Der Staatsgerichtshof Stuttgart hat am 22.05.2012 mehrere Einsprüche gegen die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 zurückgewiesen.
Die Entscheidung bietet sich hervorragend an, um im Rahmen einer mündlichen Prüfung die Grundsätze zu plebleszitären Elementen auf kommunal- sowie verfassungsrechtlicher Ebene abzufragen. Für anstehende mündliche Prüfungen wird insofern die Lektüre der folgenden Nachweise empfohlen:
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Beck-aktuell berichtet über den letzten SPD-Parteitag. In diesem Rahmen wurde u.a. auch die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene gefordert. Wieder einmal ein guter Aufhänger, um sich vertieft mit der Zulässigkeit von plebiszitären Elementen zu beschäftigen. Ich darf an dieser Stelle also erneut auf unseren einschlägigen Beitrag verweisen.
Das Bezirksamt Treptow-Köpenick von Berlin muss ein Bürgerbegehren zum Erhalt einer bezirklichen Sportanlage zulassen. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin mit Urteil vom 14.02.2011 entschieden.
Ein guter Grund, sich noch einmal mit den Grundzügen des Bürgerbegehrens und der direkten Demokratie auseinanderzusetzen (siehe erst kürzlich wegen eines anderen Falls hier).
Die Morgenpost berichtete kürzlich über einen medienwirksamen Volksentscheid in Berlin:
Die Berliner trauen dem Senat wohl nicht. Denn sie setzten am Sonntag mit einem Volksentscheid die Offenlegung aller Papiere zum Teilverkauf der Berliner Wasserbetriebe durch. Die Initiatoren vermuten, Rot-Rot hätte nicht alles offenbart.
Grund genug, sich mit den Grundzügen der Entscheidungsform des Volksentscheides für die mündliche Prüfung auseinanderzusetzen. Ebenso in Klausuren gehört direkte Demokratie auf kommunaler – wie aber auch auf verfassungsrechtlicher Ebene – zum Pflichtfachstoff. Der folgende Beitrag bezieht sich im kommunalrechtlichen Teil auf die Vorschriften des Landes NRW.
A. Direkte Demokratie auf Verfassungsebene
Nach Art. 20 Abs. 2 GG lautet:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Das Volk übt die Staatsgewalt somit in Wahlen und Abstimmungen aus. Abstimmungen sind im Vergleich zu Wahlen eine Form direkter Demokratie (also Entscheidung durch das Volk). Nichtsdestotrotz haben wir auf Grundgesetzebene bislang nichts von Volksentscheiden gehört. Bedeutet dies, dass das GG direkte Demokratie ablehnt? Dem Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 GG nach zu urteilen ist eine solche Ansicht nicht haltbar.
Dennoch wäre ein Gesetz, das eine Volksabstimmung zu dessen Inkrafttreten benötigt, verfassungswidrig. Es liegt in solchen Fällen zwar kein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 GG vor; allerdings richtet sich das Gesetzgebungsverfahren nach Art. 70 ff. GG. Dies bedeutet, dass unsere Verfassung direkte Demokratie in Form von Volksentscheidungen zwar durchaus billigt – eine solche Entscheidungsform muss aber in der Verfassung festgeschrieben sein. Die systematische Auslegung des Grundgesetzes gebietet also, dass Volksentscheide nicht ohne besondere Rechtsgrundlage entscheidungsrelevant werden. Ein solches Beispiel wäre etwa Art. 29 GG, der für die Neugliederung der Länder explizit einen Volksentscheid vorsieht.
Eine andere durchaus interessante Frage besteht darin, ob Art. 20 Abs. 2 GG sog. Volksbefragungen zulässt. Dies bedeutet, dass die Bundesregierung das Volk über ein bestimmtes Verfahren abstimmen lässt, wobei dieser Abstimmung aber keine Bindungswirkung zukommt. Eine solche Form direkter Demokratie lässt sich aufgrund der mangelnden rechtlichen Bindung durchaus als Konform mit der Systematik der Verfassung einordnen. Dagegen spricht, dass das gesetzgebende Organ durch solche Befragungen in seiner Beurteilung eines Gesetzesentwurfs bereits präjudiziert wäre, weil ein Abweichen von der Volksmeinung politisch ohne Abstrafungen bei den Wahlen schwer durchsetzbar wäre. Aufgrund dieser faktischen Behinderung des Gesetzgebungsprozesses ist es deshalb m.E. besser vertretbar, auch solche Formen direkter Demokratie nur mit besonderer Rechtsgrundlage (wie etwa Art. 29 GG) zuzulassen.
