Wir freuen uns sehr, nachfolgend einen Gastbeitrag von Hüveyda Yilmaz veröffentlichen zu können. Die Autorin hat als Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert und dort während ihres Studiums als studentische Mitarbeiterin an einem strafrechtlich-kriminoligischen Lehrstuhl gearbeitet.
I. Einleitung
Körperverletzungsdelikte spielen in juristischen Examensarbeiten sowie in mündlichen Prüfungen eine große Rolle. Auch § 226 StGB kann im Examen Prüfungsgegenstand sein und sollte in der Vorbereitung nicht vernachlässigt werden. Folgende BGH-Entscheidung (BGH, Urt. v. 7.2.2017 – 5 StR 483/ 16, NJW 2017, 1763) könnte etwa Grundlage einer Prüfung innerhalb der Körperverletzungsdelikte sein. Der BGH geht in der Entscheidung u. a. auf die Frage ein, wie es sich auf die Strafbarkeit gem. § 226 I Nr. 2 StGB auswirkt, wenn das Tatopfer notwendige medizinische Nachsorge nicht vorgenommen hat und so zumindest teilweise die dauernde Gebrauchsunfähigkeit eines wichtigen Körpergliedes mit verursachte. Wie der BGH diese Frage bezogen auf den erforderlichen Zurechnungszusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge entschied, soll im Folgenden dargestellt werden.
II. Sachverhalt
Dem Urteil lag folgender (vereinfachter) Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte A und der Nebenkläger N bewohnten ein Zimmer in einem Asylbewerberheim. Weil A der Freundin des N nachstellte, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen ihnen und N zog aus. Am Tattag begab sich N in das Zimmer des A, um sein Antennenkabel mitzunehmen. Daraus entstand eine verbale Auseinandersetzung, die sich zu einer körperlichen zuspitzte: N schlug dem A ins Gesicht, woraufhin A mit einer Fernbedienung auf den Mund des N zurückschlug. Als beide getrennt wurden und N schon gehen wollte, ergriff A ein Messer und schlug mehrere Male in Richtung des Kopfes und Halses des N. Dieser hob zur Abwehr seine Hände über den Kopf und wurde durch das Messer verletzt. N zog sich Schnittverletzungen an der linken Hand zu. Wegen einer lebensgefährlichen Schlagaderverletzung musste er sich auch einer Notoperation unterziehen. Seitdem ist seine linke Hand nahezu unbrauchbar. Teilweise ist diese Bewegungseinschränkung darauf zurückzuführen, dass der N auf medizinisch notwendige Nachsorge verzichtete. Bei ordnungsgemäßer Nachsorge wäre die Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit deutlich geringer.
III. Problemaufriss
Die schwere Körperverletzung nach § 226 I StGB ist ein erfolgsqualifiziertes Delikt (Fischer, StGB 64. Aufl., § 226 I Rn. 2, 3). Bezogen auf die schwere Folge ist kein Vorsatz, jedoch Fahrlässigkeit erforderlich (vgl. § 18 StGB). Bei dem erforderlichen Zusammenhang zwischen dem Grunddelikt und der schweren Folge reicht eine reine Kausalitätsbeziehung nicht aus. Vielmehr ist ein sog. objektiver Zurechnungszusammenhang notwendig (Anm. Grünewald, NJW 2017, 1765). Dass die linke Hand ein wichtiges Glied i. S. d. § 226 I Nr. 2 StGB ist, das dauernd gebrauchsunfähig geworden ist, müsste in einer Examensarbeit zunächst definiert und sauber subsumiert werden. Hier liegt der Problemschwerpunkt jedoch auf der Frage des Zurechnungszusammenhangs. Ob der Zurechnungszusammenhang durch die fehlende Inanspruchnahme medizinischer Nachsorge entfällt oder weiterhin aufrechterhalten werden kann, wurde folgendermaßen vom BGH entschieden:
IV. Lösung des BGH
Der BGH geht davon aus, dass (dem zugrundeliegenden Sachverhalt nach) auch im Falle einer Nichtvornahme medizinischer Nachsorge der Zurechnungszusammenhang zwischen dem Grunddelikt und der schweren Folge vorliegt. Begründet wird dies unter anderem dadurch, dass der Täter zumindest mitkausal für die schwere Folge sei und die schwere Folge auch vorhersehbar wäre. Die vorhersehbare Dauerhaftigkeit des Funktionsverlustes der linken Hand beruhe auf der Verletzungshandlung des Angeklagten. Hierbei sei nicht notwendig, dass die Körperverletzung die ausschließliche Ursache des nicht wiedergutzumachenden Schadens ist. Der Umstand, dass die fehlende Nachsorge nicht vorgenommen worden sei, ändere nichts an der Vorhersehbarkeit.
