Wir freuen uns heute einen Gastbeitrag von Sina Nienhaus veröffentlichen zu können. Anhand eines Beispielsfalls analysiert sie die klausurrelevanten Probleme des „Organspende-Skandals“. Der Sachverhalt eignet sich aufgrund der vielfältigen Probleme aus dem Allgemeinen Teil sowie der Kombination mit den Urkundendelikten vortrefflich als Gegenstand einer Klausur oder mündlichen Examensprüfung.
A. Sachverhalt
Die Zuweisung von Organen erfolgt nach § 12 Transplantationsgesetz (TPG) über Eurotransplant als zentrale Vermittlungsstelle. Diese erstellt anhand bestimmter Parameter, welche den Gesundheitszustand und damit die Dringlichkeit einer Transplantation abbilden, eine Rangfolge. Für den Fall der vorliegend besonders relevanten Lebertransplantationen ist dabei der so genannte MELD-Score („Model for endstage Liver Disease“) ausschlaggebend. Dies wird durch Richtlinien der Bundesärztekammer, zu deren Erlass sie nach § 16 I 1 Nr. 5 TPG ermächtigt ist, medizinisch konkretisiert. Die Vergabe von Organen erfolgt dabei über das Standardverfahren, welches ein durch verschiedene Kriterien bestimmtes Rangsystem darstellt. Die Vergabe ist aber auch nach einem beschleunigten Verfahren möglich, wenn aufgrund medizinischer Erfordernisse eine möglichst orts- und zeitnahe Transplantation geboten ist. Der prozentuale Anteil dieser Fälle ist in den letzten Jahren stark angestiegen.
Der leitende Transplantationsmediziner hat wiederholt die Krankenakten eigener Patienten, welche ein Spenderorgan benötigten, auf verschiedenen Wegen manipuliert, um eine schnellere Zuteilung eines solchen Organs im Wege des Standardverfahrens zu erreichen. So hat er Laborwerte gefälscht, durch das Verändern oder Erfinden von Dialyseprotokollen Nierenschädigungen vorgetäuscht und seine Krankenakten entsprechend verfasst, sodass sie auf der Warteliste für ein Spenderorgan vorrücken konnten. Aufgrund der Weiterleitung der manipulierten Krankenakten wurden die Patienten des Arztes weit oben in der Rangliste eingestuft oder rückten einige Plätze nach oben. Folglich wurden dadurch andere transplantationsbedürftige Patienten von ihrem bisherigem Rang verdrängt. Ein unmittelbar verdrängter Patient verstirbt, da er nicht rechtzeitig ein Spenderorgan erhalten hat.
B. Tötungsdelikte
I. § 212 StGB
Der Arzt könnte sich der vorsätzlichen Tötung gegenüber dem verdrängten Patienten strafbar gemacht haben, indem er die Akten seiner eigenen Patienten manipulierte und jener daraufhin nicht rechtzeitig ein Spenderorgan erhielt.
1. Erfolg
Der tatbestandsmäßige Erfolg ist durch den Tod eingetreten.
2. Handlung:
Dies müsste durch eine Handlung des Transplantationsmediziners geschehen sein. Dieser manipuliert die Akten zu Gunsten seines eigenen Patienten und übermittelt die Daten an Eurotransplant. So wird ein ranghöherer Patient auf der Warteliste unmittelbar durch den Patienten des Mediziners von seinem Listenplatz verdrängt und Eurotransplant verweigert ihm nun fälschlicherweise die Chance, ein Organ zu erhalten, obwohl er an sich an der Reihe wäre. Der Manipulationsvorgang kann nun in zweifacher Hinsicht gedeutet werden. Dies ist insofern relevant, als dass zwar in der Manipulation eine aktive Handlung liegt, diese aber nach einer Ansicht zu einem Unterlassen, nämlich der Verweigerung der Zuteilung eines Organs, durch ein Werkzeug – Eurotransplant – führt (Schroth, NStZ 2013, 437, 443). Diese Konstellation wird bisher wenig diskutiert und es ist nicht geklärt, ob dies für den mittelbaren Täter als Tun oder Unterlassen zu werten ist. Letzteres würde dazu führen, dass es sich um ein unechtes Unterlassungsdelikt handelt, welches wiederum eine Garantenstellung des Mediziners gegenüber dem verstorbenen Patienten voraussetzt. Es erscheint angemessen auf die Grundsätze der vergleichbaren Problematik bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen abzustellen. Danach soll der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit maßgeblich sein (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen–Wohlers/Gaede, StGB, § 13 Rn. 7 mwN). Da das vorgeworfene Unrecht vor allem in der aktiven Handlung zu sehen ist – nämlich die Vornahme der Manipulationen – ist i.E. daher aktives Tun anzunehmen.
