Wir freuen uns, einen Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) zur aktuellen Frage der Viruseindämmung per Handyortung veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit in Bonn.
Verbreitete Skepsis
Der Bundesgesundheitsminister hat recht: „Wie können wir Handydaten nutzen, um Infektionsketten nachzuvollziehen – diese Debatte müsse geführt werden“. Und sie wird ja bereits geführt. Der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Schaar erklärt: „Ein totales Tracking aller Menschen in diesem Lande würde ich, jedenfalls nach dem derzeitigen Stand, nicht für verhältnismäßig halten,“ mehr noch: „Rechtlich hochgradig problematisch, im Zweifel auch nicht zulässig, wäre nach der Verfassungsgerichtsrechtsprechung, jeden Einzelnen jede Sekunde zu tracken. Das darf sicher nicht sein.“ Er steht damit nicht allein. Der aktuelle Bundesdatenschutzbeauftragte Kelber legt nach: „Das ist für mich ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte. Auch hält Kelber die Lösung für nicht praktikabel: „Erstens wären die Daten viel zu ungenau, zweitens könnten die Betroffenen ihr Handy einfach zu Hause lassen.“ Generell gibt er zu Bedenken: „Wenn personalisierte Standortdaten in Verbindung mit der Corona-Infektion eines Betroffenen gebracht werden, dann sind das Gesundheitsdaten. Solche Daten sind sehr sensibel und dürfen nur im Ausnahmefall verarbeitet werden.“ Die Bundesjustizministerin hat entsprechende Vorstöße erstmal abgeblockt. Sie mahnt: „Das ist ein weitreichender Eingriff in die Bürgerrechte“.
Der hohe Wert des Lebens als vitale Basis aller Grundrechte
Solcherlei Skepsis kann das Bundesverfassungsgericht sicherlich nicht für sich in Anspruch nehmen. Das betont nämlich nicht weniger deutlich den überragenden Wert des Lebens als vitale Basis aller Grundrechte. Das Recht auf Leben löst Schutzpflichten des Staates aus. Und die Datenschutz-Grundverordnung erlaubt ausdrücklich die Datenverarbeitung, wo sie erforderlich ist, um lebenswichtige Interessen zu schützen (Art. 6 Abs. 1 lit. d) DS-GVO). Was ist lebenswichtiger als das Leben selbst? Unbestritten: Die Verhältnismäßigkeit ist der Kern des Datenschutzes. Aber wir stehen vor der größten Herausforderung seit dem 2. Weltkrieg. Tausende von Menschenleben sind in Gefahr, der Wohlstand von Jahrzehnten kann in Monaten zunichte gemacht werden. „Wer ein Leben rettet, der rettet die Welt“ heißt es übereinstimmend in Koran und Talmud. Auch der, der den Wert des Lebens nicht so absolut setzt, wer es abwägen will gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der wird im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, die die Kritiker so nachdrücklich einfordern, all das berücksichtigen müssen. Der wird das ja endgültige Erlöschen der Existenz vielleicht auch nur weniger, das Bedürfnis nach Sicherheit von sehr vielen mehr, und wohl auch die verhaltenssteuernde Wirkung solcher Überwachung bei einigen in die Abwägung mit einbeziehen müssen. Man kann die Verarbeitung der Handydaten problemlos auf einen kurzen Zeitraum begrenzen. Für mich und für viele ist hier das Ergebnis dieser Abwägung klar, gerade weil ich Bürgerrechte ernst nehme.
Zur Geeignetheit der Handyortung
Wenn nun Taiwan, Korea und Israel vorgemacht haben, dass durch Handytracking Infektionsketten nachgewiesen werden können, dann hat diese Maßnahme gezeigt, dass sie geeignet ist. „Bisher fehlt jeder Nachweis, dass die individuellen Standortdaten der Mobilfunkanbieter einen Beitrag leisten könnten, Kontaktpersonen zu ermitteln“, twittert dessen ungeachtet der aktuelle Bundesdatenschutzbeauftragte. Aber es braucht hier keines Nachweises, sondern es reichen Regeln vernünftigen Vermutens. Ein Medikament darf auch gegeben werden, wenn es nur vielleicht hilft, wenn man nichts Besseres zur Hand hat. Das gilt auch im Datenschutz. In die Abwägung der Verhältnismäßigkeit darf dann eben nicht eine sichere Vermeidung der Ausbreitung eingestellt werden, sondern nur die hohe oder geringe Wahrscheinlichkeit. Und wenn Standortdaten nicht reichen, dann müssen bessere Daten her. Eben darauf sollte sich die Diskussion richten: Welche Daten können wir nutzen, welche haben wir zur Verfügung, was hilft? Und diese Daten sollten dann auch genutzt werden, wann immer es hilfreich ist zur Einschränkung der Pandemie.
Auch ohne Einwilligung der von der Datenverarbeitung Betroffenen?
Und das muss auch ohne Einwilligung der Betroffenen gelten, die nun der Bundesdatenschutzbeauftragte als Alternative vorschlägt. Es kommt auf die technische Machbarkeit an, nicht auf die Bereitschaft zur Kooperation. Wer auf die Freiwilligkeit einer Tracking-App setzt, der hofft auf ein Verantwortungsbewusstsein, das bei vielen gegeben sein mag – aber sicherlich nicht bei jedem. Die Einwilligung ist nach Art. 6 Abs. 1 lit. a) DS-GVO eine alternative Möglichkeit zur Rechtfertigung, aber sie kommt eben nur ins Spiel, wenn es nicht schon nach Art. 6 Abs. 1 lit d) DS- GVO zulässig ist. Um diese Prüfung kommt der Datenschütze nicht herum.
Das Tracking als im Verhältnis zu Ausgangsbeschränkungen milderes Mittel
Wer dagegen ist, und meint, das sei alles nicht erforderlich, der muss Maßnahmen benennen, die ähnlich schnell realisiert werden können und den gleichen Nutzen versprechen. Nur dann argumentiert er juristisch legitim. Nachverfolgung ist nach den Richtlinien des Robert-Koch-Instituts ein wesentlicher Pfeiler der Seuchenbekämpfung. Neben der Verbesserung der Versorgung und dem Schutz besonders vulnerabler Gruppen ist dies das einzige, was getan werden kann. Es ist ein Bürgerrecht, nicht überwacht zu werden, aber es ist auch ein Bürgerrecht, vor der Seuche bestmöglich geschützt zu werden. Das kann nicht vor der Einwilligung der Betroffenen abhängen. Wer sagt, das helfe nicht, denn der Betroffene könne das Handy ja zuhause lassen, der bedenkt nicht, dass es eine Verpflichtung geben kann, auch das Handy mitzunehmen – oder eben zuhause zu bleiben. Gerade das Tracking macht dann Freiheit möglich, die sonst ggf. beschränkt werden müsste. Wenn es verantwortbar ist, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zu lockern, eben weil nachverfolgt werden kann – dann ist dies ein wichtiges Argument für die Verhältnismäßigkeit, denn hier ist dann Datenverarbeitung das mildere Mittel.
Standortdaten als (besonders sensible) Gesundheitsdaten?
Und Gesundheitsdaten sind diese Standortdaten sicherlich nicht. Ganz bestimmt nicht. Gesundheitsdaten werden unter der DS-GVO definiert als „personenbezogene Daten, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand hervorgehen“. Wie krank ich bin sagt mir nicht die Standortmitteilung. Und selbst wenn man hier andere Meinung ist. Art. 9 Abs. 2 lit. i) DS-GVO erlaubt ausdrücklich die Verarbeitung auch von Gesundheitsdaten, wenn sie erforderlich ist „aus Gründen des öffentlichen Interesses im Bereich der öffentlichen Gesundheit, wie dem Schutz vor schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren.“
Was bleibt?
Datenschutz lebt wie alles Recht von der gesellschaftlichen Akzeptanz. Die darf nicht verloren gehen. Jetzt müssen die gesetzlichen Grundlagen für eine zügige und effektive Bekämpfung der Pandemie geschaffen werden. Und diejenigen, denen der Datenschutz am Herzen liegt, sollten die Gesetzgebung dabei begleiten, Datennutzung zum Wohle aller und insbesondere der Schwächsten möglich zu machen, nicht abzuwehren. Mutiges Handeln ist jetzt erforderlich. Das Datenschutzrecht steht dem nicht entgegen.
Schlagwortarchiv für: Verhältnismäßigkeit
Wer das juristische Studium erfolgreich absolvieren will, muss Zusammenhänge verstehen und auch für Unbekanntes praktikable Lösungsansätze entwickeln können. Bloßes Auswendiglernen führt nicht zum Ziel. Trotzdem gilt, dass einige wesentliche Begrifflichkeiten in fast jedem Rechtsgebiet bekannt sein sollten – nicht zuletzt, um in der Klausur wertvolle Zeit einzusparen. Der Grundrechtskatalog umfasst eine überschaubare Anzahl an Begriffen, die jeder ambitionierte Student und Examenskandidat im Handumdrehen definieren können sollte. Die nachstehende Auflistung enthält diejenigen Definitionen, die für die Grundrechtsklausur notwendig sind. Wer diese beherrscht, ist für den Ernstfall bestens gewappnet:
(1) Eingriff
Nach dem sog. klassischen Eingriffsverständnis ist ein Eingriff jeder staatliche Akt, der final und unmittelbar die Rechtssphäre des Bürgers verkürzt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist. Nach dem sog. modernen Eingriffsbegriff ist ein Eingriff bereits jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.
(2) Geeignetheit
Geeignet ist eine Maßnahme, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Zwecks dienlich bzw. förderlich sein kann.
(3)Erforderlichkeit
Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn es keine milderen, den Bürger weniger belastende Mittel gibt, die zur Erreichung des verfolgten Zwecks gleich geeignet sind.
(4) Angemessenheit
Angemessen ist eine Maßnahme, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.
(5) Verfassungsmäßige Ordnung
Verfassungsmäßige Ordnung i.S.v. Art 2 Abs. 1 GG meint alle Rechtsnormen, die formell und materiell mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Beachte: Der Begriff findet sich auch in Art. 9 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG und hat in diesen Zusammenhängen andere Bedeutung!
(6) Glaube
Die Auffassung über die Stellung des Menschen in der Welt und seine Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten.
(7) Gewissen
Der Begriff meint jede ernste und sittliche, an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ orientiere Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen diese nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.
(8) Wissenschaft
Jeder ernsthafte, auf einem gewissen Kenntnisstand aufbauende Versuch zur Ermittlung der wahren Erkenntnisse durch methodisch geordnetes und kritisch reflektierendes Denken.
(9) Formeller Kunstbegriff
Danach sind Kunst nur solche Tätigkeiten, die einer traditionellen Kunstform zuzuordnen sind (Malerei, Theater, Dichtung etc.).
(10) Materieller Kunstbegriff
Kunst liegt vor, wenn das Werk das geformte Ergebnis einer freien, schöpferischen Gestaltung ist, in dem der Künstler seine Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse in einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung bringt und das auf kommunikative Sinnvermittlung nach Außen gerichtet ist.
(11) Offener Kunstbegriff
Ein Kunstwerk liegt vor, wenn das Werk interpretationsfähig und -bedürftig sowie vielfältigen
Interpretationen zugänglich ist.
(12) Meinung
Meinung ist jedes Werturteil, das durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder des Meinens geprägt ist.
(13) Tatsache
Tatsachen sind dem Beweis zugängliche Zustände oder Ereignisse. Der Wahrheitsgehalt der Äußerung steht bei der Tatsachenbehauptung im Vordergrund.
