Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Amir Nassar veröffentlichen zu können. Der Autor ist derzeit Student an der Humboldt Universität zu Berlin und studentischer Mitarbeiter der Wirtschaftskanzlei Raue.
Wer das Thema Urlaub heutzutage noch rechtssicher verstehen und anwenden möchte, ist darauf angewiesen nicht nur einen Blick in das nationale Recht zu werfen, sondern muss darüber hinaus auch die an Bedeutung gewinnende Rechtsprechung des EuGH kennen. Mit seinem Urteil vom 06.11.2018 – C-619/16 (NZA 2018, 1612) hat der Europäische Gerichtshof – neben der Vererblichkeit von Urlaubsansprüchen – einen weiteren Grundstein im deutschen Urlaubsrecht zur Seite geschoben.
I. Sachverhalt und Problematik
Der Rechtsreferendar Kreuziger absolvierte vom 13. Mai 2009 bis 28. Mai 2010 seinen juristischen Vorbereitungsdienst bei dem Land Berlin. In der Zeit vom 1. Januar 2010 bis zum Ende seiner (öffentlich-rechtlichen) Ausbildung beantragte er keinen bezahlten Jahresurlaub. Vielmehr forderte er am 18. Dezember 2010 finanzielle Abgeltung für diesen nicht genommenen Jahresurlaub.
Dieser Antrag und die später erhobene Klage bei dem VG Berlin wurden mit der Begründung abgelehnt, dass die EUrlVO (Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamten und Richter) einen solchen Abgeltungsanspruch nicht vorsehe. Zudem leite sich ein Abgeltungsanspruch aus Art. 7 Abs. 2 der RL 2003/88 nur dann ab, wenn der Urlaub aus vom Arbeitnehmer nicht zu vertretenen Gründen nicht in Anspruch genommen werden könne.
Hier hätte Kreuziger den Urlaubsanspruch geltend machen können, hat jedoch freiwillig davon abgesehen, obwohl für ihn absehbar war, dass sein Arbeitsverhältnis zum 28. Mai 2010 endet. Und überhaupt könne sich Kreuziger auch nicht auf die RL 2003/88 berufen, da diese nur für Arbeitnehmer gelte.
Das Verfahren wurde vor dem OVG Berlin-Brandenburg fortgeführt, welches die RL im Fall des Rechtsreferendars für anwendbar hielt und sich mit der Frage auseinandersetzte, ob neben den beiden Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 der RL, nämlich der Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt der Geltendmachung und der fehlenden Inanspruchnahme des zustehenden Urlaubsanspruchs bis zur Beendigung, auch erforderlich ist, dass der Arbeitnehmer unabhängig von seinem eigenen Willen nicht in der Lage gewesen ist, den Urlaubsanspruch vor Ende des Arbeitsverhältnisses wahrzunehmen. Diese Frage wurde dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.
„Steht das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegen, die den Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und den Verlust der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt hat?“
II. Bisherige nationale Rechtslage
Nach § 7 Abs. 3 des deutschen Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) verfällt der Urlaubsanspruch, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaub bis zum Ende des Kalenderjahres nicht nimmt bzw. keinen Antrag stellt.
Ausnahmsweise ist eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr nur möglich, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten (bis zum 31. März) des folgenden Kalenderjahrs genommen werden.
III. Entscheidung des EuGH
Der EuGH entschied am 06. November 2018, dass Arbeitnehmer ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht allein dadurch verlieren, dass der Urlaub nicht beantragt wurde.
Vielmehr kann der gesetzlich garantierte Urlaubsanspruch bzw. die Urlaubsabgeltung nur verfallen, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber tatsächlich in die Lage versetzt wurde, die Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen. Die Beweislast liegt insoweit beim Arbeitgeber.
Der Arbeitgeber versetzt den Arbeitnehmer in die Lage, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er seinen Hinweispflichten nachgeht. Er hat den Arbeitnehmer dazu aufzufordern, seinen Urlaub bis zum Ende des Kalenderjahres zu nehmen und darüber zu informieren, dass der Urlaub anderenfalls am Ende des Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeitraums oder am Ende des Arbeitsverhältnisses, wenn dies in einen solchen Zeitraum fällt, verfallen wird.
Begründet wird dies damit, dass der Arbeitnehmer allgemein die schwächere Partei im Arbeitsverhältnis darstellt. Infolge der Unterlegenheit besteht die Gefahr, dass sich der Arbeitnehmer möglicherweise zurückgehalten fühlt seine Rechte gegenüber dem Arbeitgeber geltend zu machen, weil er nachteilige Folgen für das Arbeitsverhältnis befürchtet.
Zudem soll hierdurch die praktische Wirksamkeit von Art. 7 der RL 2003/88, Art. 31 Abs. 2 GRCh und somit auch der bezahlte Urlaub als besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union gewährleistet werden.
Wenn der Arbeitgeber jedoch nachweisen kann, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Folgen darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, obwohl er in der Lage gewesen wäre, dann verfällt der Anspruch nach den gesetzlichen Vorschriften. Denn es soll dem Arbeitnehmer nicht ermöglicht werden, bewusst keinen Urlaub zu nehmen, um am Ende durch die Abgeltung eine Vergütung zu erhalten. Dies stünde dem Sinn und Zweck des Urlaubs, nämlich der ausreichenden Erholung und dem Schutz der Gesundheit, entgegen.
IV. Folgen der Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH hat spürbare Auswirkungen und bestärkt das Recht auf Urlaub für Arbeitnehmer, Beamten und Personen, die sich in einem öffentlich rechtlichen Ausbildungsverhältnis befinden. Künftig erlischt der Urlaubsanspruch nicht mehr nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des Bezugs- oder Übertragungszeitraum, sondern erst, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in die Lage versetzt hat, den Urlaub zu nehmen. Unterlässt der Arbeitgeber seine Hinweispflichten, wird der Urlaubsanspruch nicht bis zum 31. März verfallen, sondern weiter übertragen. Abzuwarten bleibt, ob der Übertragungszeitraum auf 15 Monate begrenzt wird (EuGH Urt. v. 22. 11. 2011 − C-214/10 KHS), was jedoch zu erwarten ist, da eine unbegrenzte Übertragbarkeit ausufern würde. Im Übrigen verjähren Urlaubsansprüche, wenn sie nicht verfallen sind, nach drei Jahren (§ 195 BGB).
Somit ist § 7 Abs. 3 BUrlG zwar noch im Gesetz zu finden, wird jedoch im Rahmen der europarechtskonformen Auslegung anders interpretiert.
Grundsätzlich kann neben dem gesetzlich garantierten Mindesturlaub von vier Wochen darüber hinaus auch ein vertraglicher Mehrurlaubsanspruch vereinbart werden. Dieser unterliegt der Privatautonomie und kann auch strengere Verfallsregelungen vorsehen.
Zu berücksichtigen ist jedoch, dass sich diese Rechtsprechung nur auf den gesetzlichen vierwöchigen Mindesturlaub bezieht. Somit kann der vertragliche Mehrurlaub bei entsprechender Vereinbarung am Ende des Kalenderjahres verfallen.
Zum einen bleibt abzuwarten, ob die Befürchtungen der Arbeitnehmer bezüglich der Geltendmachung der Urlaubsansprüche dadurch behoben werden, dass der Arbeitgeber sie nun in einem Schreiben zur Beantragung des Urlaubsanspruches auffordern muss.
Zum anderen stellt sich die Frage, ob bzw. wie der Gesetzgeber das BUrlG an die EuGH Rechtsprechung anpassen wird.