Nach anderer Auffassung kann in der Manipulation der Krankenakten auch eine „Störung rettender Kausalverläufe“ gesehen werden. Danach haftet derjenige für positives Tun ,der die Rettungsmöglichkeit eines anderen vernichtet (vgl. Kudlich, NJW 2013, 917, 918; Schönke/Schöder- Stree/Bosch, StGB, 28. Aufl. 2010, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 159 mwN). Die Meinungen kommen letztlich zu demselben Ergebnis somit kann ein Streitentscheid offen bleiben. Die Begründung einer Garantenstellung des behandelnden Arztes ist somit nicht nötig.
Hinweis:
An dieser Stelle könnte noch problematisiert werden, ob durch die Manipulation überhaupt in eine zurechenbare strafrechtlich geschützte Rechtsposition eingegriffen wurde. Erörterungswürdig erscheint, dass sich weder aus dem TPG noch aus der Schutzdimension des Art. 2 II GG eine rechtliche Verpflichtung für Eurotransplant ergibt, das Organ einer bestimmten Person zuzuteilen. So beinhaltet Art. 2 II GG ein Recht auf Krankenbehandlung, das der Staat absichern muss, aber kein Recht auf Zuteilung eines Organs im Rahmen einer Krankenbehandlung (vgl. Schroth, NStZ 2013, 437, 443 f.).
3. Kausalität und objektive Zurechenbarkeit
Die Manipulation der Krankenakten müsste ferner kausal iSd der condito-sine-qua-non-Formel und den Tod des ursprünglich „ranghöheren“ Patienten in objektiv zurechenbarer Weise verursacht haben. Im vorliegenden Fall der Listenmanipulation erweist es sich schon als schwierig, die genaue Identität der Person nachzuweisen der das Organ zugeteilt worden wäre. Nur der Nachweis, dass das Organ, das hätte zugeteilt werden müssen, den Tod eines Menschen verhindert hätte oder dazu geführt hätte, dass es einem anderen Schwerkranken bei der Therapie geholfen hätte, ließe es zu, strafrechtlich davon zu sprechen, dass die fehlerhafte, unterlassene Zuteilung kausal war für den Tod (vgl. Verrel, Sanktionierung von Allokationsauffälligkeiten in Lilie/Rosenau/Hakeri (Hrsg.), Organtransplantation, 2011, S. 181, 184). Daneben könnten auch die Tatsachen, dass das Spenderorgan abgestoßen wird oder die Möglichkeit, dass der „Unbekannte” ein anderes Organ erhalten hätte („hypothetische Ersatzkausalität“)den forensischen Nachweis der Kausalität der Manipulationshandlung für den Tod eines anderen verhindern (so Schroth, NStZ 2013, 437, 442). So muss bei nicht hinreichender Sicherheit der Feststellung der Kausalität nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu Gunsten des Mediziners eine Kausalität abgelehnt werden (vgl. Terbille-Sommer/Tsambikakis, Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 2009, § 2 Rn. 87 mwN).
Auch das derjenige den Tatbestand des Totschlags erfüllt, der durch die pflichtwidrige Handlung die Lebenserwartung sogar um eine nicht messbare kurze Zeitspanne verkürzt (Terbille-Sommer/Tsambikakis, Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, § 2 Rn. 89; Spickhoff-Knauer/Brose, Medizinrecht, § 212 Rn. 13 mwN), ändert an dem Ergebnis nichts. Denn auch hier muss die Verkürzung kausal und objektiv zurechenbar sein. Auch diese scheitert jedoch aufgrund der oben dargestellten Erwägungen.