(14) Allgemeine Gesetze
Hierunter fallen alle Gesetze, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit oder die Freiheit von Presse und Rundfunk an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, welches in der Rechtsordnung allgemein geschützt wird.
(15) Presse
Der Begriff meint alle Druckerzeugnisse, die unabhängig von der Anzahl ihrer Vervielfältigung zur allgemeinen Verbreitung geeignet und bestimmt sind (Bücher, Zeitungen, Zeitschriften o.ä.).
(16) Rundfunk
Rundfunk meint jede an eine unbestimmte Vielzahl von Personen gerichtete, drahtlose oder drahtgebundene Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege elektrischer Schwingungen.
(17) Enger Versammlungsbegriff
Nach dem engen Versammlungsbegriff, den das BVerfG vertritt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.
(18) Erweiterter Versammlungsbegriff
Nach dem erweiterten Versammlungsbegriff bedeutet Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Meinungsbildung und Meinungsäußerung. Im Gegensatz zum engen Versammlungsbegriff muss die kollektive Meinungsbildung nicht auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet sein.
(19) Weiter Versammlungsbegriff
Nach dem weiten Versammlungsbegriff versteht man unter einer Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen, zwischen denen durch einen gemeinsamen Zweck eine innere Verbindung besteht. Der weite Versammlungsbegriff verzichtet auf das Merkmal der kollektiven Meinungsäußerung und Meinungsbildung und lässt jede Art von Verbundenheit der Teilnehmer ausreichen.
(20) Verein
Verein ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.
(21) Beruf
Unter Beruf ist jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit zu verstehen, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient.
(22) Berufsausübungsregelung
Eine solche liegt vor, wenn der Gesetzgeber eine reine Ausübungsregelung trifft, die auf die Freiheit der Berufswahl nicht zurückwirkt, vielmehr nur bestimmt, in welcher Art und Weise die Berufsangehörigen ihre Berufstätigkeit im Einzelnen zu gestalten haben.
(23) Subjektive Berufswahlregelung
Bei der subjektiven Berufswahlregelung wird auf persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, erworbene Abschlüsse oder erbrachte Leistungen abgestellt, wobei es nicht auf den Einfluss des Betroffenen auf die Eigenschaften ankommt.
(24) Objektive Berufswahlregelung
Bei der objektiven Berufswahlregelung erfolgt die Beschränkung der Berufsfreiheit anhand von objektiven Kriterien, die nicht in der Person des Betroffenen liegen und auf die der Betroffene keinen Einfluss hat.
(25) Freizügigkeit
Freizügigkeit umfasst das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Hierzu gehört die Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Wohnsitznahme und die Freizügigkeit zwischen Ländern, Gemeinden und innerhalb einer Gemeinde.
(26) Wohnung
Der Begriff der Wohnung meint die räumliche Privatsphäre und damit jeden Raum, den der Einzelne der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zum Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens bestimmt. Auch Betriebs- und Geschäftsräume fallen unter den Schutzbereich; wegen des teilweise erheblichen Sozialbezugs von Betriebs- und Geschäftsräumen ist grundsätzlich aber ein im Vergleich zu privaten Wohnräumen geringeres Schutzniveau anzunehmen.
(27) Eigentum
Art. 14 GG ist ein „normgeprägtes Grundrecht“, sodass der Begriff des Eigentums nur schwerlich abschließend definiert werden kann. „Eigentum“ i.S. des GG sind jedenfalls alle vermögenswerten Rechte, die die Rechtsordnung dem Einzelnen dergestalt zuweist, dass dieser ausschließlich über das Recht verfügen kann. Eigentum iSd Art. 14 GG sind alle dinglichen Rechte des Zivilrechts, Ansprüche und Forderungen des privaten Rechts.
(28) Inhalts- und Schrankenbestimmung
Unter Inhalts- und Schrankenbestimmungen ist die generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum geschützt werden, zu verstehen.
(29) Enteignung
Enteignung ist die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter, durch Art. 14 GG gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben. Die Enteignung beschränkt sich auf Vorgänge, bei denen Güter hoheitlich beschafft werden.
(30) Mittelbare Drittwirkung
Grundrechte entfalten mittelbar Wirkung in privaten Rechtsbeziehungen, indem Generalklausen und unbestimmte Rechtsbegriffe des Zivilrechts grundrechtskonform ausgelegt und angewendet werden („Ausstrahlungswirkung“).
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BVerfG: Unzulässigkeit eines pauschalen Kopftuchverbots für Lehrkräfte – Der Streit über das Kopftuch in Klassenzimmern geht in die zweite Runde in Karlsruhe
BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, VerfassungsrechtEin landesweites pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in deutschen Klassenzimmern ist verfassungswidrig. Komme es in bestimmten Schulen oder Schulbezirken durch das Tragen des Kopftuchs nicht zu einer hinreichend konkreten Gefährdung bzw. Störung des Schuldfriedens oder der staatlichen Neutralität, bestehe kein anerkennenswertes Bedürfnis, religiöse Bekundungen durch Lehrer allgemein aus dem Klassenzimmer zu verbannen. Der Erste Senat hat mit dieser Entscheidung eine Abkehr von der ersten Kopftuch-Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 2003 vorgenommen und im Rahmen der erforderlichen verfassungsrechtlichen Abwägung die Glaubensfreiheit muslimischer Lehrerinnen in der Schule deutlich stärker gewichtet als bislang. Die Gerichtsentscheidung ist mittlerweile in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte über Religion, Einwanderung und Integration geraten: Während das Urteil nach einigen Stimmen die Integration und Gleichberechtigung der Religionen fördere (Prantl auf SZ-Online), stehen andere dem Urteil verhaltener gegenüber und betonen demgegenüber die religiöse und weltanschauliche Neutralität der Schule sowie die negative Religionsfreiheit der Schüler und befürchten, dass der Streit um das Kopftuch von nun an unmittelbar in die Schule und damit auch das Klassenzimmer verlagert werde (Wefing auf Zeit-Online). Vereinzelt wird das Urteil auch schärfer und polemischer kritisiert: So wertet beispielsweise der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, Michael Bertrams, den Beschluss als Zeichen von „höchstrichterlicher Ignoranz“ (Interview auf FR-Online). Im Folgenden soll daher eine Darstellung der wesentlichen Argumentationslinien des Gerichts erfolgen.
A. Sachverhalt
Gegenstand der Entscheidung des BVerfG waren zwei Verfassungsbeschwerden zweier Lehrkräfte muslimischen Glaubens gegen letztinstanzlich ergangenen arbeitsgerichtlichen Urteile, die die Zulässigkeit von arbeitsrechtlichen Sanktionen des Landes NRW gegenüber den Beschwerdeführerinnen infolge des religiös motivierten Tragens von Kopfbedeckungen im Schuldienst bestätigten.
Grundlage für diese arbeitsrechtlichen Maßnahmen des Landes sowie die Entscheidungen der Arbeitsgerichte bildeten die Regelungen im Schulgesetz (SchulG) NRW über die Zulässigkeit und Grenzen religiöser Bekundungen durch im Schulwesen beschäftigte Personen. Die maßgebliche Vorschrift des § 57 Abs. 4 SchulG NRW lautet:
Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerinnen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich- demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. Das Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht und in den Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen.
I. Verfahren der Beschwerdeführerin zu I
Bei der ersten Beschwerdeführerin handelt es sich um eine Sozialpädagogin muslimischen Glaubens, die seit ihrem 17. Lebensjahr aus religiösen Gründen das Kopftuch trägt und seit 1997 beim Land NRW angestellt und an einer Gesamtschule beschäftigt ist, wo sie insbesondere mit der Schlichtung von Schulkonflikten befasst ist. Nach Inkrafttreten der Regelung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW wurde sie von der Schuldbehörde aufgefordert das Kopftuch während ihrer dienstlichen Tätigkeit in der Schule abzulegen. Die betroffene Beschwerdeführerin kam der Aufforderung nach, bedeckte allerdings in der Folge ihr Haar, den Haaransatz sowie die Ohren vollständig durch eine Ersatzbekleidung in Form einer rosafarbenen Baskenmütze. Die Schulbehörde erteilte der Beschwerdeführerin daraufhin eine Abmahnung und drohte zugleich eine Kündigung an, da die betroffene Lehrkraft durch das Tragen religiös motivierter Kopfbekleidung den Schulfrieden gefährde. Darüber hinaus begründete die Behörde die arbeitsrechtlichen Maßnahmen mit dem Argument, dass durch das Tragen des Kopftuchs bei den Schülern sowie deren Eltern der Eindruck entstehen könne, dass die Betroffene nicht die Werte der Menschenwürde, der Gleichberechtigung von Mann und Frau oder der freiheitlich-demokratischen Grundordnung teile.
Im arbeitsgerichtlichen Verfahren bestätigten die Arbeitsgerichte die Entscheidung der Schuldbehörde und werteten das Verhalten der Beschwerdeführerin als bewusste religiöse Kundgabe im Sinne des § 57 Abs. 4 SchulG NRW, die geeignet sei, den Schuldfrieden zu stören, da es auf die Deutung durch die Schüler oder die Eltern aus der Sicht eines objektiven Beobachters ankomme. Dem Einwand, dass die betroffene Lehrkraft das Kopftuch abgelegt habe und es sich bei der Ersatzbekleidung lediglich um eine rosafarbene Baskenmütze handle, entgegneten die Gerichte mit der Argumentation, dass das Verhalten bei einer objektiven Betrachtung dennoch als religiös motiviert anzusehen sei, da durch die Mütze Haare, Haaransatz und Ohren vollständig bedeckt würden und die Wollmütze offenkundig das bislang von der Lehrkraft getragene Kopftuch ersetzen solle. Nach Ansicht der Gerichte könne das Verbot durch die ihrer Auffassung nach verfassungsrechtlich zulässige Norm des § 57 SchulG gerechtfertigt werden, da der Gesetzgeber eine Einschätzungsprägorative habe und dementsprechend auch weit reichende Regelungen treffen könne, um den Schulfrieden und die religiöse Neutralität zu sichern. Darüber hinaus sei § 57 Abs. 4 SchulG auch nicht deshalb verfassungsrechtlich unzulässig, weil die Norm in Satz 3 eine Darstellung christlicher sowie abendländischer Bildungs- und Kulturwerte zulasse. Eine religiöse Ungleichbehandlung liege nämlich deswegen nicht vor, weil die Darstellung derartiger Werte mit einer Erörterung und Diskussion verbunden sei und daher nicht mit der Kundgabe eines individuellen religiösen Bekenntnisses gleichzusetzen sei, die durch die Norm verhindert werden solle. Zudem bezeichne der Begriff des „Christlichen“ – unabhängig von seiner Herkunft aus dem religiösen Bereich – Werte, die aus der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangen seien und auch dem Grundgesetz zugrunde liegen.
II. Verfahren der Beschwerdeführerin zu II
Bei der Beschwerdeführerin zu II. handelt es sich ebenfalls um eine muslimische Lehrkraft, die aufgrund für verbindlich erachteter religiöser Vorschriften ein Kopftuch trägt und dieses auch im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit nicht ablegt. Die Betroffene war als Lehrerin beim Land NRW angestellt und unterrichtete an verschiedenen Schulen muttersprachlichen Unterricht in türkischer Sprache an dem stets nur muslimische Schüler teilnahmen. Im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit hatte es bislang nie Beanstandungen wegen ihres Kopftuchs gegeben. Nach einer Information durch den Schulleiter, dass mit dem Inkrafttreten der Regelung des § 57 SchulG NRW das Tragen des Kopftuchs nicht mehr mit den gesetzlichen Vorgaben vereinbar sei, hielt die Beschwerdeführerin jedoch weiter an der religiös motivierten Bekleidung fest. In der Folge wurde sie durch ihrer Arbeitgeber, das Land NRW, allerdings mit der Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen abgemahnt. Die Beschwerdeführerin kam jedoch auch dieser Aufforderung nicht nach und wurde schlussendlich aus dem Schuldienst entlassen. Die gegen die Kündigung eingelegten Rechtsmittel hatten keinen Erfolg, da die Arbeitsgerichte auch diese arbeitsrechtlichen Maßnahmen des Landes NRW bestätigten.