Weiterhin führt er aus:
„Das im Anwendungsbereich des § 226 StGB ohnehin stets außerordentlich schwer getroffene Opfer wird – hier nicht gegebene extrem gelagerte Konstellationen etwa der Böswilligkeit ausgenommen – in aller Regel aus Tätersicht nicht zu hinterfragende Gründe haben, weitere Behandlungen nicht auf sich zu nehmen, selbst wenn diese nach ärztlicher Beurteilung sinnvoll wären.“
Ebenso werden Motive seitens des Opfers aufgegriffen, wie etwa Furcht vor (Folge-)Operation und damit verbundenen Risiken und Leiden und zugunsten des Opfers gewertet:
„Es würde jeglichem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, über den Gedanken der Zurechnung eine Art Obliegenheit des Opfers zu konstruieren, sich ungeachtet dessen aus übergeordneter Sicht zumutbaren (Folge-) Operationen und andere beschwerlichen Heilmaßnahmen zu unterziehen, um dem Täter eine höhere Strafe zu ersparen. Darüber hinaus würde dem irreversibel geschädigten Opfer gegebenenfalls durch Gerichtsurteil bescheinigt, es sei gar nicht auf Dauer beeinträchtigt.“
Auch sei nicht ersichtlich, das Kriterium der Zumutbarkeit als Gradmesser heranzuziehen. Die Zumutbarkeitsbetrachtung würde beispielsweise bei der Heranziehung der Finanzierbarkeit (der Folgemaßnahmen) zu einer Entscheidung führen, die endgültig zu zufälligen Ergebnissen führen könnte.
V. Lösungsansätze in der Literatur
In der Literatur wird hingegen vertreten, dass die Dauerhaftigkeit der schweren Folge dem Täter dann nicht mehr zugerechnet werden kann, wenn die medizinische Nachsorge bzw. die Beseitigung der schweren Folge oder auch Abmilderung dem Opfer machbar oder zumutbar gewesen wäre (vgl. etwa MüKoStGB/Hardtung, 2. Aufl., § 226 Rn. 42). Dies wird anhand einer wertenden Abwägung vorgenommen, bei dieser auch Kriterien der Erfolgsaussichten der Operation, Risiken und auch Finanzierbarkeit der Nachsorge eine Rolle spielen (Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 18. Aufl., § 15 Rn. 23). Bei der Beurteilung der zugrundeliegenden Frage können aber auch allgemeine Zurechnungsregeln mit einbezogen werden (vgl. Urteilsanmerkung Grünewald, NJW 2017, 1765). Gegen den Zurechnungszusammenhang in diesem Falle spräche, dass ärztliche Konsultationen zu keinem Risiko und auch zu keiner Überforderung des Tatopfers führen und daher dem Tatopfer zumutbar seien (Eisele, JuS 2017, 894). Der BGH hingegen wendet gegen diese wertenden Kriterien und Faktoren ein, dass sie geeignet seien, gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG zu verstoßen. In Anbetracht der Tatsache, dass wertende Kriterien (wie etwa eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls im Bereich der Vorsatzermittlung) im Strafrecht häufig Gegenstand der Normsubsumtion sind, müsste dies konsequenterweise auch in anderen Kontexten eine Gefährdung des Bestimmtheitsgebots zur Folge haben (hierzu Eisele, JuS 2017, 895).
VI. Fazit
Wie in anderen Examensarbeiten in der ersten juristischen Prüfung können bei guter Begründung beide Ansichten vertreten werden. Auch wenn die Entscheidung vorher nicht bekannt war, ist mit allgemeiner strafrechtlicher Argumentation (etwa mit der Heranziehung von Zumutbarkeitserwägungen oder wertende Kriterien bzw. Opfermitverantwortlichkeit) die richtige Handhabung der Problematik möglich.