Eine Zurechnung des Todeseintritts könnte darüber hinaus auch dem Schutzzweck der Vergaberegeln widersprechen. Dies ist der Fall, wenn sich die Verwirklichung des tatbestandlichen Erfolgs als bloßer Schutzreflex der Sorgfaltspflicht darstellt (Roxin, Strafrecht AT, § 11 Rn. 86). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Platzierung auf einer Warteliste mit einer Reihe weiterer Unsicherheiten verbunden ist. So besteht immer die Gefahr von der eigenen akuten Verschlechterung des Gesundheitszustands, bevor durch eine Listenkorrektur reagiert werden kann, bis zum „Überholtwerden“ von neuen Patienten oder von solchen, deren Gesundheitszustand sich verschlechtert. Daher kann auch das gängige Vergabeverfahrens nicht mit hinreichender Sicherheit die Chance einer späteren Organzuteilung gewährleisten (vgl. Kudlich, NJW 2013, 917, 918). Somit wäre der objektive Tatbestand mangels objektiver Zurechnung nicht erfüllt.
Exkurs: Zur Beurteilung der Überlebenschancen gibt es zwar statistische Erfahrungswerte, die diesen Anforderungen der Höhe nach genügen dürften, angesichts des in der Natur des Organ-Vergabesystems liegenden typischerweise schlechten Gesundheitszustands der Empfänger und der nie auszuschließenden Operationsrisiken ist der volle Nachweis einer solchen Kausalität im Einzelfall wohl aber schwierig zu führen (Kudlich, NJW 2013, 917, 919 mwN). Vgl. dazu allein den aktuellen „Skandal“, bei dem sich die Kammer die Mühe gemacht hatte, für jeden angeklagten Fall der Manipulation zu recherchieren, was aus denjenigen Kranken wurde, denen die Patienten von O. vorgezogen wurden. Einer dieser bevorzugten Patienten sprang durch die Manipulationen gleich von Rang 34 auf Rang 2 und erhielt binnen Tagen eine Leber. Der Richter fasst die Recherchen zusammen: Der Patient auf Rangnummer 3 bekam ein Organ und lebt. Nummer 4 bekam ein Organ und starb nach der Operation. Nummer 5 bekam ein Organ und lebt, Nummer 6 bekam ein Organ und ist gestorben. Nummer 7 bekam ein Organ, er hatte sogar sieben Angebote. Nummer 8 wurde von der Liste genommen, weil sich sein Zustand besserte. Nummer 9 bekam ein Organ und starb, Nummer 10 lebt. (SZ vom 23.08.2013 https://sz.de/1.1753655).
4. Ergebnis zu I.
Der Transpantationsmediziner hat sich nicht der vorsätzlichen Tötung zu Lasten des ursprünglich „ranghöheren“ Patienten strafbar gemacht.
II. §§ 212, 22, 23 I StGB zu Lasten des ursprünlich „ranghöheren“ Patienten
Der Transplantationsmediziner könnte sich jedoch des versuchten Totschlags zu Lasten des verstorbenen Patienten strafbar gemacht haben. So könnte er den Tode eines Patienten zumindest billigend in Kauf genommen haben, dessen tatsächlicher (und auch kausal verursachter) Eintritt im Einzelfall aber unbeweisbar bleibt.
Vorprüfung
Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus der Verbrechensnatur des Totschlags (§ 212 StGB iVm §§ 23 I, 12 I StGB). Mangels Kausalität bzw. objektiver Zurechnung liegt auch kein vollendetes Delikt vor.