B. Rechtliche Würdigung durch das BVerfG
I. Verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab
Zu beachten ist, dass bei beiden Verfahren unmittelbarer Angriffsgegenstand der Verfassungsbeschwerde eine mögliche Grundrechtsverletzung durch die letztinstanzliche arbeitsgerichtliche Entscheidung ist. Die Verfassungsbeschwerden richten sich folglich gegen Akte der rechtsprechenden Gewalt in Form von Gerichtsurteilen, so dass es sich um sogenannte Urteilsverfassungsbeschwerden handelt (vertiefend zur Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Prüfung Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 178ff.). Zwar nimmt das BVerfG grundsätzlich eine umfassende Prüfung der behaupteten Grundrechtsverletzung vor, hat dabei allerdings nicht die Funktion einer Superrevisionsinstanz (BVerfGE 1, 418 (420); 18, 85 (92)), die die Urteile der Fachgerichte auf ihre Vereinbarkeit mit dem einfachen Recht kontrolliert. Das BVerfG ist vielmehr in seinen Kompetenzen auf eine Überprüfung spezifischen Verfassungsrechts, also grundrechtsrelevante Fehler, beschränkt. Die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts ist beim außerordentlichen Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde folglich nicht einer Kontrolle durch das BVerfG zugänglich. So führt das BVerfG in seiner maßgeblichen Entscheidung auch aus:
Andererseits würde es dem Sinn der Verfassungsbeschwerde und der besonderen Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht werden, wollte dieses ähnlich wie eine Revisionsinstanz die unbeschränkte rechtliche Nachprüfung von gerichtlichen Entscheidungen um deswillen in Anspruch nehmen, weil eine unrichtige Entscheidung möglicherweise Grundrechte des unterlegenen Teils berührt. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen… Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen. (BVerfGE 18, 85 (92)).
II. Eröffnung des Schutzbereich
1. Besonderheiten von Sonderrechtsverhältnissen
Fraglich ist allerdings, ob sich die beiden Lehrkräfte im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit überhaupt auf grundrechtlich gewährleistete Freiheiten berufen und somit ein Recht auf Tragen des Kopftuchs herleiten können. Dagegen könnte sprechen, dass es sich bei der vorliegenden Sachverhaltskonstellation um ein sogenanntes Sonderrechtsverhältnis handelt, bei dem eine besondere Beziehung des Betroffenen zum Staat besteht, die hinsichtlich ihrer Intensität vom gewöhnlichen Staat-Bürger-Verhältnis abweicht (Instruktiv zu den Problemen derartiger Sonderstatutverhältnisse v. Kielmannsegg, Das Sonderstatutverhältnis, in: JA 2012, 881ff.). Charakteristikum derartiger Sonderstatutverhältnisse ist gerade eine Eingliederungslage, bei der die Betroffenen eine besonders enge Beziehung zum Staat aufweisen. So handeln beispielsweise Lehrer im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit als Amtsträger und treten folglich als Teil der staatlichen Organisation auf. Als typische Sonderrechtsverhältnisse sind vor allem das Beamten-, Soldaten-, Schülern- oder Strafgefangenenverhältnis zum Staat zu identifizieren. Hier waren die betroffenen Lehrkräfte zwar nicht verbeamtet, sondern lediglich Angestellte im öffentlichen Dienst, allerdings ist auch diese Beziehung von den dargelegten Besonderheiten gekennzeichnet. Bis zur Strafgefangenenentscheidung des BVerfG sollten die Grundrechte nach der von der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik übernommenen Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis in derartigen Verhältnissen nur eingeschränkt Geltung finden, so dass insbesondere der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes nicht zur Anwendung kommen sollte. In seiner Entscheidung in BVerfGE 33, 1 ff. hat das BVerfG jedoch bereits in den Leitsätzen festgestellt, dass aufgrund der in Art. 1 Abs. 3 GG angeordneten lückenlosen Grundrechtsbindung aller Staatsgewalt, die Grundrechte auch in Sonderrechtsverhältnisses nur durch oder aufgrund eines Gesetzes einschränkbar sind. Lehrerinnen geben somit ihre Grundrechte nicht an der Tür zum Klassenzimmer ab, sondern können sich daher auch gegenüber dem Land auf ihre grundrechtlich geschützten Freiheiten berufen. Das BVerfG geht daher in seinem Beschluss vom 27. Januar auch nur noch kurz auf diese Besonderheiten ein:
Die Beschwerdeführerinnen können sich auch als Angestellte im öffentlichen Dienst auf ihr Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. Die Grundrechtsberechtigung der Beschwerdeführerinnen wird durch ihre Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich der Schule nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt….
2. Gewährleistungsumfang von Art. 4 GG
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisten nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG und der sich dieser Auslegungsvariante anschließenden Literatur das einheitliche Grundrecht der Glaubensfreiheit (BVerfGE 24, 236 (245); 32, 98 (106); 33, 23 (30); zuletzt BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10 – Rn. 85. Aus der Literatur dazu nur Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Art. 4 Rn.10. Vgl. zur Gegenansicht, die die Freiheitsrechte in mehrere Einzelgrundrechte untergliedern will, u.a. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rn. 5ff. und Muckel, in: Berl. Kommentar GG, Art. 4 Rn. 33).
Der Schutzbereich der Glaubensfreiheit wird dabei denkbar weit verstanden, so nicht das Forum Internum, also die Möglichkeit, einen Glauben zu bilden und zu haben, sondern auch das Forum Externum gewährleistet ist, so dass auch die Freiheit seinen Glauben auszuleben, geschützt wird (Tillmanns, Die Religionsfreiheit, Jura 2004, 619 (622)). Die vorherrschende Meinung legt die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete Glaubensfreiheit dabei derart extensiv aus, dass jedes religiös oder weltanschaulich motivierte Handeln vom Schutzbereich erfasst ist: So enthält Art. 4 GG das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. An diese Leseart knüpft das BVerfG auch im vorliegenden Beschluss an und stellt das religiös motivierte Tragen eines Kopftuches unter den Schutz des Grundrechts der Glaubensfreiheit.
Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben (vgl. BVerfGE 24, 236 (247 f.); 108, 282 (298 f.)). Dies bedeutet jedoch nicht, dass jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck der Glaubensfreiheit angesehen werden muss. Die staatlichen Organe dürfen prüfen und entscheiden, ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass sich das Verhalten tatsächlich nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung in plausibler Weise dem Schutzbereich des Art. 4 GG zuordnen lässt, also tatsächlich eine als religiös anzusehende Motivation hat. Dem Staat ist es indes verwehrt, derartige Glaubensüberzeugungen seiner Bürger zu bewerten oder gar als „richtig“ oder „falsch“ zu bezeichnen;…
Die Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, können sich dafür auch bei der Ausübung ihres Berufs in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule, aber auch für das Tragen einer sonstigen Bekleidung, durch die Haare und Hals nachvollziehbar aus religiösen Gründen bedeckt werden, auf den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen.
III. Grundrechtseingriff
Das BVerfG ordnet die auf § 57 Abs. 4 SchulG gestützte und von den Arbeitsgerichten bestätigte Untersagung des Kopftuchs, in Verbindung mit den getroffenen arbeitsrechtlichen Sanktionen, vor dem Hintergrund der von beiden Frauen für verbindlich erachteten Glaubensvorschriften als besonders schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG gewährleistete Grundrecht der Glaubensfreiheit ein.
Die Beschwerdeführerinnen berufen sich nicht nur auf eine religiöse Empfehlung, deren Befolgung für die einzelnen Gläubigen disponibel oder aufschiebbar ist. Vielmehr haben sie plausibel dargelegt, dass es sich für sie – entsprechend dem Selbstverständnis von Teilen im Islam… – um ein imperatives religiöses Bedeckungsgebot in der Öffentlichkeit handelt, das zudem nachvollziehbar ihre persönliche Identität berührt (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), so dass ein Verbot dieser Bedeckung im Schuldienst für sie sogar den Zugang zum Beruf verstellen kann (Art. 12 Abs. 1 GG). Dass auf diese Weise derzeit faktisch vor allem muslimische Frauen von der qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Pädagoginnen ferngehalten werden, steht zugleich in einem rechtfertigungsbedürftigen Spannungsverhältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG). Vor diesem Hintergrund greift das gesetzliche Bekundungsverbot in ihr Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit trotz seiner zeitlichen und örtlichen Begrenzung auf den schulischen Bereich mit erheblich größerem Gewicht ein, als dies bei einer religiösen Übung ohne plausiblen Verbindlichkeitsanspruch der Fall wäre.
IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
Möglicherweise könnte der Eingriff in die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der betroffenen Lehrerinnen allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
1. Schrankenproblematik des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
Problematisch ist jedoch, dass das Grundrecht der Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG keinen geschriebenen Gesetzesvorbehalt enthält, dem Wortlaut nach folglich vorbehaltlos gewährleistet ist. Fraglich ist somit, inwieweit das Grundrecht der Glaubensfreiheit überhaupt einschränkbar ist. Bei der Beantwortung dieser Frage besteht in der Staatsrechtslehre grundsätzlich Einigkeit darüber, dass auch ein dem Wortlaut nach vorbehaltlos garantiertes Grundrecht nicht schrankenlos gewährleistet werden kann. Im Rahmen von Art. 4 GG ist jedoch umstritten, unter welchen Voraussetzungen eine solche Einschränkung möglich ist:
Eine heute nur noch vereinzelt vertretene Meinung spricht sich für das Modell einer Schrankenleihe aus und will die Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) durch die Schranke des Art. 2 Abs.1 GG einschränken, während zur Begrenzung der Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) die Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG herangezogen werden soll (vgl. dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rn. 90, 114). Dieser Anspricht steht allerdings entschieden die Spezialität der Einzelfreiheitsrechte entgegen, die jeweils einer eigenen Schrankenregelung unterliegen. Darüber hinaus birgt eine Schrankenleihe insbesondere die Gefahr, die sich aus dem GG ergebende Schrankensystematik zu nivellieren (Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Art. 4 Rn. 85).
Das BVerwG und ein immer größer werdender Anteil der Literatur vertreten demgegenüber die Auffassung, dass das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV einem geschrieben Gesetzesvorbehalt unterliege und daher unter den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze gestellt werde (vgl. dazu BVerwGE 112, 227 (231ff.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4 Rn. 28; Mager, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 4 Rn. 48ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Art. 4 Rn.87f.). Zur Begründung wird insbesondere das Argument herangezogen, dass wenn nach Maßgabe des Art. 136 Abs.1 WRV die staatsbürgerlichen Rechtspflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht beschränkt oder bedingt werden, diese auch als Schranken der Religionsfreiheit wirken müssten.
Das BVerfG und die sich seiner Rechtsprechung anschließende Literatur lehnen hingegen seither die Anwendbarkeit des Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke ab und sehen die Norm aufgrund der besonderen Bedeutung der Glaubensfreiheit vielmehr als durch Art. 4 GG überlagert an. Stattdessen könne ein Eingriff in das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit vielmehr nur durch verfassungsimmanente Schranken, also durch das Wertesystem des GG selbst, gerechtfertigt werden (BVerfGE 28, 243 (261); 33, 23 (33); Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 136 WRV Rn. 54; Morlok, in: Dreier, GG, Art. 4 Rn.111f.). Zwischen den sich widerstreitenden Verfassungsgütern sei schließlich im Wege der praktischen Konkordanz ein möglichst schonender und wechselseitiger Ausgleich herbeizuführen.
