Das Bundesverfassungsgericht hat in einem jetzt veröffentlichten Beschluss des Zweiten Senats vom 17.09.2013 (2 BvR 2436/10; 2 BvE 6/08) entschieden, dass die Überwachung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages durch Verfassungsschutzbehörden einen Eingriff in das freie Mandat nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG darstellt und aus diesem Grund strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen unterliegt und einer Rechtsgrundlage, die den Grundsätzen des Gesetzesvorbehalts genügt, bedarf.
Der Fall ist auch für das Examen von großer Bedeutung, da er sehr gut die Bedeutung des freien Mandats und die (sehr restriktiv auszulegende) Möglichkeit seiner Einschränkung zeigt.
I. Verfahrensgang
Das Bundesverfassungsgericht fasste hier zwei Verfahren zusammen. Zum einen eine Urteilsverfassungsbeschwerde eines Abgeordneten gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Überwachung für rechtmäßig hielt (Beschluss vom 23. Juli 2010 – 20 F 8/10), zum anderen ein Organstreitverfahren der Fraktion „Die Linke“ gegen das Bundesministerium des Inneren bzw. gegen die Bundesregierung, da es diese – kurz gesagt – keine Einstellung der Überwachung angeordnet haben.
Beantragt wurde (hier gekürzt dargestellt):
1. Die Antragsgegnerin (BReg). und ihre Mitglieder sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages ihr Abgeordnetenmandat frei und unbeeinträchtigt durch Maßnahmen der Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz ausüben können.
2. BReg. und BMI haben, indem sie es unterlassen haben, das Bundesamt für Verfassungsschutz anzuweisen, die Beobachtung des Antragstellers zu 1. einzustellen, gegen Artikel 46 Absatz 1, Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue verstoßen.
3. BReg. und BMI haben, indem sie es unterlassen haben, das Bundesamt für Verfassungsschutz anzuweisen, die Beobachtung von Angehörigen der Fraktion „Die Linke“ angehörender Bundestagsabgeordneter einzustellen, gegen den Grundsatz der Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages in Verbindung mit Artikel 46 Absatz 1, Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes verstoßen.
Dies Anträge wurden allesamt als unzulässig abgelehnt:
Der Antrag zu 1 ist bereits deshalb unstatthaft, weil mit ihm weder eine konkrete rechtserhebliche Maßnahme noch ein solches Unterlassen beanstandet wird.
Die Anträge zu 2 und 3 sind unzulässig, weil die Antragsteller jeweils aus unterschiedlichen Gründen nicht antragsbefugt sind.
Somit verbleibt allein die Verfassungsbeschwerde des Abgeordneten, mit der sich der nachfolgende Beitrag befassen wird.
II. Sachverhalt
Der Verfassungsbeschwerde, bzw. den vorausgehenden Urteilen der Verwaltungsgerichte, lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet einzelne Mitglieder des Deutschen Bundestages, die der Fraktion DIE LINKE angehören. Von den 53 Mitgliedern der Fraktion wurden in der 16. Legislaturperiode 27 durch das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet, darunter der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Dieser war ab Oktober 1999 Mitglied des Thüringer Landtags. Von Oktober 2005 bis September 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und der Fraktion DIE LINKE sowie deren stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Seit Herbst 2009 ist er Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag.
Nach den Feststellungen der Fachgerichte ist der Beschwerdeführer individuell nicht verdächtig, Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu verfolgen. Seine Beobachtung wird ausschließlich mit seiner Mitgliedschaft und seinen Funktionen in der Partei DIE LINKE beziehungsweise zuvor der PDS und der Linkspartei.PDS begründet.
Zu diesem Sachverhalt entschied das Bundesverwaltungsgericht:
§ 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG decke die Erhebung von Informationen über den Beschwerdeführer mit den Mitteln der offenen Informationsbeschaffung, weil Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Partei DIE LINKE verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolge, und die Informationserhebung auf den Beschwerdeführer als eines ihrer herausgehobenen Mitglieder erstreckt werden dürfe.
Hiergegen wandte sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde.
III. Entscheidung des BVerfG
Auf die Darstellung der Zulässigkeit wird hier, da an dieser Stelle keine Probleme auftraten, verzichtet. In der Klausur wäre dies selbstverständlich nicht möglich.
1. Prüfungsmaßstab
Überprüft wird vom BVerfG hier nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts durch das BVerwG; das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz. Insofern beschränkt sich die Prüfung hier auf das durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistete Recht.
