn einer der mehrere Verurteilungen des Häftlings lag ein Fall zugrunde, in dem dieser während einer Trunkenheitsfahrt bewusst in einer Kreuzung die Vorfahrt missachtete, um der Polizei zu entfliehen. Damals kam es nur aufgrund der schnellen Reaktion des anderen PWKs nicht zu einer Kollision.
III. Freispruch durch den BGH
Dem trat nun der BGH entgegen und hob die Verurteilung der beiden Justizvollzugsbeamten auf und sprach die beiden Angeklagten frei. Das oberste Gericht sah in der Entscheidung, den Strafgefangenen in den offenen Vollzug zu verlegen und ihm weitere Lockerungen in Form von Freigängen zu gewähren, schon keine Sorgfaltspflichtverletzung. Die Justizvollzugsbeamten handelten auf Grundlage der einschlägigen landesrechtlichen Strafvollzugsvorschriften. Vollzugsbedienstete haben bei jeder Entscheidung über vollzugsöffnende Maßnahmen zwischen der Sicherheit der Allgemeinheit einerseits und dem grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse eines Strafgefangenen andererseits abzuwägen, so der BGH. Dabei besteht ein Beurteilungsspielraum der Beamten. Da die Angeklagten – aus der maßgeblichen Sicht zum damaligen Zeitpunkt – alle relevanten für und gegen eine Vollzugslockerung sprechenden Aspekte berücksichtigten, haben sie ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten.
Zudem verneinte der BGH auch die objektive Vorhersehbarkeit des konkreten Taterfolgs. Denn der Fluchtverlauf, bei dem der Häftling einen vorsätzlichen Mord unter Verwirklichung des Mordmerkmals der Gemeingefährlichkeit begang, liege so sehr außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung, dass mit ihm nicht gerechnet werden musste. Auch wenn sich dies aus der Pressemitteilung des BGH noch nicht direkt ergibt, wird für den BGH wohl ausschlaggebend gewesen sein, dass sich die in der Vergangenheit vom Häftling begangenen Verkehrsdelikte dadurch deutlich vom nun zu beurteilenden Geschehensablauf unterscheiden, als dass der Täter zuvor stets auf einen guten Ausgang hoffte und auch keine mit einer „Geisterfahrt“ auf einer befahrenen Gegenfahrbahn in ihrer Intensität vergleichbare Gefährdungslage schaffte.
IV. Fazit
Der BGH verneinte im vorliegenden Fall eine Strafbarkeit der Justizvollzugsbeamten wegen fahrlässiger Tötung. Dies dürfte nicht nur für Aufatmen bei den beiden Angeklagten, sondern auch bei anderen Strafvollzugsbeamten führen. Zwar lässt sich das Urteil des BGH nicht so verstehen, dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für während des Freigangs begangener Straftaten von vorneherein ausgeschlossen sei. Dennoch bestehen dabei hohe Hürden. So erkennt der BGH einen Beurteilungsspielraum der Strafvollzugsbeamten bei der Entscheidung über eine Vollzuglockerung an. Zudem sind jedenfalls Straftaten, die sich hinsichtlich Vorsatzes, Schwere und Gefährdungsgrad deutlich von den bisherigen Straftaten des Häftlings unterscheiden, objektiv nicht vorhersehbar.