(Anmerkung in einer Klausur müsste man argumentativ zu den beiden Ansichten Stellung beziehen. Vgl. dazu überblicksartig Epping, Grundrechte, Rn. 316ff.).
Das BVerfG hält auch im vorliegenden Beschluss an dieser Auffassung fest und zählt den staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 GG) – der unter Wahrung der Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates zu erfüllen ist -, die durch Art. 4 Abs.1, 2 GG gewährleistete negative Glaubensfreiheit der Schüler sowie das elterliche Erziehungsrecht nach Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1, 2 GG als verfassungsimmanente Schranken auf, als deren Ausprägung § 57 Abs. 4 SchulG NRW angesehen werden könne:
Einschränkungen dieses Grundrechts müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil Art. 4 Abs. 1 und 2 GG keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 28, 243 (260 f.); 41, 29 (50 f.)…). Als mit der Glaubensfreiheit in Widerstreit tretende Verfassungsgüter kommen hier neben dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG), der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) und die negative Glaubensfreiheit der Schüler (Art. 4 Abs. 1 GG) in Betracht…
2. Schranken-Schranken
Zwar ist mit § 57 Abs. 4 SchulG NRW eine gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der betroffenen Lehrerinnen gegeben, allerdings muss diese selbst verfassungskonform sein und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen.
a) Zweck und Geeignetheit der Regelung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW
Das durch § 57 Abs. 4 SchulG etablierte Verbot äußerer religiöser Bekunden verfolgt nach Ansicht des BVerfG einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck:
Sein Anliegen ist es, den Schulfrieden und die staatliche Neutralität zu wahren, so den staatlichen Erziehungsauftrag abzusichern, gegenläufige Grundrechte von Schülern und Eltern zu schützen und damit Konflikten in dem von ihm in Vorsorge genommenen Bereich der öffentlichen Schule von vornherein vorzubeugen (vgl. LTDrucks 14/569, S. 7 ff.). Gegen diese Zielsetzungen ist von Verfassungs wegen offensichtlich nichts zu erinnern.
Darüber hinaus ist das lückenlose Verbot auch ein geeignetes Mittel zur Verwirklichung der verfassungsimmanenten Schranken der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der betroffenen Lehrkräfte.
b) Erforderlichkeit der Regelung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW
Fraglich ist jedoch, ob die Regelung im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch erforderlich war. Dies ist entsprechend dem Gebot des geringsten Eingriffs dann der Fall, wenn kein milderes Mittel existiert, welches den mit der Regelung verfolgten Zweck ebenso gut bzw. effektiv verwirklichen kann (Hufen, §9 Rn.21). Unter mehreren gleich geeigneten Mitteln muss der Staat folglich das mildeste Mittel wählen. Das BVerfG äußert in seinem Beschluss bereits Zweifel hinsichtlich der Erforderlichkeit der Regelung des § 57 Abs. 4 SchulG NRW, die nach der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte bereits die abstrakte Eignung äußerer religiöser Bekundungen zur Gefährdung des Schulfriedens genügen lässt, belässt es jedoch bei einer Andeutung und führt diese nicht weiter aus, da die Regelung in der maßgeblichen Deutung durch die Gerichte im Fall von für verbindlich erachteten religiösen Bekleidungsvorschriften jedenfalls als unverhältnismäßig im engeren Sinn einzuordnen sei.
c) Angemessenheit der Regelung
Das BVerfG erachtet die durch die Verbotsnorm des § 57 Abs. 4 SchulG NRW getroffene Regelung mithin nicht mehr für angemessen: Nach Ansicht des BVerfG erfordert nämlich ein angemessener Ausgleich der gegenläufigen verfassungsrechtlichen Positionen für den Fall, dass das grundrechtlich geschützte Verhalten der Lehrkräfte auf ein für verbindlich erachtetes religiöses Gebot zurückzuführen ist, dahingehend eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm des § 57 Abs. 4 SchulG NRW, dass zumindest eine konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss. Zwar seien bei der Prüfung der Angemessenheit auch gegenläufige verfassungsrechtlich geschützten Positionen, wie die negative Glaubensfreiheit der Schüler, das elterliche Erziehungsrecht oder die Pflicht zur religiösen Neutralität des Staates zu berücksichtigen, allerdings müsse der Gesetzgeber im Rahmen der ihm zustehenden Einschätzungsprägorative insbesondere auch die Grenze der Zumutbarkeit berücksichtigen. Keine dieser der Glaubensfreiheit gegenläufigen Positionen sei allerdings derart hoch zu gewichten, dass bereits die abstrakte Gefahr ihrer Beeinträchtigung ein Verbot des Tragens religiös konnotierter Bekleidung rechtfertigen könne, wenn diese Bekleidung nachvollziehbar auf ein als bindend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen sei.
aa ) Negative Glaubensfreiheit
Die negative Glaubensfreiheit… gewährleistet die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben; … Die Einzelnen haben in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, allerdings kein Recht darauf, von der Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen sich dieser manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist (vgl. BVerfGE 93, 1 (15 f.)). In einer unausweichlichen Situation befinden sich Schülerinnen und Schüler zwar auch dann, wenn sie sich infolge der allgemeinen Schulpflicht während des Unterrichts ohne Ausweichmöglichkeit einer vom Staat angestellten Lehrerin gegenüber sehen, die ein islamisches Kopftuch trägt. Im Blick auf die Wirkung religiöser Ausdrucksmittel ist allerdings danach zu unterscheiden, ob das in Frage stehende Zeichen auf Veranlassung der Schulbehörde oder aufgrund einer eigenen Entscheidung von einzelnen Pädagoginnen und Pädagogen verwendet wird, die hierfür das individuelle Freiheitsrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Anspruch nehmen können. Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin oder einer pädagogischen Mitarbeiterin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen (vgl. BVerfGE 108, 282 (305 f.)).
…Solange die Lehrkräfte, die nur ein solches äußeres Erscheinungsbild an den Tag legen, nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben und die Schülerinnen und Schüler über ihr Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versuchen, wird deren negative Glaubensfreiheit grundsätzlich nicht beeinträchtigt. Die Schülerinnen und Schüler werden lediglich mit der ausgeübten positiven Glaubensfreiheit der Lehrkräfte in Form einer glaubensgemäßen Bekleidung konfrontiert, was im Übrigen durch das Auftreten anderer Lehrkräfte mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen wird…
bb) Elterliches Erziehungsrecht
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG … umfasst zusammen mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht; daher ist es zuvörderst Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten … Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern als falsch oder schädlich erscheinen … Jedoch enthält Art. 6 Abs. 2 GG keinen ausschließlichen Erziehungsanspruch der Eltern. Eigenständig und in seinem Bereich gleichgeordnet neben den Eltern übt der Staat, dem nach Art. 7 Abs. 1 GG die Aufsicht über das gesamte Schulwesen übertragen ist, in der Schule einen eigenen Erziehungsauftrag aus …
Ein etwaiger Anspruch, die Schulkinder vom Einfluss solcher Lehrkräfte fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgen, lässt sich aus dem Elterngrundrecht danach nicht herleiten, soweit dadurch die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler nicht beeinträchtigt ist.
cc) Staatlicher Erziehungsauftrag und Pflicht zur religiösen Neutralität
Darüber hinaus steht auch der staatliche Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG), der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, der Betätigung der positiven Glaubensfreiheit der Pädagoginnen durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs nicht generell entgegen…
Das Grundgesetz begründet für den Staat … die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität… Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten…und darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren … Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet von Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen…
Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist indessen nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung…Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen…mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren…
Dies gilt auch für den … Bereich der Schule…Danach sind etwa christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht ausgeschlossen; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein. Weil Bezüge zu verschiedenen Religionen und Weltanschauungen bei der Gestaltung der öffentlichen Schule möglich sind, ist für sich genommen auch die bloß am äußeren Erscheinungsbild hervortretende Sichtbarkeit religiöser oder weltanschaulicher Zugehörigkeit einzelner Lehrkräfte… nicht ohne Weiteres ausgeschlossen.
dd) Verfassungskonforme Auslegung des § 57 Abs. 4 SchulG
Davon ausgehend ist das… an eine bloß abstrakte Gefährdung der in § 57 Abs. 4 Satz 1 SchulG NW genannten Schutzgüter anknüpfende strikte und landesweite Verbot einer äußeren religiösen Bekundung jedenfalls für die hier gegebenen Fallkonstellationen den betroffenen Grundrechtsträgerinnen nicht zumutbar und verdrängt in unangemessener Weise deren Grundrecht auf Glaubensfreiheit. Denn mit dem Tragen eines Kopftuchs durch einzelne Pädagoginnen ist – anders als dies beim staatlich verantworteten Kreuz oder Kruzifix im Schulzimmer der Fall ist (vgl. BVerfGE 93, 1 (15 ff.)) – keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben verbunden. Auch eine Wertung in dem Sinne, dass das glaubensgeleitete Verhalten der Pädagoginnen schulseits als vorbildhaft angesehen und schon deshalb der Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gefährdet oder gestört werden könnte, ist einer entsprechenden Duldung durch den Dienstherrn nicht beizulegen. Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführerinnen einem nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen Glaubensgebot Folge leisten…
Anders verhält es sich dann, wenn das äußere Erscheinungsbild von Lehrkräften zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität führt oder wesentlich dazu beiträgt. Dies wäre etwa in einer Situation denkbar, in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und in einer Weise in die Schule hineingetragen würden, welche die schulischen Abläufe und die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags ernsthaft beeinträchtigte, sofern die Sichtbarkeit religiöser Überzeugungen und Bekleidungspraktiken diesen Konflikt erzeugte oder schürte. Bei Vorliegen einer solchermaßen begründeten hinreichend konkreten Gefahr ist es den grundrechtsberechtigten Pädagoginnen und Pädagogen mit Rücksicht auf alle in Rede und gegebenenfalls in Widerstreit stehenden Verfassungsgüter zumutbar, von der Befolgung eines nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen religiösen Bedeckungsgebots Abstand zu nehmen, um eine geordnete, insbesondere die Grundrechte der Schüler und Eltern sowie das staatliche Neutralitätsgebot wahrende Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags sicherzustellen. Aber auch dann wird die Dienstbehörde im Interesse des Grundrechtsschutzes der Betroffenen zunächst eine anderweitige pädagogische Verwendungsmöglichkeit mit in Betracht zu ziehen haben.
Wird in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten bereichsspezifisch die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht, kann ein verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, äußere religiöse Bekundungen nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden. Einer solchen Situation kann der Gesetzgeber insoweit auch vorbeugend … durch bereichsorientierte Lösungen Rechnung tragen… Solange der Gesetzgeber dazu aber keine differenziertere Regelung trifft, kann eine Verdrängung der Glaubensfreiheit von Lehrkräften nur dann als angemessener Ausgleich der in Rede stehenden Verfassungsgüter in Betracht kommen, wenn wenigstens eine hinreichend konkrete Gefahr für die staatliche Neutralität oder den Schulfrieden belegbar ist.
Infolge dessen, dass der Eingriff in die grundrechtlich geschützte Glaubensfreiheit der beiden Lehrkräfte nach Ansicht der die Entscheidung tragenden Richter nicht gerechtfertigt werden kann, ist die Verfassungsbeschwerde mithin begründet.