1. Tatentschluss
Der behandelnde Arzt müsste einen Tatentschluss gefasst haben. Dies setzt voraus, dass er Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale hatte.
a) dolus directus 2. Grades: Wissentlichkeit
Der Arzt könnte mit dolus directus 2. Grades gehandelt haben. Dieser liegt vor, wenn der Täter sicher weiß, dass sein Verhalten die Merkmale eines Straftatbestandes erfüllen wird (MüKo/Joecks, StGB, § 16 Rn. 25). Ein Arzt, der Krankenakten manipuliert, um ein Organ für seinen Patienten zu erhalten, erkennt sicherlich die Beeinträchtigung einer Genesungsmöglichkeit eines anderen, er geht aber nicht davon aus, dass er durch sein Handeln fremdes Leben zerstört. Das Erkennen einer Gesundheitsgefahr für einen unbekannten Kranken, deren Intensität und Qualität er gar nicht hinreichend einschätzen kann, begründet möglicherweise einen Gefährdungs-, nicht jedoch einen Verletzungsvorsatz. (so auch Schroth, NStZ 2013, 437, 442).
b) dolus eventualis
G könnte jedoch mit dolus eventualis gehandelt haben. Bedingt vorsätzlich handelt, wer den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (Fischer, StGB, 60. Aufl., § 15 Rn. 9a f. mwN). Das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes kann gleichwohl im Einzelfall fehlen. So etwa wenn der Täter trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut.
Nach ständiger Rechtsprechung wird vertreten, dass insbesondere bei der Tötung eines Menschen eine erhöhte Hemmschwelle überwunden werden muss, da vor dem Tötungsvorsatz eine viel höhere Hemmschwelle stehe als vor dem bloßen Gefährdungsvorsatz (vgl. nur BGH NStZ 1983, 407; zuletzt NJW 2012, 1524; allerdings möglicher Wandel der Rechtsprechung: BGH NStZ 2012, 384, 386). Zusätzlich ist vorliegend zu berücksichtigen, dass der Täter Arzt ist und somit schon grundsätzlich unterstellt werden kann, dass das Wohl der Patienten im Vordergrund steht. Daher sind zur Feststellung eine vorsätzlichen Schädigung von Leib oder Gesundheit eines Menschen noch höhere Hürden zu überwinden, weil derartige Handlungen eines Arztes zum Nachteil von Patienten nach der Lebenserfahrung regelmäßig die Ausnahme darstellen (vgl. BGHSt 56, 277; OLG Braunschweig vom 20.03.2013 – Ws 49/13, juris)
Diese Sorge um den eigenen Patienten wird nun von Rechtsprechung und Literatur konträr gedeutet. Wie im Folgenden dargestellt, sieht die Rechtsprechung darin vor allem ein vorsatzbegründendes Element, da die Sorge gleichzeitig mit der Gleichgültigkeit gegenüber dem benachteiligten unbekannten Patienten einhergehe. Für die Literatur hingegen bedeutet es ein alle anderen Emotionen und Motivationen verdrängendes Kriterium, sodass eine billigende Inkaufnahme ausscheidet. .
aa) Rechtsprechung
Hinsichtlich des Wissenselements wurde vom OLG Braunschweig zunächst festgestellt, dass es offensichtlich bei der Manipulation der Wartelistenrangfolge zu Verzögerungen für die anderen Wartenden kommt. Diese Tatsache ist jedem bewusst (OLG Braunschweig, aaO, Rn. 39) Nun müsste dem Mediziner auch weiterhin bewusst gewesen sein, dass diese Verzögerung zu einer unmittelbaren Todesgefahr für die „Übergangenen“ führen kann. Nach dem „MELD-Score”-System werden vorrangig diejenigen Patienten berücksichtigt, die ohne Transplantation unmittelbar vom Tod bedroht sind. Für diese Patienten kann jede noch so geringe Verzögerung der Transplantation eine lebensverkürzende Wirkung entfalten. Da der Transplantationsarzt mit dem Vergabesystems des MELD-Scores vertraut sei, wüsste er auch um die lebensverkürzende Wirkung.
