Ein in Examensklausuren im Rahmen der Überprüfung von Ermessensentscheidungen häufig wiederkehrender Klassiker des allgemeinen Verwaltungsrechts ist die Frage nach der Selbstbindung der Verwaltung. Welche Anforderungen an das Bestehen einer derartigen Bindungswirkung zu stellen sind, hat nunmehr den VGH Baden-Württemberg in seinem Beschluss v. 17.12.2018 – 6 S 2448/18 beschäftigt.
I. Sachverhalt (vereinfacht)
B betreibt seit Jahren eine Gaststätte in einem belebten Stadtteil der Gemeinde G, in dem sich auch eine Vielzahl anderer Gaststätten befindet. B hat sein Betriebskonzept auf ein Publikum abgestimmt, das bis in den frühen Morgen hinein ausgehen möchte. Daher beginnt B den Betrieb der Gaststätte erst um 23 Uhr und hat an Werktagen bis 5 Uhr, an den Wochenenden bis 7 Uhr geöffnet. Seit dem 12.2.1992 hatte G der B durchgehend eine jeweils auf sechs Monate befristete Sperrzeitverkürzung täglich auf 6 Uhr auf Grundlage von § 12 S. 1 GastVO BW erteilt. Gem. § 12 S. 1 GastVO kann bei „Vorliegen eines öffentlichen Bedürfnisses oder besonderer örtlicher Verhältnisse (…) für einzelne Betriebe die Sperrzeit“ verkürzt werden. Eine Vielzahl anderer Gaststätten in diesem Stadtteil hatten in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls vergleichbare individuelle Sperrzeitverkürzungen erhalten. Folge dessen war, dass die allgemein durch § 9 GastVO BW festgelegte Sperrzeit im Ergebnis vollständig aufgehoben wurde. Nachdem die zuletzt an B erteilte Sperrzeitverkürzung am 10.11.2017 ausgelaufen war, lehnte die Gemeinde G die Erteilung einer weiteren Sperrzeitverkürzung ab. Dies begründete G damit, dass in den letzten Jahren vermehrt Beschwerden von Anwohnern registriert worden seien, die in den letzten sechs Monaten zudem stark zugenommen hätten. Dies beziehe sich auf den Betrieb des B, aber auch auf die Gesamtsituation im Stadtteil. Neben der lauten Musik aus den Gaststätten, störe die Anwohner insbesondere das Lärmen der Besucher auf den Straßen vor der Gaststätte. B wandte sich daraufhin gegen die ablehnende Entscheidung der G.
II. Lösung des VGH Baden-Württemberg
Im Ergebnis nahm der VGH Baden-Württemberg eine Selbstbindung der Gemeinde durch die in der Vergangenheit jahrzehntelang gewährte Sperrzeitverkürzung an. Dies hat zur Folge, dass sich das der Gemeinde durch § 12 GastVO BW grundsätzlich eingeräumte Ermessen in Bezug auf die Erteilung der Sperrzeitverkürzung auf Null reduziert hat, sodass die Versagung der erneuten Sperrzeitverkürzung letztlich rechtswidrig war. Dies stützt der VGH Baden-Württemberg auf folgende Erwägungen:
1. Grundsätzlich soll eine Sperrzeitverkürzung für einzelne Betriebe nach § 12 GastVO BW stets nur befristet und widerruflich erteilt werden. Dies ergibt sich aus einer Zusammenschau der Vorschriften des § 11 GastVO BW und § 12 GastVO BW. Während § 11 GastVO BW allgemeine Ausnahmen von der Sperrzeit durch Rechtsverordnungen zulässt, betrifft § 12 GastVO BW den Fall einer Ausnahme für einzelne Betriebe durch Verwaltungsakt. Dies spricht grundsätzlich dagegen, dass allein eine wiederholte Erteilung einer Sperrzeitverkürzung über längere Zeit zu einem Anspruch auf eine Erteilung auch in Zukunft führt. Ein etwaiges Vertrauen auf die Beibehaltung der in der Vergangenheit gewählten Praxis ist im Hinblick auf den Zweck des § 12 GastVO BW, der gerade nur befristete Ausnahmen von der Sperrzeit ermöglichen soll, nicht schutzwürdig.