C. Religionsrechtliche Gleichbehandlung
Bislang weniger beachtet wurden auch die Aussagen zum Paritätsgrundsatz im Beschluss des Ersten Senats. So stellt nach Ansicht des Senats die Privilegierungsbestimmung des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NRW zugunsten der Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte eine nicht zu rechtfertigende und damit gleichheitswidrige Benachteiligung aus Gründen des Glaubens und der religiösen Anschauungen dar:
Eine solche Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Werden äußere religiöse Bekundungen durch das pädagogische Personal in der Schule untersagt, so muss dies grundsätzlich unterschiedslos geschehen.
Tragfähige Gründe für eine Benachteiligung äußerer religiöser Bekundungen, die sich nicht auf christlich-abendländische Kulturwerte und Traditionen zurückführen lassen, sind nicht erkennbar. Soweit von einem bestimmten äußeren Verhalten etwa eine besondere indoktrinierende Suggestivkraft ausgehen kann, wird dem ohne Weiteres durch das Verbot des Satzes 1 des § 57 Abs. 4 SchulG NW in der von Verfassungs wegen gebotenen einschränkenden Auslegung Rechnung getragen… Ebenso wenig ergeben sich für eine Bevorzugung christlich und jüdisch verankerter religiöser Bekundungen tragfähige Rechtfertigungsmöglichkeiten. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags, wie er in Art. 7 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 3 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen umschrieben ist, rechtfertigt es nicht, Amtsträger einer bestimmten Religionszugehörigkeit bei der Statuierung von Dienstpflichten zu bevorzugen….
Eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des Satzes 3 von § 57 Abs. 4 SchulG NW, wie sie das Bundesarbeitsgericht zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Benachteiligung aus religiösen Gründen seinen Entscheidungen zugrunde gelegt hat, ist nicht möglich. Sie würde die Grenzen verfassungskonformer Norminterpretation überschreiten und wäre mit der richterlichen Gesetzesbindung nicht vereinbar (Art. 20 Abs. 3 GG)….Das Bundesarbeitsgericht hat darauf abgestellt, dass die „Darstellung“ christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte im Sinne des Satzes 3 nicht gleichzusetzen sei mit der „Bekundung“ eines individuellen Bekenntnisses im Sinne des Satzes 1. Zudem bezeichne der Begriff des „Christlichen“ eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zugrunde liege und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beanspruche.
Zwar mag der unterschiedliche Sprachgebrauch in Satz 1 („Bekundungen“) und Satz 3 („Darstellung“) einen Ansatz für die vom Bundesarbeitsgericht gefundene Auslegung bieten…..Gleichwohl wurde ebenso wie von den Gesetzesinitiatoren auch im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens die Absicht gehegt, jedenfalls keine Regelung zu treffen, die beispielsweise Lehrerinnen das Unterrichten in einem Ordenshabit verbietet oder das Tragen der jüdischen Kippa untersagen sollte (LTDrucks 14/569, S. 9). Insofern folgerichtig hat der Gesetzgeber die Regelung des § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW ausdrücklich auf das Bekundungsverbot des Satzes 1 bezogen und diese gesetzgebungstechnisch als Ausnahme konstruiert. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass Satz 3 in seinem Wortlaut zwar den Erziehungsauftrag der Landesverfassung insgesamt erwähnt, dann aber nur die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen vom Verhaltensgebot des Satzes 1 ausnimmt. Die im Wortlaut der Verfassungsbestimmung des Art. 12 Abs. 3 Satz 1 Verf NW daneben ausdrücklich erwähnte Offenheit auch für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen wird indessen außer Acht gelassen und nicht mehr aufgeführt. All das verdeutlicht, dass die vom Bundesarbeitsgericht gefundene einschränkende Auslegung der Vorschrift deren normativen Gehalt im Grunde neu bestimmt und damit auch den im Gesetzgebungsverfahren klar erkennbar hervorgetretenen Willen des Gesetzgebers nicht mehr trifft. Dieser Wille hat sich nicht durch die vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens erfolgte Erörterung der Möglichkeit einer anderen Auslegung verändert; diese lässt lediglich erkennen, dass der Landtag sich des verfassungsrechtlichen Risikos bewusst war.
D. Sondervotum der Richter Schluckebier und Herrmanns
Der Beschluss des ersten Senats des BVerfG wird allerdings von zwei Richtern nicht mitgetragen, die ihre abweichende Position hinsichtlich des Ergebnisses sowie der Begründung der Entscheidung in einem Sondervotum darlegen und dem Senat darin insbesondere vorwerfen, die der Glaubensfreiheit der Pädagoginnen entgegenstehenden verfassungsrechtlich geschützten Positionen – die negative Glaubensfreiheit der Schüler, das elterliche Erziehungsrecht sowie der staatliche Erziehungsauftrag, der unter Beachtung der Pflicht zur religiösen Neutralität durchzuführen ist – nicht hinreichend berücksichtigt zu haben. Gerade wenn die mit dem Tragen religiös motivierter Bekleidung verbundene Bekundungswirkung wie hier eine besondere Intensität erlange, sei die vom Senat geforderte einschränkende Auslegung des § 57 Abs.4 SchulG NRW verfassungsrechtlich gerade nicht geboten.
I. Zum Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers
Zum einen stehe dem Gesetzgeber nach dem ersten „Kopftuch-Urteil“ des Zweiten Senats des BVerfG ein weiter gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung der Konfliktlage zu, der der Entscheidung hätte zugrunde gelegt werden müssen und die der Senat stattdessen für nicht entscheidungserheblich erachtet habe:
Die bekenntnisoffene öffentliche Gemeinschaftsschule ist durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen … gekennzeichnet, deren Freiheitsgewährleistung im Alltag auch das Tragen religiös konnotierter Bekleidung umfasst. Der Erziehungsauftrag des Staates, den er in fördernder und wohlwollender Neutralität gegenüber den unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Richtungen wahrzunehmen hat, erfordert im Blick auf Pädagogen, die in der Schule von ihrer individuellen Glaubensfreiheit Gebrauch machen, in der Ausgestaltung einen angemessenen und schonenden Ausgleich zwischen den betroffenen verfassungsrechtlichen Positionen. Diesen Ausgleich hat in den wesentlichen Fragen der Gesetzgeber vorzugeben. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war davon auszugehen, dass das Grundgesetz den Ländern im Schulwesen umfassende Gestaltungsfreiheit belässt; auch in Bezug auf die weltanschaulich-religiöse Ausprägung der öffentlichen Schulen hat Art. 7 GG danach die weitgehende Selbstständigkeit der Länder und im Rahmen von deren Schulhoheit die grundsätzlich freie Ausgestaltung der Pflichtschule im Auge… Diese den Ländern bisher zugestandene weitgehende Gestaltungsfreiheit für das Schulwesen schließt nach dem Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003 (BVerfGE 108, 282ff. ) bei der Ausgestaltung des Erziehungsauftrags die Möglichkeit ein, der staatlichen Neutralität im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß auch durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fernzuhalten, um Konflikte … von vornherein zu vermeiden (vgl. BVerfGE 108, 282 (310)). Es ist demnach zunächst Sache des Landesgesetzgebers, darüber zu befinden, wie er den schonenden Ausgleich bei der Gestaltung des Erziehungsauftrags im multipolaren Grundrechtsverhältnis der Schule findet…
Im Rahmen dieser gesetzgeberischen Einschätzungsprägorative habe der Gesetzgeber auch die Möglichkeit, bereits vorbeugend einer religiösen Beeinflussung durch Lehrkräfte entgegenzutreten, um potentielle Konflikte zu verhindern. Ein derartiger Gestaltungsspielraum stehe zudem auch im Einklang mit den zu berücksichtigenden Vorgaben der EMRK, da der EGMR den Mitgliedstaaten ebenfalls einen erheblichen Beurteilungsspielraum zugestanden habe.
II. Zur Verhältnismäßigkeit der Regelung
Darüber wird von den dissertierenden Richtern auch die vom Senat vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung angegriffen. Nach Ansicht der Richter Schluckebier und Herrmanns werden insbesondere die der Glaubensfreiheit der Lehrerinnen entgegenstehenden Grundrechte der Schüler sowie der Eltern nicht ausreichend berücksichtigt. In ihrem Sondervotum setzen sie sich daher insbesondere mit der besonderen Stellung des Lehrers sowie dem Abhängigkeitsverhältnis der Schüler auseinander:
Damit ist die Betroffenheit von Schülerinnen und Schülern sowie von Eltern in ihrer negativen Glaubensfreiheit sowie im Elterngrundrecht nur unzureichend erfasst und gewichtet. Diese Bewertung halten wir für nicht realitätsgerecht. Sie vernachlässigt, dass das Schüler-Pädagogen-Verhältnis ein spezifisches Abhängigkeitsverhältnis ist, dem Schüler und Eltern unausweichlich und nicht nur flüchtig ausgesetzt sind. Das Maß der Betroffenheit unterscheidet sich grundlegend von dem, das beim Zusammentreffen verschiedener religiöser Bekenntnisse und Bekundungen im gesellschaftlichen Alltag gegeben ist… In jedem Falle sind solche Berührungen in der Regel nur punktuell und nicht von nennenswerter Dauer. Schon das unterscheidet sie von der Begegnung und Konfrontation in der Schule, der die Schüler sich nicht entziehen können und bei der die Nichtteilnahme am Unterricht sogar sanktioniert ist. Schüler können also hier den Lehrpersonen und ihren Überzeugungen nicht aus dem Weg gehen. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler zu unterrichten, zu erziehen, zu beraten, zu beurteilen, zu beaufsichtigen und zu betreuen (§ 57 Abs. 1 SchulG NW). Daraus erhellt sich auch das besondere Abhängigkeitsverhältnis zwischen Schülern und Pädagogen, die über die Versetzung und einen erfolgreichen Schulabschluss mitbefinden. Sie können schon deshalb nicht mit beliebigen Personen aus der Gesellschaft verglichen werden, die von den Schülerinnen und Schülern lediglich angeschaut werden und deren Auffassung diese ertragen müssen; vielmehr treten sie in der Schule als Autoritätsperson auf
Den Pädagogen kommt in der Schule im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern zudem eine Vorbildfunktion zu. Die gewollte erzieherische Einwirkung löst in der Regel bei Schülern und mittelbar auch bei deren Eltern irgendeine Form der Reaktion aus. Von religiösen Bekundungen durch das Tragen religiös konnotierter Bekleidung geht – abhängig auch von dem Alter der betroffenen Schülerinnen und Schüler – nicht zwingend, aber jedenfalls nicht ausschließbar eine gewisse appellative Wirkung aus, sei es in dem Sinne, dass dieses Verhalten als vorbildhaft und befolgungswürdig verstanden und aufgenommen, sei es, dass es entschieden abgelehnt wird…Deren Verhalten, aber auch die Befolgung bestimmter religiöser Bekleidungsregeln trifft auf Personen, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher auch einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind …
Das Tragen religiös konnotierter Kleidung durch Pädagogen kann schließlich zu Konflikten innerhalb der Schülerschaft und unter den Eltern führen und sie befördern, zumal wenn die Betroffenen möglicherweise … verschiedenen Glaubensrichtungen angehören, in denen unterschiedliche Anschauungen über das „richtige“ glaubensgeleitete Verhalten herrschen. Auch wenn solche religiösen Bekundungen nicht zwingend zu einer Beeinträchtigung der negativen Glaubensfreiheit und des Elterngrundrechts führen müssen, so besteht doch in dieser Hinsicht ein erhebliches Risiko. Der Gesetzgeber darf deshalb den Schutz dieser Grundrechte mit beträchtlichem Gewicht in die Abwägung einstellen.
