Das BVerwG (Az. 6 C 9.20) befasste sich erneut mit dem Umfang der prüfungsrelevanten Versammlungsfreiheit. Es hatte zu prüfen, ob auch die infrastrukturellen Einrichtungen eines Protestcamps dem Schutzgehalt des Art. 8 Abs. 1 GG unterfallen. Erstmals stand nun eine höchstrichterliche Entscheidung an, nachdem die Vorinstanz Art. 8 Abs. 1 GG für einschlägig erachtete. Eine Entscheidung des BVerfG steht in diesen Fällen noch aus, es ließ in sämtlichen Eilentscheidungen eine abschließende Bewertung offen und bezeichnete dies ausdrücklich als weitgehend ungeklärt. Die Examensrelevanz dürfte daher nicht zu unterschätzen sein, bietet sich die Versammlungsfreiheit aufgrund der besonderen grundrechtlichen Verschränkungen mit dem Polizei- und Ordnungsrecht in zahlreichen Fallgestaltungen an.
I. Die zu entscheidende Sachlage
Die Klägerin meldete im August 2017 ein Klimacamp als öffentliche Versammlung unter freiem Himmel bei dem Polizeipräsidium Aachen an. Es ordnete auf Grundlage des § 15 VersG eine Ortsauflage an und wies einen benachbarten Sportplatz als Versammlungsfläche zu, dort durften Übernachtungszelte errichtet werden. Nachdem der Sportplatz belegt war, mietete die Klägerin privat ein Feld als weitere Fläche an und informierte die zuständige Behörde. Mit einer nach Beginn der Versammlung erlassenen weiteren Verfügung wurde dieses Feld als Versammlungsfläche abgelehnt, es bestehe kein Grund, diese Fläche dem vorsorglich als Versammlung bewerteten Klimacamp zugehörig zu erklären.
Hiergegen erhob die Klägerin Klage auf Feststellung, dass die Verfügung des Polizeipräsidiums Aachen rechtswidrig gewesen sei, soweit das Feld als Versammlungsfläche abgelehnt worden sei. Das VG Aachen hatte die Klage zunächst abgewiesen, das OVG Münster hat auf die Berufung hin die Entscheidung in Form eines Beschlusses nach § 130a VwGO geändert und dem Feststellungsantrag entsprochen. Nunmehr stand die Entscheidung des BVerwG über die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils an.
Die zulässige Revision wurde durch das BVerwG jedoch als unbegründet verworfen. Ausführungen zur Zulässigkeit können Sie hier nachlesen (Az. beim BVerwG 6 C 9.20). Vielmehr soll sich auf den wesentlichen materiellen Inhalt der Entscheidung beschränkt werden. Dies ist zum einen die Frage, ob das Klimacamp selbst eine Versammlung iSd. Art. 8 Abs. 1 GG war und darüber hinaus, ob auch die für das Klimacamp vorgesehenen Schlafplätze auf dem angemieteten Feld als infrastrukturelle Einrichtung vom Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG erfasst werden.
II. Protestcamps als Versammlung iSd. Art. 8 Abs. 1 GG
Bei einem Klimacamp handelt es sich um eine erst seit jüngerer Zeit auftretende Form des kollektiven Protests. Diese Protestcamps werden insbesondere durch ihre zeitliche Dauer geprägt, sie dauern von einigen Tagen bis hin zu mehreren Monaten oder sogar Jahren an. Aufgrund dieser besonderen zeitlichen Lage erwächst, anders als bei zeitlich eng begrenzten Versammlungen, ein spezifisches Bedürfnis nach Infrastruktureinrichtungen, wie etwa Sanitäreinrichtungen, Übernachtungsplätzen und Verpflegungseinrichtungen. Das Bundesverfassungsgericht, welches bisher nur im Eilrechtsschutz mit diesen Camps befasst war, hatte diese als versammlungsrechtlich weitgehend ungeklärt bezeichnet (BVerfG, Beschl. v. 28.6.2017 – 1 BvR 1387/17; Beschl. v. 21.9.2020 – 1 BvR 2152/20; Beschl. v. 30.8.2020 – 1 BvQ 94/20).
Zu der Eigenschaft des Klimacamps als Versammlung schreibt des BVerwG das Folgende:
bb. Vor dem Hintergrund des in Art. 8 GG wurzelnden Rechts des Veranstalters einer Versammlung, selbst unter anderem über deren Zeitpunkt und damit auch über deren Dauer zu bestimmen, sowie dem hieraus weithin abgeleiteten Grundsatz, dass es keine zeitlichen Höchstgrenzen für Versammlungen gibt […], steht allein der Charakter eines Protestcamps als einer auf längere Dauer angelegten Veranstaltung seiner rechtlichen Einordnung als Versammlung grundsätzlich nicht entgegen.
Im Rahmen der außerhalb des Selbstbestimmungsrechts des Veranstalters liegenden, den zuständigen Behörden und ggf. angerufenen Gerichten zustehenden rechtlichen Beurteilung, ob eine Veranstaltung den Versammlungsbegriff erfüllt […], kann eine andere Annahme in dem Fall eines Camps mit einer absehbar sehr langen, etwa auf viele Monate oder gar Jahre angelegten Dauer gerechtfertigt sein. Eine solche extrem lange Dauer kann ein Indiz dafür sein, dass mit dem Camp tatsächlich kein versammlungsspezifischer Zweck verfolgt wird. In diesem Zusammenhang kommt es auf die Erklärungen an, die der Veranstalter bei der Anmeldung oder im Rahmen von anschließenden Kooperationsgesprächen gegenüber der Versammlungsbehörde abgegeben hat. Der Veranstalter eines Protestcamps muss zwar nicht – gleichsam einem Schema gehorchend – mit der Anmeldung ein lückenloses Konzept mit konkreten Programmpunkten vorlegen […]. Seinen Angaben muss sich jedoch nach objektivem Verständnis ein auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteter kommunikativer Zweck entnehmen lassen. Da es sich bei einem Protestcamp um eine Dauerveranstaltung handelt, ist der Veranstalter gehalten, den versammlungsspezifischen Zweck im Sinne einer auf die voraussichtliche Dauer bezogenen Gesamtkonzeption zu substantiieren.