Auf Länderebene kann die Situation durchaus anders aussehen: Entsprechend dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG müssen die Länderverfassungen in den Grundfesten der Ausprägung des GG entsprechen. Die systematische Ausgestaltung ist jedoch den Ländern überlassen. Aus diesem Grund steht es dem Land NRW etwa frei, Formen von direkter Demokratie zuzulassen. Dies steht mit der Grundsatzentscheidung des Art. 20 Abs. 2 GG, nämlich dass solche Entscheidungsformen im Prinzip zulässig sind, im Einklang. In NRW wurde direkte Demokratie insbesondere auf Gemeindeebene in Form des jetzigen § 26 GO NRW eingeführt.
B. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid
§ 26 GO NRW unterscheidet zwischen verschiedenen Formen direkter Demokratie. Beim Bürgerentscheid entscheiden die Bürger über eine Angelegenheit anstelle des Rats selbst. Er hat gemäß § 26 Abs. 7 S. 1 GO NRW die Wirkung eines Ratsbeschlusses. Es ist eine Volksabstimmung auf kommunaler Ebene. Ein Bürgerentscheid wird durchgeführt, wenn die Bürger dies beantragen. Den Antrag auf Durchführung eines Bürgerbescheids bezeichnet § 26 Abs. 1 S. 1 GO NRW hingegen als Bürgerbegehren.
Neu eingeführt ist der Ratbürgerentscheid gemäß § 26 Abs. 1 S. 2 GO NRW. Hiernach wird ein Bürgerentscheid über Angelegenheiten der Gemeinde auf einen Ratsbeschluss mit einer 2/3-Mehrheit der gesetzlichen Zahl der Mitglieder hin (der Bürgermeister stimmt also mit) durchgeführt.
Auf Kreisebene gibt es auch ein Bürgerbegehren oder einen Kreistagsbürgerentscheid gemäß § 23 KrO NRW.
I. Bürgerbegehren, § 26 Abs. 2-6 GO NRW
1. Anforderungen an den Antrag
Der Antrag muss den Voraussetzungen von § 26 Abs. 2 GO NRW entsprechen. Zudem muss das Bürgerbegehren einen zulässigen Gegenstand betreffen. Unzulässig sind die in Abs. 5 aufgezählten Gegenstände. Bei Abs. 5 Nr. 9 ist ggf. inzident die Rechtmäßigkeit einer bestimmten Maßnahme zu prüfen.
Die Fristen regelt Absatz 3. Ein Bürgerbegehren wendet sich nicht nur dann „gegen einen Ratsbeschluss“ im Sinne von § 26 Abs. 3, wenn die Aufhebung des Beschlusses begehrt wird, sondern auch dann, wenn es in anderer Weise in die durch den Rat getroffene Regelung eingreift. Die bloße Bestätigung oder Wiederholung eines früheren Beschlusses eröffnet die Frist nach Abs. 3 nicht erneut. Das gleiche gilt für die Entscheidung der Rechtsetzung, mit der ein Antrag auf Änderung eines früheren Beschlusses abgelehnt wird. Nach Verstreichen der Frist ist ein Bürgerbegehren ausgeschlossen.
Gemeindeorgane haben die Befugnis sich zu einem Bürgerbegehren wertend zu äußern. Anders als bei Wahlen gilt kein Neutralitätsgebot für staatliche Stellen. Es muss lediglich das Sachlichkeitsgebot, die Zuständigkeitsordnung und die Freiheit der Teilnahme am Bürgerbegehren gewahrt bleiben. Werden diese Grenzen überschritten, haben die Bürger einen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch gegen die Äußerungen.
2. Verfahren und Rechtsschutz
Über die Zulässigkeit entscheidet nach § 26 Abs. 6 GO NRW unverzüglich der Rat. Auch hier bedeutet Zulässigkeit, dass das Bürgerbegehren allen Anforderungen entsprechen muss.
Die Entscheidung des Rats ist ein VA. Die Regelungswirkung liegt in der Entscheidung über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens. Sie ist auch auf Außenwirkung gerichtet, da die Unterzeichner des Bürgerbegehrens kein Organ der Gemeinde sind.