Die Richter mahnen zudem an, dass der Senat bei seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung Rahmen des staatlichen Erziehungsauftrags, der unter der Wahrung der Pflicht zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität zu erfolgen habe, nicht hinreichend die besondere Stellung der Pädagogen als Amtsträger berücksichtigt habe:
Die Pädagogen genießen zwar ihre individuelle Glaubensfreiheit. Zugleich sind sie aber Amtsträger und damit der fördernden Neutralität des Staates auch in religiöser Hinsicht verpflichtet. Denn der Staat kann nicht als anonymes Wesen, sondern nur durch seine Amtsträger und seine Pädagogen handeln. Diese sind seine Repräsentanten. Die Verpflichtung des Staates auf die Neutralität kann deshalb keine andere sein als die einer Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität. Für den Pädagogen in der Schule als Individuum ist es deshalb anders als für das Individuum in ausschließlich gesellschaftlichen Zusammenhängen geboten, bei religiösen Bekundungen Zurückhaltung zu üben, wenn seine Überzeugung bei der Wahrnehmung des staatlichen Erziehungsauftrags mit den Grundrechten anderer kollidieren kann…
E. Schlussbemerkung
Das BVerfG hat die Glaubensfreiheit muslimischer Lehrkräfte gestärkt und stärker gewichtet als bislang. Zwar sprechen sehr gute und gewichtige Gründe für die Entscheidung des Senats, allerdings hätte die Entscheidung wohl noch stärker argumentativ angereichert werden müssen, da sich Senat im Gegensatz zum Sondervotum der dissentierenden Richter kaum mit der besonderen Stellung von Lehrern sowie den Besonderheiten des Schüler-Lehrer-Verhältnisses auseinandersetzt und dazu Stellung bezieht. Auch die Befürchtung, dass nun tatsächlich der Streit um das Kopftuch unmittelbar Einzug in das Klassenzimmer erhält, kann ein in der Abwägung zu berücksichtigendes Argument sein. Zudem hat sich der Senat im Beschluss kaum mit der Reichweite der gesetzgeberischen Einschätzungsprägorative und der Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 2003 befasst, die dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum einräumte. Gerade die Ausgestaltung derartiger „prekärer Beziehungen“ sowie die Ausgestaltung der weltanschaulichen und religiösen Neutralität des Staates ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers. Es handelt sich um hochkomplexe Wertungsfragen, die zuvörderst Aufgabe des Gesetzgebers sind und auf die sich oftmals nur schwer „eine“ Antwort finden lassen wird. Nichtsdestotrotz ist die Entscheidung rechtspolitisch ein positives Signal der Integration sowie der Gleichberechtigung der Religionen.
Unter verfassungsprozessualen Gesichtspunkten wird man wohl davon ausgehen müssen, dass der Zweite Senat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2003 mit der Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage für ein abstrakt-generelles Verbot auch implizit davon ausging, dass eine solche Regelung abstrakter Gefahren auch verhältnismäßig und somit verfassungskonform ist. Dies hat der Erste Senat nun offenkundig für jeden Fall einer abstrakten Gefahr anders beurteilt. Vor diesem Hintergrund ist mittlerweile auf dem Verfassungsblog eine lesenswerte Debatte zwischen Christoph Möllers und Mathias Hong darüber entstanden, ob es sich bei dem nun getroffenen Beschluss des Ersten Senats um eine Abweichung im Sinne des § 16 BVerfGG handelt, die eine Entscheidung des Plenums erforderlich gemacht hätte.
Die Argumentationslinie des Senats sollte zur juristischen Allgemeinbildung gehören und daher jedem Jura-Studenten geläufig sein. Dies zeigt gerade auch die Aktualität der gesellschaftlichen Debatte über die Auswirkungen der Entscheidung. Die Entscheidung wird künftig ganz sicher in juristischen Prüfungen verwendet werden.
Es geht weiter in unserer Serie der simulierten mündlichen Prüfungen. Heute: wieder mal abgeschleppt.
Sehr geehrte Damen und Herren,
willkommen zur Prüfung im Öffentlichen Recht. Folgender Fall hat sich kürzlich in Neustadt an der Weinstraße ereignet, ich zitiere aus der Pressemitteilung des VG Neustadt:
Der Kläger stellte sein Fahrzeug am Mittwoch, den 27. Februar 2013, um 7.00 Uhr auf dem Pfalzplatz in Haßloch ab. Er wollte sich mit Freunden treffen, um gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt war das Parken auf dem Pfalzplatz erlaubt. Mehrere Schilder an den umliegenden Straßen und im Zufahrtsbereich des Pfalzplatzes wiesen hin auf „Pfalzplatz unbegrenzt P“. Auf dem Pfalzplatz selbst stehen keine Parkschilder. Ebenfalls am Mittwoch, den 27. Februar 2013, zu einer späteren Zeit, stellte die Beklagte an der Schillerstraße, der einzigen Zufahrt zum Pfalzplatz, folgende Verkehrsschilder auf: Verkehrszeichen 283 (absolutes Halteverbot) und 250 (Verbotder Einfahrt) sowie Zusatzzeichen „Sonntag, 03.03.2013 ab 7.00 Uhr“. Grundlage für die Aufstellung der Verkehrsschilder war die verkehrspolizeiliche Anordnung der Beklagten vom 7. Februar 2013 zum Sommertagsumzug, der am 3.März 2013 stattfinden sollte. Nach der Anordnung sollte die gesamte Beschilderung bis spätestens am Donnerstag, den 28. Februar 2013, aufgestellt werden. Eventuelle gegensätzliche Schilder sollten bis spätestens sonntags, 11.00 Uhr, abgehängt bzw. abgeklebt werden. Am Sonntag um 10.00Uhr wurden auch die Schilder„Pfalzplatz unbegrenzt P“ nach Angaben der Beklagten gemäß der Anordnung mit Müllsäcken abgedeckt. Am Sonntag, den 3. März 2013, um 12.15 Uhr wurde das Auto des Klägers abgeschleppt. Der Kläger konnte nicht informiert werden, da seine Nummer nicht im Telefonbuch eingetragen war.Mit Schreiben vom 7.März 2013 hörte die Beklagte den Kläger zu dem Vorgang an. Mit Bescheid vom 3. April 2013 zog die Beklagte den Kläger zu den Kosten für die Abschleppmaßnahme in Höhe von insgesamt 207,00 € heran. Die Kosten setzten sich zusammen aus 178,50 € Entgelt für das Abschleppunternehmen, 25,00 € Verwaltungsgebühren und eine Zustellungsgebühr von 3,50 €. Dagegen legte der Kläger am 23. April 2013 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 4. April 2014, dem Kläger zugegangen am 10. April 2014, wies der Kreisrechtsausschuss der Kreisverwaltung Bad Dürkheim den Widerspruch des Klägers zurück.
Der Kläger richtet sich nun an das VG Neustadt. Ein relativer langer Sachverhalt, falls Sie Nachfragen hinsichtlich des Sachverhaltes haben, melden Sie sich bitte. Wir prüfen selbstverständlich nach nordrhein-westfälischem Recht. Zunächst: Welche Klageart kommt in Betracht?
In Betracht kommt eine Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Fall 1 VwGO. Diese hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.
Ja, wir möchten uns auf die Begründetheitsprüfung konzentrieren. Frau A, beginnen Sie doch bitte!
Die Anfechtungsklage des K ist nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO begründet, soweit der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Zunächst ist also die Rechtmäßigkeit des ergangenen Verwaltungsaktes, also des Kostenbescheides, zu prüfen. Ermächtigungsgrundlage hierfür ist §§ 55, 57 Abs. 1 Nr. 1, 59, 77 Abs. 1 VwVG NRW i.V.m. § 20 Abs. 2 Nr. 7 VO VwVG.
Schön, Sie sind nun unmittelbar auf die Ersatzvornahme nach §§ 55, 57 Abs. 1 Nr. 1 VwVG NRW gesprungen. Was könnte „das Abschleppen“ noch sein?
Das Abschleppen eines PKW kann grundsätzlich sowohl als Ersatvornahme als auch als Sicherstellung eingeordnet werden. Sinnvoll erscheint eine Abgrenzung nach der Zweckrichtung der handelnden Behörde. Dabei liegt eine Sicherstellung vor, wenn eine Gefahr für das Fahrzeug vorlag, eine Ersatzvornahme, wenn von dem Fahrzeug eine Gefahr ausging. Demnach ist hier die Ersatzvornahme einschlägig, da die Behörde nicht zum Schutz des Fahrzeuges, sondern zur Beseitigung der von ihm ausgehenden Gefahr handelte.
Kommen wir zu formellen Rechtmäßigkeit, Herr B.
Eine nach § 28 VwVfG erforderliche Anhörung hat stattgefunden, diese war insbesondere nicht nach § 28 Nr. 5 VwVfG hinsichtlich des Kostenbescheides entbehrlich. Zugleich hat die nach § 77 VwVG NRW zuständige Behörde gehandel, wonach Kostengläubiger der Rechtsträger ist, dessen Behörde die Amtshandlung vornimmt.
Frau A, versuchen Sie sich doch bitte an der materiellen Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides.
Der Kostenbescheid ist rechtmäßig, wenn eine Amtshandlung nach diesem Gesetz vorliegt, vgl. § 77 VwVG NRW. Daher muss nun inzident die Rechtmäßigkeit der Ersatzvornahme geprüft werden, da nur dann eine „Amtshandlung nach diesem Gesetz“ gegeben ist. Die richtige Ermächtigungsgrundlage hängt davon ab, ob die Behörde das gestreckte Verfahren oder den Sofortvollzug verwendet hat, § 55 VwVG NRW. Hier besteht die Besonderheit, dass es einen Grund-VA in Form der Verkehrsschilder (Halteverbot) gibt, die Behörde diesen aber ohne die Voraussetzungen des Sofortvollzugs vollstreckt. Dies nennt man abgekürztes Verfahren, dessen Rechtmäßigkeit sich aus einem „argumentum a maiore ad minus“ ergibt: Wenn schon alle Voraussetzungen des gestreckten Verfahrens im Sofortvollzug außer Acht gelassen werden können, muss erst-recht das Auslassen einzelner Verfahrensabschnitte zulässig sein. Daher ist das sog. abgekürzte Verfahren rechtmäßig.
Sehr schön. Bevor wir fortfahren, erlauben Sie mir eine kurze Zwischenfrage: Welche weiteren Argumentationsmuster kennen Sie?
Besonders wichtig ist sicherlich das argumentum e contraria, also der Umkehrschluss. Beliebt ist zudem das argumentum ad absurdum sowie das argumentum ad horribilis. Vergleichbar dem schon angesprochenen argumentum a maiore ad minus ist das argumentum a fortiori. Ungeeignet und zu vermeiden ist hingegen ein argumentum ad personam – außer es gehen einem tatsächlich einmal die Argumente aus…
In Ordnung. Herr B, prüfen Sie doch bitte das von der Kollegin beschriebene abgekürzte Verfahren durch.
Zunächst sind die Voraussetzungen des gestreckten Verfahrens nach § 55 Abs. 1 VwVG NRW zu prüfen. Das Verkehrsschild ist eine HDU-Verfügung, so dass nun die Rechtmäßigkeit des Grund-VAs, also des Verkehrsschildes zu prüfen ist. Dies folgt aus der Tatsache, dass wir mangels Androhung und Festsetzung nun den Sofortvollzug eines tatsächlich ergangenen Grund-VAs prüfen. Aus der Formulierung „im Rahmen ihrer Befugnisse“ folgt also zwingend eine Rechtmäßigkeitsprüfung.
Ist die HDU-Verfügung denn überhaupt wirksam geworden, was § 55 VwVG NRW ja voraussetzt?