Zur Verhinderung von durch die Dauer eines Protestcamps hervorgerufenen, nicht hinnehmbaren Beeinträchtigungen von Rechten Dritter oder öffentlichen Belangen bedarf es keines Ansetzens an dem Versammlungsbegriff. Denn die Versammlungsbehörde kann das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters über die Dauer einer als Versammlung zu qualifizierenden Veranstaltung nach § 15 Abs. 1 VersammlG bei einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in angemessener Weise einschränken. Der Erlass einer die Dauer eines Protestcamps beschränkenden Verfügung stellt ein probates Mittel dar, um unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls eine praktische Konkordanz zwischen dem durch eine solche Veranstaltung ausgeübten Grundrecht der Versammlungsfreiheit und den Rechten Dritter sowie den betroffenen öffentlichen Belangen herzustellen. Dabei erlangen die letztgenannten Rechte und Belange im Rahmen der Abwägung ein umso höheres Gewicht, je länger ein Protestcamp absehbar dauern wird.“
BVerwG Urt. v. 24.5.2022 – 6 C 9.20, BeckRS 2022, 16178 Rn. 22-24
Das durchgeführte Klimacamp ist daher zurecht durch das OVG Münster als Versammlung eingeordnet worden. Unerheblich ist die zeitliche Dauer, diese lässt sich auf Ebene der Interessenabwägung in der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen.
III. Schutz der Infrastruktur des Protestcamps
Auch die infrastrukturelle Einrichtung kann dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG unterfallen. Maßgeblich für die Zuordnung von infrastrukturellen Einrichtungen ist nach Auffassung des BVerwG, ob ein funktionaler bzw. symbolischer Bezug zur Versammlung selbst besteht. Wann ein solcher Bezug vorliegt, ist hingegen umstritten:
Nach einer Ansicht ist ein derartiger Bezug zu bejahen, wenn eine inhaltliche Verknüpfung der Infrastruktureinrichtung mit der konkreten Meinungskundgabe besteht. Nach anderer Auffassung soll hingegen ausreichend sein, wenn eine solche Einrichtung für die Versammlung logistisch erforderlich ist, ein inhaltlicher Bezug sei damit erst Recht möglich, nicht aber zwingend von Nöten.
Das BVerwG schließt sich mit seiner Entscheidung, wie bereits das OVG Münster, der letztgenannten Ansicht an, dies überzeugt. Denn wenn der Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG in Bezug auf die Versammlung nicht leerlaufen soll, dann müssen auch die infrastrukturellen Einrichtungen geschützt sein, die zur Durchführung der Versammlung logistisch erforderlich sind. Anderenfalls könnte die Versammlung bereits nicht durchgeführt werden. Man stelle sich etwa vor, dass eine mehrstündige Versammlung ohne Toilettenwagen oder Imbissstände durchgeführt wird. Diese sind für die Durchführung der Versammlung letztlich nicht weniger wichtig als das Rednerpult selbst (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 16.12.1993 – 1 S 1957/93). Durch einen solchen logistischen Bezug zwischen der Einrichtung und der Durchführung der Versammlung selbst wird auch ausgeschlossen, dass Personen, die anderweitige Zwecke verfolgen und die Infrastruktur zu Versammlungszwecken nutzen, in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG einbezogen werden. Sofern ein solcher Konnex zwischen der Einrichtung und der Durchführbarkeit der Versammlung besteht, ist auch die infrastrukturelle Einrichtung selbst einschließlich ihrer Nutzung vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG erfasst.
Auch Schlafplätze und Sanitäreinrichtungen sind für die Durchführung des Protestcamps von zentraler Bedeutung. Sie sind zur Durchführung eines mehrwöchigen Protestcamps logistisch zwingend erforderlich, anderenfalls könnte dieses nicht in der Form stattfinden. Sie unterfallen daher auch unmittelbar dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG.
IV. Ausblick: Geplantes Klimacamp in Hamburg
Die Entscheidung des BVerwG stammt zwar bereits aus dem Monat Mai, nichtsdestotrotz hat jüngst die Hamburger Versammlungsbehörde mit Bescheid vom 29. Juli 2022 ein Klimacamp im Stadtpark Hamburg nur mit vielen Auflagen bestätigt. Unter anderem soll – so der Veranstalter laut einem Bericht des Spiegels – das Übernachten sowie die Versorgung mit Essen und Trinken verboten sein, darüber hinaus soll das Camp in einem anderen Stadtpark stattfinden. Derzeit läuft ein Eilverfahren vor dem VG Hamburg, dieses hat die Erwägungen des BVerwG in jedem Falle zu berücksichtigen. Zwar ist Versammlungsrecht Landesrecht, sodass die Landesversammlungsgesetze einschlägig sind, die Ausführungen des BVerwG beziehen sich jedoch explizit auf Art. 8 Abs. 1 GG, welcher ohnehin umfassend durch die zuständigen Landesbehörden zu berücksichtigen ist. Die Ausführungen des BVerwG sind damit aktueller denn je – und werden es auch für die Zukunft sein. Dass das BVerfG den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG hier reduziert und hinter dem BVerwG zurückbleibt, ist wohl kaum zu erwarten.