„Anders liegt es allerdings, wenn die Behörde mit der strittigen Entscheidung gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs 1 GG bzw. mit der Ablehnung einer beantragten Sperrzeitverkürzung gegen diesen Grundsatz verstößt. Anders (…) dürfte es auch dann liegen, wenn die Gaststättenbehörde durch jahrzehntelang wiederkehrende (allgemeine) Erteilung von Sperrzeitverkürzungen bzw. -aufhebungen an alle daran interessierten Gastronomen im Bereich eines näher bestimmten innerstädtischen Ausgehbezirks trotz Handelns in der Rechtsform der (individuellen) Ausnahme gemäß § 12 GastVO faktisch (…) für diesen Bereich die normative Wirkung einer Rechtsverordnung nach § 11 GastVO herbeiführt.“
In der Vergangenheit hatte G jahrzehntelang an B, aber auch an die übrigen im konkreten Stadtteil ansässigen Gastwirte, Sperrzeitverkürzungen erteilt und damit faktische eine normative Wirkung der durch sie festgelegten Sperrzeit herbeigeführt. Eine entsprechende Verwaltungspraxis war damit entstanden.
2. Möglicherweise konnte die G ihre Verwaltungspraxis jedoch zulässigerweise für die Zukunft abändern.
„Eine Ermessensbindung in Gestaltung einer rein tatsächlichen Verwaltungspraxis (kann) – ohne Verstoß gegen Vertrauensschutzaspekte – aus sachgerechten Erwägungen für die Zukunft geändert werden, auch wenn die Betroffenen gegenüber der bisherigen Praxis benachteiligt werden, sofern der zur Änderung der Verwaltungspraxis herangezogene Sachgrund konsequent umgesetzt wird.“
G hat allerdings keine individuelle Bewertung des Antrags der B auf Sperrzeitverkürzung vorgenommen. Insbesondere hat sie keine auf den konkreten Einzelfall bezogenen Ermessenserwägungen angestellt, sondern den Antrag allein unter Verweis auf den Beitrag der B zur Gesamtlärmbelastung abgelehnt, obwohl keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass B für sich genommen die maßgeblichen Lärmschutzwerte überschritten hat. Hinzu kommt, dass nicht sicher ist, ob durch die Versagung der Sperrzeitverkürzung gegenüber B eine Verbesserung der Lärmsituation für die Anwohner überhaupt erreicht werden kann. Im Hinblick auf die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit der B erscheint die Versagung daher unverhältnismäßig. Weniger belastend wäre beispielsweise die Versagung der Sperrzeitverkürzung nur gegenüber solchen Gaststätten im fraglichen Stadtteil, die über eine Außenbewirtschaftung verfügen und daher eine höhere Lärmbelastung für die Anwohner erzeugen. Zumindest hätte der B jedoch ein angemessener Übergangszeitraum für eine Neuausrichtung ihres Betriebskonzepts gewährt werden müssen.
3. Erforderlich ist allerdings auch insofern, dass das Vertrauen in den Fortbestand der bisherigen Verwaltungspraxis schutzwürdig ist. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn die B die tatsächlichen Gründe für die Änderung der Verwaltungspraxis kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Anhaltspunkte dafür, dass die B mit einer Änderung der Verwaltungspraxis rechnen musste, bestanden jedoch nicht.
III. Fazit
Auch wenn die Entscheidung des VGH Baden-Württemberg für die Frage nach der Selbstbindung der Verwaltung keine grundlegend neuen Erkenntnisse beinhaltet, bietet sie doch Anlass zur Wiederholung der insofern bestehenden Voraussetzungen und auch der Rechtsfolgen, die sich aus der Bindung an eine bestehende Verwaltungspraxis ergeben können. In besonderem Maße zeigt die Entscheidung jedoch erneut auf, welche Bedeutung die genaue Arbeit mit dem Sachverhalt und eine saubere Subsumtion für eine erfolgreiche Klausurbearbeitung haben.