Entscheidet der Rat, dass das Bürgerbegehren unzulässig ist, so ist dagegen Widerspruch und Verpflichtungsklage statthaft. Die Möglichkeit des Widerspruchs ist gemäß § 26 Abs. 6 S. 2 auf die Vertreter des Bürgerbegehrens beschränkt, so dass diese ihre eigenen Rechte in eigenem Namen geltend machen und nicht als Vertreter handeln.
Mit dem neuen § 26 Abs. 6 S. 6 GO NRW ist die Sperrwirkung des zulässigen Bürgerbegehrens eingeführt worden. Eine entgegenstehende Entscheidung der Gemeindeorgane darf dann nicht mehr getroffen werden oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung darf nicht begonnen werden, es sei denn, zu diesem Zeitpunkt haben rechtliche Verpflichtungen der Gemeinde hierzu bestanden.
Hält der Rat das Begehren für unzulässig, so wird keine Sperrwirkung über Abs. 6 S. 6 begründet. Eine analoge Anwendung bei unrichtiger Betrachtung des Rats kommt nicht in Betracht, da sonst dessen Handlungsfähigkeit nicht gewährleistet wäre. Es stellt sich somit die Frage, ob nicht in besonders gelagerten Fällen aus der organähnlichen Position der Bürger und aus dem Grundsatz der Organtreue heraus ein Sicherungsanspruch entsprechend § 123 VwGO zu begründen sein könnte, wenn etwa die Einschätzung über die Unzulässigkeit offenkundig falsch ist.
II. Bürgerentscheid
1. Durchführung des Bürgerentscheids
Hat der Rat die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens festgestellt, so ist gemäß § 26 Abs. 6 S. 3 GO NRW innerhalb von drei Monaten ein Bürgerentscheid durchzuführen. Gemäß § 26 Abs. 6 S. 4 kann der Rat den Bürgerentscheid verhindern, indem er selbst einen Beschluss fasst, welcher der verfolgten Entscheidung entspricht. Bei Einschränkungen ist der Bürgerentscheid natürlich trotzdem durchzuführen.
Sofern die positive Zulässigkeitsentscheidung nach § 26 Abs. 6 S. 1 erfolgt ist, haben die Vertreter des Bürgerbegehrens einen Anspruch auf Durchführung des Bürgerentscheids gegen die Gemeinde, den sie aber innerhalb der Frist des § 26 Abs. 6 S. 3 geltend machen müssen.
2. Wirksamkeit des Bürgerentscheids
Da der Bürgerentscheid einem Ratsbeschluss gleichsteht (§ 26 Abs. 8 S. 1), gelten für Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit die gleichen Grundsätze wie für Beschlüsse des Rats. Rechtswidrig und unwirksam ist der Bürgerentscheids grundsätzlich, wenn er gegen rechtliche Anforderungen verstößt. Dies kann etwa darin liegen, dass er einen unzulässigen Gegenstand (Abs. 5) betrifft. Fehler am Abstimmungsverfahren sind nur dann erheblich, wenn wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt wurden und nicht ausgeschlossen ist, dass diese Fehler das Ergebnis der Wahl beeinflusst haben.
Der einzelne Bürger hat jedoch kein subjektiv öffentliches Recht darauf, dass der Bürgerentscheid rechtmäßig ist, insbesondere der Abstimmungsvorgang fehlerfrei verläuft. Er kann nicht auf Feststellung der Ungültigkeit des Entscheids klagen, da dies kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis zwischen ihm und der Gemeinde darstellt.
3. Rechtsfolgen des wirksamen Bürgerentscheids
Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Beschlusses des Rats. Er kann innerhalb von zwei Jahren nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden (Bindungswirkung). Bei einer entgegenstehenden Entscheidung innerhalb der Frist ist der Beschluss rechtswidrig und unwirksam.
Fraglich ist auch, ob die Bindungswirkung nur eintritt, wenn die zur Entscheidung gestellte Frage mit JA beantwortet wurde. Für eine Bindungswirkung nur bei Erfolg spricht, dass eine inhaltliche Aussage nur im Falle eines JA getroffen wird. Stimmt die Mehrheit mit NEIN, so bedeutet dies lediglich, dass der gestellte Antrag abgelehnt wird – dadurch wird nicht das entgegengesetzte Ziel gleichzeitig bejaht.
Der einzelne abstimmungsberechtigte Bürger hat ein subjektiv-öffentliches Recht auf Beachtung des Bürgerentscheids. Er kann gegen Maßnahmen und Entscheidungen, die im Widerspruch dazu stehen, gerichtlich vorgehen.