Der Arzt müsste schließlich auch ein voluntatives Element aufweisen. Dies werde bereits durch seine große Sorge um die eigenen Patienten indiziert. Die Hemmschwellentheorie greife im vorliegenden Fall gerade nicht, weil es hier nicht um eine Tötung eigener Patienten gehe, sondern um fremde und zudem anonyme Menschen. Die hemmschwellenbegründende Situation, nämlich der direkte persönliche Kontakt mit einen Individuum, liegt daher gerade nicht vor. Vielmehr werde die Hemmschwelle aufgrund der Anonymität („Gesichtslosigkeit möglicher Opfer“) noch herabgesenkt. Hinzu kommt die Sorge um das Wohl des eigenen Patienten. Diese kehrt im vorliegenden Fall aufgrund der Organknappheit als vorsatzbegründendes Element wieder. Denn hier begründe die Nähe zum eigenen Patienten, ein von Mitgefühl getragenes Engagement auf der einen Seite, während auf der anderen Seite nur ein Rangplatz auf der Warteliste stehe, hinter dem sich ein anonymer nur durch eine Nummer individualisierbarer Mensch verberge, an dessen Schicksal man keinen Anteil nehme (OLG Braunschweig, aaO, Rn. 45)
Schließlich könne aufgrund der Unwägbarkeiten des Vergabeprozesses, welche zu erneuten weiteren Verzögerungen führen können, auch nicht von einem vorsatzausschließenden Vertrauen auf das Ausbleiben der schweren Folgen geschlossen werden (OLG Braunschweig Rn. 48). Der Mediziner handelte danach vorsätzlich.
bb) Literatur
Die Literaturmeinung sieht hingegen in der Sorge des Arztes um seine Patienten gerade ein vorsatzverneindes Argument So sehe zwar ein Arzt, der Krankenakten manipuliert, um ein Organ für seinen Patienten zu erhalten, wahrscheinlich die abstrakte Möglichkeit der Beeinträchtigung der Genesung eines anderen Wartelistenpatienten, er wird jedoch auch aufgrund der zahlreichen Unwägbarkeiten des Vergabeverfahrens – so werden Organe unter bestimmten Umständen nicht nur an high urgency Patienten verteilt und es gibt die Möglichkeit des beschleunigten Verfahrens – nicht davon ausgehen, dass seine Handlung fremdes Leben zerstört. Hinzu komme die Sorge um das Wohl des eigenen Patienten, die andere unbekannte Patienten aus dem Motivationsgefüge des Arztes völlig verdränge und nicht automatisch eine Billigung des Eintritts des Erfolges bei anderen impliziere. So könne insbesondere die derzeit nicht seltene Nutzung des beschleunigten Verfahren ein Vertrauen beim manipulierenden Arzt begründen, dass ein eventuell benachteiligter Patient noch ein Organ erhält.
Auch die Annahme von dolus eventualis begründender absoluter Gleichgültigkeit überzeuge nicht da diese voraussetzt, dass auch sicheres Wissen den Täter nicht abgehalten hätte (Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1964, S. 186 ff.). In einem derartigen Fall ist dem Arzt jedoch sowohl die Identität, sowie die genaue Krankensituation eines möglicherweise Geschädigten unbekannt. Nicht zuletzt wollen Ärzte Leben retten und nicht zerstören. (Schroth, NStZ 2013, 437, 442 f.):
cc) Ergebnis
Letztlich erscheint es entscheidend, wie der Begriff „billigend in Kauf nehmen“ zu verstehen ist. So stellte der BGH vom 22.04.1955 fest, dass unter „billigend In-Kauf-Nehmen“ nicht das Billigen im alltagssprachlichen Sinne zu verstehen sei, sondern ein „Billigen im Rechtssinne“, das dann vorliege, wenn der Täter den Erfolg für den Fall wolle, dass er „anders sein Ziel nicht erreichen kann“ (BGHSt 7, 363, 369). Die Bestimmung des Begriffs blieb dennoch schwierig und auch von zahlreichen Einzelfallentscheidungen geprägt (vgl. nur Übersicht in MüKo-Schneider, StGB, § 212 Rn. 15 – 51). Fest steht lediglich, dass diese Formel nicht bedeutet, dass der Täter den Erfolg gewünscht hat, dass er ihm gegenüber gleichgültig eingestellt gewesen ist, oder dass er ihn im natürlichen Sinne des Wortes gebilligt hat. Aber es genügt auch nicht, dass ihm der Vorwurf der Gleichgültigkeit in einem normativen Sinne gemacht werden kann, weil er sich durch die Erkenntnis einer großen Gefahr der Erfolgsverursachung nicht von seinem Handeln hat abbringen lassen (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen-Puppe, StGB, 4. Aufl. 2013, § 15 Rn. 31). Schließlich ist bei der Beurteilung über das Vorliegen eines Eventualvorsatzes auch die Motivation und Täterpersönlichkeit zu berücksichtigen (BGHR StGB § 212 Abs. 1 – Vorsatz, bedingter 39). Der Arzt ist in der Regel davon angetrieben nur das Beste für seine Patienten zu wollen.