Die Voraussetzungen zur Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes sindin § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG geregelt. Hierfür ist die Bekanntgabe erforderlich. Eine ältere Ansicht geht davon aus, dass der Verkehrsteilnehmer das Verkehrsschild wahrnehmen muss, also letztlich (erst) eine Einzelbekanntgabe die Wirksamkeit auslöst. Die Gegenaufassung nimmt hingegen an, dass ein Verkehrsschild durch öffentliche Bekanntgabe wirksam ((§41 Abs. 3 Satz 2 VwVfG i.V.m.) §§ 39 Abs. 1, 45 Abs. 4 StVO) wird. Auf die tatsächliche Kenntnisnahme durch den einzelnen Verkehrsteilnehmer kommt es dann nicht mehr. Aus Gründen der Rechtsklarheit und der Vermeidung des Auseinanderfallens von Regelungen im Straßenverkehr ist von der Möglichkeit der öffentlichen Bekanntgabe auszugehen. Zudem könnten sonst Verkehrsschilder jederzeit angegriffen werden, man denke nur an den Kieler, der mit dem Auto nach Passau fährt. Im vorliegenden Fall wurde daher das Verkehrsschild mit Aufstellung bekanntgegeben und wirksam.
Wunderbar.Wie ordnen Sie demnach das Verkehrsschild dogmatisch ein?
Es handelt sich um eine Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 VwVfG.
Ist das Verkehrsschild als Allgemeinverfügung denn auch sofort vollziehbar?
Ja, nach § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO analog. Es ist der Anordnung durch einen Polizisten gleichzusetzen, die Möglichkeit der sofortigen Vollziehung kann nicht davon abhängen, ob die Regelung durch bspw. Handzeichen eines Polizisten oder durch ein Schild verkörpert wird.
Korrekt. Wir springen in der Prüfung etwas weiter und fragen uns, ob die Ersatzvornahme im abkürzten Verfahren wirklich notwendig war. Was meinen Sie, Frau A?
An dieser Stelle ist eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an Beseitigung der Gefahr einerseits und den Interessen des Betroffenen andererseits. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Parkplatz als „Dauerparkplatz“ ausgeschildert war und der Kläger seinen PKW gerade deswegen dort abstellte. Man könnte also an eine Art „Vertrauensschutz“ denken. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass im Straßenverkehr nicht davon ausgegangen werden kann, dass Verkehrsschilder „ewig“ unverändert bleiben. Daher müsste der Parkende innerhalb einer bestimmten zeitlichen Frist, bspw. alle sieben Tage, kontrollieren, ob er noch rechtmäßig dort parkte. Doch in Ausnahmefällen kann auch ein sofortiges Abschleppen zulässig sein, es kommt auf den Einzelfall an. Hier versuchte die Behörde sogar den Kläger zu erreichen. Zudem behinderte das Fahrzeug die Durchführung des Sommerfestes, so dass ein besonderes öffentliches Interesse an der Abschleppmaßnahme vorlag.
Also war das Abschleppen demnach wohl verhältnismäßig. Was bedeutet das für unseren Kläger?
Zunächst nur, dass das Abschleppen selbst rechtmäßig war. Somit liegt eine „Amtshandlung nach diesem Gesetz“ nach § 77 VwVG NRW vor. Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung, so dass grundsätzlich mit Rechtmäßigkeit des Verwaltungszwanges auch eine Kostenpflicht des Betroffenen entsteht. Dies ergibt sich aus der Formulierung „werden erhoben“. Allerdings ist in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass eine Ausnahme vom Grundsatz der gebundenen Entscheidung aus rechtsstaatlichen Gründen zu machen ist, wenn es sich um eine offensichtlich unverhältnismäßige Maßnahme handelte. In diesen Fällen kann ausnahmsweise eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt werden.
Sehr schön. Zu welchem Ergebnis kommen Sie hier, Herr B?
Unverhältnismäßigkeit kann nur in absoluten Ausnahmefällen angenommen werden, bspw. wenn eine Behörde zwar rechtmäßig vollstreckt, aber die Änderung der Rechtslage nicht rechtzeitig angekündigt hatte. Im vorliegenden Fall liegt genau hier das Problem. Sinnvoll erscheint es davon auszugehen, dass der Parkende alle vier Tage kontrollieren muss, ob er noch rechtmäßig parkt. Insoweit hat die Behörde ihrer „Ankündigungsfrist“ Genüge getan. Der Kostenbescheid ist nicht unverhältnismäßig.
Ein vertretbares Ergebnis, genauso entschied das VG Neustadt a.d. Weinstraße (5 K 444/14.NW, Urteil hier abrufbar). Vielen Dank!
Industrie- und Handelskammern sind berufsständische Körperschaften des öffentlichen Rechts und bestehen aus Unternehmen einer Region. Alle Gewerbetreibenden und Unternehmen mit Ausnahme reiner Handwerksunternehmen, Landwirtschaften und Freiberufler gehören ihnen per Gesetz, zB IHK-Gesetz, an.
Es regt sich jedoch wiederholt Widerstand gegen eine solche Zwangsmitgliedschaft. Wie die SZ berichtet, werfen viele Mitglieder der IHK Misswirtschaft, überzogene Ausgaben für Bauvorhaben und Spitzenposten und nicht zuletzt einen undemokratischen Aufbau vor.
Nun wird sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit der Frage der Zwangsmitgliedschaft befassen, nachdem zwei Unternehmer Beschwerden eingereicht haben.
I. Überblick Art. 9 I GG
Art. 9 I GG schützt die Vereinigungsfreiheit.
1. Schutzbereich
Art. 9 I GG schützt das Recht, Vereine und Gesellschaften (=Vereinigung) zu bilden, also das Prinzip freier sozialer Gruppenbildung.
Eine Vereinigung ist ein Zusammenschluss mehrerer (mind. zweier Mitglieder) natürlicher oder juristischer Personen bzw. Personenvereinigungen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck auf freiwilliger Basis bei Unterwerfung unter eine organisatorische Willensbildung, Mannsen, § 22, Rn. 520.
Der Zweck der Vereinigung ist dabei unerheblich. Auch idielle oder wirtschaftliche Zwecke sind erfasst.
Anknüpfungspunkt ist der freie Vereinigungswille, weshalb gesetzlich angeordnete öffentlich-rechtliche Zusammenschlüsse (Rechtsanwaltskammern, Ärztekammern) nicht zu den von Art. 9 IGG geschützten Vereinigungen gehören, Mannsen, § 22, Rn. 520.
2. Eingriff
Die Vereinigungsfreiheit kann zB durch Entziehung der Rechtsfähigkeit oder durch ein Verbot der Vereinigung beeinträchtigt werden.
Sonstige Bestimmungen des Gesellschafts- und Vereinsrechts sind keine Grundrechtseingriffe, sondern lediglich Ausgestaltung des Grundrechts.
3. Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Art. 9 I GG steht nach Art. 9 II GG unter Gesetzesvorbehalt (hM).
Die Verbotsgründe sind in Art. 9 II GG abschließend aufgezählt. Im Übrigen sind andere Eingriffe als das Verbot durch kollidierendes Verfassungsrecht zu rechtfertigen.
Eingriffe in Vereinigungsfreiheit bedürfen dabei einer formell-gesetzlichen Grundlage.
II. Urteil des BVerfG von 2001
Das BVerfG entschied 2001 u.a. über die Verhältnismäßigkeit der Zwangsmitgliedschaft in der IHK, BVerfG Beschluss vom 07.12.2001 (1 BvR 1806/98).
Beschwerdeführerin B war damals eine Versicherungsmaklerin. Sie richtete sich gegen ihre Zwangsmitgliedschaft in der IHK und vertrat die Auffassung, in ihrem negativen Grundrecht aus Art. 9 I GG und ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG verletzt zu sein. Nach ihrer Ansicht könne die IHK auch ohne eine Zwangsmitgliedschaft ihre ihnen übertragenen öffentlich-rechtlichen Aufgaben wahrnehmen.
Das BVerfG prüfte in seiner Entscheidung die Verletzung folgender Grundrechte:
1. Art. 9 I GG
Möglicherweise könnte die B durch die Zwangsmitgliedschaft in ihrem negativen Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit, also dem Recht, sich nicht vereinigen zu müssen, aus Art. 9 I GG verletzt sein.
a) Schutzbereich
Fraglich ist, ob der Schutzbereich eröffnet ist.
Dazu führt das BVerfG aus:
Der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 GG ist nicht berührt. […]
Art. 9 Abs. 1 GG schützt nicht vor einer gesetzlich angeordneten Eingliederung in eine öffentlichrechtliche Körperschaft. […]
Der Schutz der Vereinigungsfreiheit greift ein, wenn es um einen privatrechtlichen Zusammenschluss natürlicher oder juristischer Personen geht, der auf Dauer angelegt ist, auf der Basis der Freiwilligkeit erfolgt, zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks konstituiert ist und eine organisierte Willensbildung aufweist.[…]
Damit ist das Element der Freiwilligkeit für den in Art. 9 Abs. 1 GG verwandten Vereinsbegriff konstituierend. Vereinigungen, die ihre Entstehung und ihren Bestand nicht grundrechtsinitiierter Freiwilligkeit verdanken – wie hier die Industrie- und Handelskammer -, unterfallen daher von vornherein nicht dem Vereinsbegriff des Art. 9 Abs. 1 GG.[…]
Auch aus der Entstehungsgeschichte folgt, dass Art. 9 Abs. 1 GG nicht im Sinne eines umfassenden Fernbleiberechts gegenüber öffentlichrechtlichen Verbänden verstanden werden kann.[…]
Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats war in dieser Diskussion die Existenz berufsständischer Zwangszusammenschlüsse bewusst. Diesen alten Traditionszusammenhang wollten sie weder unterbrechen noch aufheben, sonst hätte dies besonders zum Ausdruck gebracht werden müssen. […]
Wenn vom Bundesverfassungsgericht der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG in ständiger Rechtsprechung auf das Recht ausgedehnt wird, einer Vereinigung fernzubleiben (vgl. BVerfGE 10, 89; 50, 290 ), so reicht dieser Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit daher nicht weiter als der Schutzbereich der positiven Gewährleistung. Den Bürgerinnen und Bürgern ist die Freiheit garantiert, sich auf freiwilliger Basis zusammenzuschließen, und der Staat darf nicht andere Bürger zwingen, sich diesem freiwilligen Zusammenschluss anzuschließen.
Das BVerfG stellt also klar, dass entscheidend für den Schutzbereich des Art. 9 I GG die Freiwilligkeit ist. Nur der Zusammenschluss von Vereinigungen auf freiwilliger Basis ist demnach geschützt. Als negatives Grundrecht schützt Art. 9 I GG also nur vor einer Zwangsmitgliedschaft bezüglich solcher freiwilligen Vereinigungen.
Begründet wird dies auch mit der Entstehungsgeschichte: Dem Gesetzgeber waren damals schon die Mitgliedschaften in öffentlichen, verpflichtenden berufsständischen Zusammenschlüssen bekannt. Wenn er diese Tradition hätte aufbrechen wollen, so hätte er dies im GG berücksichtigen müssen, was unterblieben ist.
Folglich ist nach Ansicht des BVerfG der Schutzbereich des Art. 9 I GG nicht eröffnet.
b) Ergebnis
Mangels Schutzbereichseröffnung scheidet eine Verletzung der negativen Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 I GG aus.
2. Art 12 I GG
Das BVerfG prüfte eine Verletzung von Art. 12 GG in dieser Entscheidung nicht. Gleichwohl könnte die B in ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG verletzt sein.
a) Schutzbereich
Es müsste der einheitliche Schutzbereich des Art. 12 I GG eröffnet sein.