Auch aus der Tatsache, dass er als Transplantationsmediziner das Vergabeverfahren kennt und er daher wohl auch eine grundsätzliche Vorstellung über mögliche Konsequenzen einer Manipulation eigener Akten für die Anderen auf der Warteliste haben könnte, ist nicht zwingend vosatzbegründend.
So setzt das „billigende in Kauf nehmen“ zumindest voraus, dass der Täter einen möglichen Todeserfolg überhaupt erkannt, sich mit diesem grundlegend auseinandergesetzt und diesen „ins Bewusstsein“ mit aufgenommen hat (vgl. BGH vom 08.05.2001 – 1 StR 137/01 Rn. 9 = NStZ 2001, 475). Aus dem grundsätzlichen Wissen ist also nicht automatisch die bewusste Inkaufnahme zu folgern (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 14 Rn. 9). Hier ist letztlich der Einzelfall entscheidend. ISd in dubio pro reo-Grundsatzes müsste aber dem Mediziner unterstellt werden, dass das leitende Motiv die Hilfe der eigenen Patienten war und er die möglichen Folgen bei einer Weitergabe der manipulierten Akten an Eurotransplant nicht in seine Überlegungen mit einbezogen hat.
III. § 222 StGB
Der Transplantationsmediziner könnte sich aber weiterhin der fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB strafbar gemacht haben. Eine Zurechnung scheidet jedoch auch aufgrund der Kausalitätproblematik aus. So reicht insbesondere die bloße Erhöhung des Gesundheitsgefährdungsrisikos für einen unbekannten Schwerkranken durch manipulierte Nicht-Zuteilung eines Organs zur Begründung nicht aus (gegen die Risikoerhöhungslehre etwa BGHSt 11, 1; 33, 61; Jakobs, StrafR AT, 2. Aufl., 7/98ff.; dagegen Anhänger der Risikoerhöhungstheorie dagegen Roxin, Strafrecht AT, § 11 Rn. 90; u.a. auch Ebert/Kühl, Jura 1979, 572 f.; Kretschmer, Jura 2000, 274f.)
IV. Ergebnis
Der Transplantationsmediziner hat sich nach hier vertretener Auffassung keines Tötungsdelikts strafbar gemacht.
Bei einer Bejahung des Vorsatzes müssten folgende Überlegungen weiter angestellt werden:
2. Unmittelbares Ansetzen
Der Transplantationsmediziner müsste auch unmittelbar zur Tathandlung angesetzt haben. Darunter ist jede Handlung zu verstehen, die nach der Vorstellung des Täters der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals unmittelbar vorgelagert ist und im Falle ungestörten Fortgangs ohne Zwischenakte in die Tatbestandshandlung unmittelbar einmünden soll (Fischer, StGB, 60. Aufl., § 22 Rn. 10 f. mwN). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil jede falsch gemeldete Dialyse eine Organzuteilung an den eigenen Patienten bewirken sollte, damit unmittelbar die Todesgefahr für die anderen (fremdem) Patienten begründet wurde und insoweit der weitere Verlauf und Ausgang für G nicht mehr steuerbar und auch nicht mehr rückgängig zu machen war.
3. Rechtsfertigungs- und Entschuldigungsgründe
Schließlich dürften keine Rechtsfertigungs- oder Entschuldigungsgründe vorliegen.
a) § 32 StGB
Dazu übersichtlich OLG Braunschweig, aaO, Rn. 52:
„Eine Rechtfertigung wegen Nothilfe gem. § 32 StGB scheidet aus, weil die anderen Patienten trotz der auf der Organknappheit beruhenden Konkurrenzsituation keine Angreifer der vom Beschuldigten behandelten Patienten sind. Dass Patienten mit einem MELD-Score von 40 in der Regel eine deutlich höhere Sterblichkeit nach der Transplantation haben als Patienten mit einem geringeren Zuteilungswert, rechtfertigt, auch wenn das Zuwarten die Chancen der eigenen Patienten auf ein Überleben der Erkrankung deutlich verschlechtert, schon deshalb keine Eingriffe in das Verteilungssystem, weil das Leben des Menschen nach dem Grundsatz des absoluten Lebensschutzes in jeder Phase ohne Rücksicht auf die verbliebene Lebenserwartung den ungeteilten Schutz der Rechtsordnung genießt (vgl. BGHSt 21, 59, 61; LK-Jähnke, StGB, 11. Aufl., Rn. 5 Vor § 211).“
b) § 34 StGB
Auch scheidet der rechtfertigende Notstand gem. § 34 StGB aufgrund der Gleichwertigkeit der betroffenen Rechtsgüter aus (vgl. nur BGHSt 48, 255, 257). Die Manipulationen waren auch nicht durch eine etwaige Pflichtenkollision gerechtfertigt. G war nicht zu einer Rettung seiner Patienten um jeden Preis, insbesondere nicht unter Verletzung der Vergabevorschriften unter Manipulation der Patientendaten, verpflichtet. Ebenfalls ist eine hypothetisch unterstellte mögliche ähnliche Manipulation auch anderer oder aller tätigen Transplanteure als Rechtfertigung nicht geeignet, weil es keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht gibt (LG Braunschweig vom 11. Februar 2013 – 9 Qs 20/13, juris).
c) § 35 StGB
Da es sich bei den durch die Manipulation begünstigten Patienten nicht um dem Beschuldigten nahestehende Personen handelte, scheidet schließlich auch ein entschuldigender Notstand gem. § 35 StGB aus.
d) Ergebnis zu 3.
Es liegen keine Rechtsfertigungs- oder Entschuldigungsgründe vor.
4. Ergebnis
Der Transplantationsmediziner des versuchten Totschlags nach §§ 212 I, 22, 23 I StGB strafbar gemacht.
C. Urkundsdelikte
I. § 267 StGB
Der behandelnde Arzt könnte sich der Urkundenfälschung strafbar gemacht haben, indem er die Krankenakten mit falschem Inhalt angelegt hat. Dabei ist es umstritten, ob es sich bei einer Krankenakte überhaupt um eine Gesamturkunde handelt (Vgl. BeckOK-Weidemann, StGB, § 267 Rn. 13.1 mwN). Dieser Streit kann jedoch ohne Entscheidung bleiben, wenn schon keine tatbestandliche Handlung vorliegt. So kommt eine Verfälschung einer Gesamturkunde durch den Aussteller nur in Betracht, wenn und soweit Teile entfernt oder gelöscht werden nachdem er die Dispositionsbefugnis darüber verloren hat. In Bezug auf Krankenakten ist dort wiederum strittig wann dieser Zeitpunkt einsetzt (vgl. Spickhoff-Schuhr, Medizinrecht, 1. Aufl. 2011, § 267 Rn. 35). Der G legt vorliegend jedoch die Krankenakten schon falsch an. Die inhaltliche Wahrheit wird jedoch gerade nicht von § 267 StGB umfasst (vgl. MüKo-Erb, StGB, § 267 Rn. 9 a.E.; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT I, Rn. 789). Er hat sich damit nicht nach § 267 StGB strafbar gemacht.
II. § 268 I Nr. 1 StGB
Der Arzt könnte sich jedoch nach § 268 I Nr. 1 StGB strafbar gemacht haben, in dem er die Dialyseprotokolle nachträglich verändert. Bei Dialyseprotokollen handelt es sich um technische Aufzeichnungen iSd § 268 II StGB. Das Schutzgut des § 268 StGB ist die Zuverlässigkeit der selbständigen Arbeitsweise des funktionstüchtigen und ordnungsgemäß vorbereiteten Geräts. („Garantiefunktion“ Spickhoff-Schuhr, Medizinrecht, § 268 Rn. 5.) Durch seine Handlung verletzt G genau dieses Gut. Eine Strafbarkeit nach § 268 I Nr. 1 StGBist im Ergebnis zu bejahen.