Ein Beruf ist eine Tätigkeit, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient.Von Art. 12 I GG ist auch die Ausübung des Berufs geschützt.
Die Tätigkeit der B als Versicherungsmaklerin ist insoweit die Ausübung eines Berufs.
Folglich ist der Schutzbereich des Art. 12 I GG eröffnet.
b) Eingriff
Ein Eingriff in Art. 12 I GG könnte in der staatlichen Maßnahme der Anordnung der Zwangsmitgliedschaft liegen. Diese müsste insoweit berufsregelnde Tendenz aufweisen.
Bei der Zwangsmitgliedschaft in der IHK fehlt es an einer subjektiv berufsregelnden Tendenz, da diese nicht zielgerichtet die Wahl oder die Ausübung eines bestimmten Berufes betrifft.
Auch führt sie nicht zu einer besonderen Belastung der Mitglieder hinsichtlich der Wahl oder Ausübung ihres Berufes, so dass auch eine objektiv berufsregelnde Tendenz nicht vorliegt.
Aufgrund fehlender berufsregelnder Tendenz greift die Pflichtmitgliedschaft in der IHK nicht in Art. 12 I GG ein.
c) Ergebnis
Die B ist nicht in Art. 12 I GG verletzt.
3. Art. 2 I GG
Vielmehr sieht das BVerfG den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG für eröffnet an:
Prüfungsmaßstab für den Schutz gegen die Inanspruchnahme als Mitglied einer Zwangskorporation ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 10, 89). […]
Diese Vorschrift stellt ein hinreichendes Instrument zur Abwehr unnötiger Pflichtverbände dar und erlaubt damit auch, dem Prinzip der freien sozialen Gruppenbildung, das Art. 9 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 38, 281; 50, 290) zugrunde liegt, gerecht zu werden. Zugleich lässt dieser Prüfungsmaßstab aber dem Staat genügende Gestaltungsfreiheit, damit er seine Aufgaben angemessen wahrnehmen kann. […]
a) Schutzbereich des Art. 2 I GG
Der Schutzbereich des Art. 2 I GG müsste eröffnet sein.
Zu beachten ist, dass Träger des Grundrechts zunächst jede persönliche Person ist. Ist eine juristische Person oder Vereinigung Beschwerdeführerin, so muss kurz angemerkt werden, dass dieses Grundrecht gem. Art. 19 III GG auch in diesem Fall anwendbar ist.
b) Eingriff
In das Grundrecht wird durch jede imperative Regelung der öffentlichen Gewalt eingegriffen (Mannsen). Dies schließt auch die Anordnung einer Zwangsmitgliedschaft in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts wie der IHK ein.
c) verfassungsmäßige Rechtfertigung
Der Eingriff könnte jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
Gem. Art. 2 I GG ist die allgemeine Handlungsfreiheit begrenzt durch die Rechte Anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz ( sog. Schrankentrias des Art. 2 I GG).
Das Verbot könnte als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung gerechtfertigt sein.
Verfassungsmäßige Ordnung isd Art. 2 I GG ist die Gesamtheit aller Rechtsnormen, die mit der Verfassung in Einklang stehen, d.h. formell und materiell verfassungsmäßig sind.
Ein Gesetz, welches die Zwangsmitgliedschaft anordnet, müsste insoweit formell und materiell verfassungsmäßig sein.
Materiell verfassungsmäßig wäre ein solches Gesetz insbesondere dann, wenn es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt.
Insoweit auch das BVerfG:
Zwangsverbände sind danach nur zulässig, wenn sie öffentlichen Aufgaben dienen und ihre Errichtung, gemessen an diesen Aufgaben, verhältnismäßig ist.
aa) legitimer Zweck
Mit der Zwangsmitgliedschaft müsste ein legitimer Zweck verfolgt werden:
Voraussetzung für die Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Verbands mit Zwangsmitgliedschaft ist, dass der Verband legitime öffentliche Aufgaben erfüllt.
Dazu gehören Aufgaben der Wirtschaftsförderung, die Vertretung der gewerblichen Wirtschaft und die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet. Nicht zuletzt soll durch die Kammern auch der Staat beraten werden.
bb) Geeignetheit
Weiterhin müsste die Zwangsmitgliedschaft ein geeignetes Mittel sein, um solche Ziele verfolgen zu können. Ausreichend ist hier die Möglichkeit der Zweckerreichung.
Im Übrigen steht dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum bei der Beurteilung der zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu.
Aus Sicht des BVerfG ist die Maßnahme geeignet:
Die Entscheidung des Gesetzgebers, Wirtschaftsförderung und -verwaltung mit Hilfe von Selbstverwaltungseinrichtungen zu organisieren, ist von diesen Grundsätzen gedeckt. […]
Aus der Sicht des Gesetzgebers ist die Erfüllung von Wirtschaftsverwaltungsaufgaben durch die Kammern sachnäher und wegen der Beteiligung der Betroffenen durch selbstgewählte Organe auch freiheitssichernder als durch staatliche Behörden. Die Interessenvertretung durch private Verbände ist in dieser Sicht nicht im gleichen Maße am Gesamtinteresse und am Gemeinwohl orientiert. […]
cc) Erforderlichkeit
Darüberhinaus müsste die Zwangsmitgliedschaft auch erforderlich für die Erreichung der gesetzgeberischen Ziele sein.
Sie ist erforderlich, wenn es kein anderes milderes Mittel gibt, das zur Erreichung des Ziels ebenso effektiv ist.
Bezüglich der Errichtung rein privater Verbände als milderes Mittel führt das BVerfG aus:
Rein private Verbände wären mangels Gemeinwohlbindung nicht in der Lage, die Aufgaben wahrzunehmen, die die Industrie- und Handelskammern mit Hilfe der Pflichtmitgliedschaft zu erfüllen befähigt sind. […]
Auch kann der Staat so besser die besondere Sachnähe und Kompetenz der Kammern nutzen, BVerfGE 15, 235.
Die Wahrnehmung der Aufgabe durch den Staat könnte das zulässige rechtspolitische Ziel der Verlagerung auf die primären Träger wirtschaftlicher Interessen, deren Sachkompetenz der Staat zur Entfaltung volkswirtschaftlich sinnvoller Rahmenbedingungen für sich nutzbar machen will, nicht erreichen. […]
Wegen des Gemeinwohlauftrags der Industrie- und Handelskammern und ihrer vielfältigen Wirtschaftsverwaltungsaufgaben ist ein alle Branchen und Betriebsgrößen umfassender Mitgliederbestand vonnöten. Für die wirtschaftliche Selbstverwaltung bedarf es der Mitwirkung aller Unternehmen, gerade auch der mittleren und kleinen, damit die Kammern ihre Aufgaben umfassend erfüllen können. […]
Rein private Verbände stellen daher zwar ein milderes, aber kein gleich geeignetes Mittel dar, mit der Folge, dass die Maßnahme mithin erforderlich ist.
dd) Angemessenheit/ Verhältnismäßigkeit ieS
Schließlich müsste die Anordnung der Zwangsmitgliedschaft auch angemessen, also zumutbar sein.
Dazu ist eine Interessenabwägung vorzunehmen.
Das BVerfG bewertete die Interessen der Beschwerdeführerin wie folgt:
Die Beeinträchtigung des einzelnen Gewerbetreibenden durch die Pflichtmitgliedschaft bedeutet keine erhebliche Einschränkung der unternehmerischen Handlungsfreiheit. Zu berücksichtigen ist dabei vor allem, dass die Pflichtmitgliedschaft den Kammerzugehörigen zum einen die Chance zur Beteiligung und Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen eröffnet, dabei aber zum anderen ihnen die Möglichkeit offen lässt, sich nicht aktiv zu betätigen. Zugleich hat die Pflichtmitgliedschaft eine freiheitssichernde und legitimatorische Funktion, weil sie auch dort, wo das Allgemeininteresse einen gesetzlichen Zwang verlangt, die unmittelbare Staatsverwaltung vermeidet und statt dessen auf die Mitwirkung der Betroffenen setzt.
Im Übrigen könnten etwaige Aufgabenüberschreitungen durch den Zwangsverband und seiner Organe im Klagewege abgweehrt werden.
Somit ist eine Zwangsmitgliedschaft auch angemessen.
ee) Ergebnis
Die Anordnung einer Zwangsmitgliedschaft ist verhältnismäßig, ein dies anordnendes Gesetz wäre insoweit materiell verfassungsmäßig und würde der verfassungsmäßigen Ordnung entsprechen.
Das Verbot ist also verfassungsmäßig gerechtfertigt, so dass die B nicht in Art. 2 I GG verletzt ist.
III. Ausblick
Noch ist nicht abzusehen, ob das BVerfG von seiner ständigen Rechtsprechung abweicht.
Dagegen könnte die lange Rechtsprechungstradition sprechen. Entscheidend dürfte auch sein, ob das BVerfG ohne Zwangsmitgliedschaften die Interessen des Staates wirklich als ausreichend gewahrt sieht.
Hinzu kommt, dass es eine Vielzahl von Vereinigungen existieren, die eine Zwangsmitgliedschaft verlangen. Nicht alle müssen per se die Mängel aufweisen, die der betreffenden IHK vorgeworfen werden.
Allerdings könnte die Möglichkeit bestehen, einen Austritt als ultima ratio dann zu ermöglichen, wenn die betreffende Vereinigung augenscheinlich keinen demokratischen Aufbau ermöglicht und so ggf. gegen das Demokratieprinzip aus Art. 20 I GG und das Rechtstaatlichkeitsprinzip aus Art. 20 III GG verstößt oder die auch durch das Grundgesetz geschützten Interessen und Rechtsgüter der Mitglieder durch eklatante Misswirtschaft innerhalb einer solchen Zwangsmitgliedschaft massivst beeinträchtigt werden und einzulegende Rechtsmittel gegen solche Beeinträchtigungen nicht mehr zumutbar sind.
Ebenso denkbar wäre es, nur eine Aussetzung der Zwangsmitgliedschaft ausnahmsweise zu ermöglichen, bis alle Mängel beseitigt sind oder sich die Vereinigung unter Wahrung der Interessen der Mitglieder neu konstituiert hat.
Ob aber die angegriffenen Zustände überhaupt in dem vorliegenden Fall zumindest für eine Aufweichung der Zwangsmitgliedschaft ausreichen würden, bleibt abzuwarten.
IV. Fazit
Die Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 I GG, Art. 2 I GG ist sicherlich nicht das wichtigste Grundrecht, kann aber immer mal wieder Aktualität erlangen und in Verbindung mit einer Verfassungsbeschwerde leicht abgeprüft werden.
Die Entwicklung bzgl. der Zwangsmitgliedschaften in öffentlich- rechtlichen Vereinigungen sollte unbedingt weiter verfolgt werden. Wird sich tatsächlich eine Änderung der Rechtsprechung vollziehen, so ist dies nicht nur von Examenskandidaten unbedingt zu beachten.
Der Verlag De Gruyter stellt jeden Monat einen Beitrag aus der Ausbildungszeitschrift JURA – Juristische Ausbildung, zwecks freier Veröffentlichung auf Juraexamen.info zur Verfügung.
Der heutige Beitrag
“Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – das unbekannte Wesen” von Thomas Reuter
befasst sich mit einem hoch examensrelevanten Thema. Die Verhältnismäßigkeit spielt in beinahe jeder Klausur im öffentlichen Recht eine bedeutsame Rolle. Aus diesem Grund sollte man sich vertieft mit dem Thema beschäftigen, um mit dem nötigen Rüstzeug gewappnet zu sein.
Den Beitrag findet ihr hier.