III. § 278 StGB
Der Transplantationsmediziner könnte sich zudem nach § 278 StGB strafbar gemacht haben, indem er unrichtige Krankenakten an Eurotransplant übermittelt. Er müsste ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde wider besseres Wissen ausgestellt haben.
Gesundheitszeugnisse sind Urkunden mit Tatsachenaussagen über den Gesundheitszustand eines lebenden Menschen. Dazu gehören auch Krankenakten. (MüKo-Erb, StGB, § 277 Rn. 2). Im Gegensatz zu § 267 umfasst § 278 StGB auch die schriftliche Lüge. Die Übermittlung von vornherein falsch angelegter Akten ist somit tatbestandsmäßig.
Fraglich ist jedoch ob es sich bei Eurotransplant auch um eine Behörde iSd §§ 278, 11 Nr. 7 StGB handelt. Eurotransplant ist eine privat gegründete, gemeinnützige Stiftung nach niederländischem Recht mit Sitz in den Niederlanden, welche ermächtigt ist die Verteilungskriterien von Organen zu gewichten und Vermittlungsgsentscheidungen im Einzelfall – mit eigenem Ermessen – zu treffen. Eurotransplant muss gemäß § 12 III TPG nach Regeln vermitteln, die dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen.
Auch ausländische Institutionen sind über § 278 StGB geschützt. Dies allerdings nur dann, wenn sie Behörden sind (MüKo-Erb, § 277 Rn. 8). Nach h.M. wird Behörde als „ständiges, von der Person des Inhabers unabhängiges, in das Gefüge der öffentlichen Verwaltung eingeordnetes Organ der Staatsgewalt mit der Aufgabe, unter öffentlicher Autorität nach eigener Entschließung für Staatszwecke tätig zu sein”(BVerfGE 10, 48; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 11 Nr. 29 mwN) definiert. Eurotransplant müsste somit hoheitlich tätig werden. Dies wäre der Fall, wenn ihr Hoheitsrechte als Aufgabe des Staates übertragen worden wären zur. Faktisch ist zwar die Ausübung von Hoheitsrechten gegeben, es liegt jedoch keine legitime Übertragung von Hoheitsrechten, wie sie Art. 24 GG verlangt vor. Zudem weist Eurotransplant keine Behördenstruktur auf und ist auch nicht in das Gefüge der öffentlichen Verwaltung eingeordnet. Darüber hinaus ist Eurotransplant als privatrechtliche Stiftung organisiert. Dies spricht gegen eine Interpretation als Behörde (ausführlich Schroth, NStZ 2013, 437, 446 f. mwN). Der Ttransplantationsmediziner hat sich somit nicht nach § 278 StGB strafbar gemacht.
IV. Ausblick
Angesichts der jüngsten Skandale um manipulierte Organvergaben hat der Bundestag nun zum 01.08.2013 einen Absatz 2a in § 19 TPG eingefügt (BGBl I, 2423), wonach künftig mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird, wer absichtlich entgegen dem ebenfalls neu eingefügten § 10 III 2 TPG den Gesundheitszustand eines Patienten erhebt, dokumentiert oder übermittelt (NJW-Spezial 2013, 505).
Hinweis
Der Transplantationsskandal ist nicht nur für strafrechtliche Fragestellungen ausgesprochen interessant, sondern enthält auch eine relevante Problematik des öffentlichen Rechts. So ist es stark umstritten, ob die Ermächtigung der Bundesärztekammer zum Erlass von Richtlinien nach § 16 I 1 Nr. 5 TPG, die letztlich über „Leben und Tod“ entscheiden, überhaupt verfassungsgemäß ist oder ob der Gesetzgeber nach der Wesentlichkeitstheorie den Modus der Verteilung lebenswichtiger Organe nicht selbst definieren muss (Schroth/König/Gutmann/Oduncu-Gutmann, TPG, 1. Aufl. 2005, § 16 B II; zu § 12 III TPG Gutmann/Fateh-Moghadam, NJW 2002, 3365).