2. Verletzung von Art. 38 GG
Das Bundesverfassungsgericht erkannte zunächst auf eine Verletzung des Rechts am freien Mandat, das durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistet ist. Hierzu wurde dargelegt:
Das freie Mandat gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet die freie Willensbildung des Abgeordneten und damit auch eine von staatlicher Beeinflussung freie Kommunikationsbeziehung zwischen dem Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern (1.) sowie die Freiheit des Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle (2.). Dies gilt über Art. 28 Abs. 1 GG auch für die Mitglieder der Volksvertretungen der Länder (3.). In der Beobachtung eines Abgeordneten durch Verfassungsschutzbehörden sowie der damit verbundenen Sammlung und Speicherung personenbezogener Daten liegt ein Eingriff in diesen Gewährleistungsgehalt (4.).
Dabei wird klargestellt, dass der gesamte Kommunikationsprozess des Abgeordneten weitreichend geschützt ist und demnach eine Überwachung und Aufsicht unzulässig ist:
Der kommunikative Prozess, bei dem der Abgeordnete nicht nur Informationen weitergibt, sondern auch Informationen empfängt, ist vom Schutz des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG umfasst.
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet in diesem Zusammenhang die Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle und steht insoweit in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG.
Fraglich war an dieser Stelle nur, ob eine Überwachung auch dann bereits diese Freiheit verletzt, wenn sie nicht heimlich erfolgt, sondern sich auf eine Sammlung öffentlich zugänglicher Dokumente beschränkt. Dies wird vom BVerfG recht schnell bejaht. entscheidend sei hier die Stigmatisierung einer solchen Überwachung.
Die bloße Möglichkeit einer staatlichen Registrierung von Kontakten kann eine abschreckende Wirkung entfalten und schon im Vorfeld zu Kommunikationsstörungen und Verhaltensanpassungen führen.
Die Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes stellt schließlich auch deshalb einen Eingriff in die Freiheit des Abgeordnetenmandats dar, weil damit der im Grundgesetz vorgesehene typische Kontrollzusammenhang zwischen Legislative und Exekutive umgekehrt wird. Darin liegt eine Beeinträchtigung des normativen Status des Abgeordneten, ohne dass es dabei auf eine faktische Beeinflussung der parlamentarischen Willens- und Entscheidungsbildung ankäme.
Bereits der Überwachungsakt an sich ist damit ein Eingriff und eine Belastung. Konkrete Auswirkungen müssen sich hieraus gerade nicht ergeben.
3. Rechtfertigungsmöglichkeit
Gleichwohl ist eine Rechtfertigung eines solchen Eingriffs möglich; auch das Recht am freien Mandat besteht nicht schrankenlos. Das BVerfG stellt hierzu fest:
Der in der Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes und der damit verbundenen Sammlung und Speicherung von Daten liegende Eingriff in das freie Mandat kann im Einzelfall im Interesse des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerechtfertigt sein (a), er unterliegt jedoch strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen (b) und bedarf einer Rechtsgrundlage, die den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügt (c).
Eine hinreichende Rechtsgrundlage (Vorbehalt des Gesetzes; ggf. konkretisiert durch Art. 38 Abs. 3 GG) liegt in Form der Regelung des Bundesverfassungschutzgesetzes vor. Allerdings ist die Beobachtung im konkreten Fall unverhältnismäßig. Eine Rechtfertigung lässt sich nur mit dem Ziel des Schutzes der freiheitlich demokratischen Grundordnung herbeiführen. Dies wird zwar im konkreten Fall auch angeführt. Zwar wird erkannt, dass in der Partei „Die Linke“ entsprechende Strömungen existieren, der Beschwerdeführer gehört aber keiner solchen Strömung an:
Es bestehen daher keine Anhaltspunkte dafür, dass das politische Verhalten des Beschwerdeführers als Abgeordneter von den gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Anschauungen betreffenden Gruppierungen beeinflusst worden wäre. Von dem Beschwerdeführer selbst geht folglich auch unter Einbeziehung seines Verhältnisses zu der Partei DIE LINKE und den dort vorhandenen Strömungen kein relevanter Beitrag für eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus. Im Übrigen könnte das Verhalten des Beschwerdeführers – insbesondere, ob er die radikalen Kräfte aktiv bekämpft – seine Beobachtung allenfalls dann rechtfertigen, wenn diesen Kräften bereits ein bestimmender Einfluss innerhalb der Partei zukäme. Dafür ist im fachgerichtlichen Verfahren nichts festgestellt.
Es ist damit ein eigener Beitrag erforderlich, der gegen die demokratische Ordnung gerichtet ist. Dies liegt hier nicht vor. Ein Unterlassen von Gegenmaßnahmen wäre nur dann relevant, wenn die Strömungen eine starke Bedeutung innerhalb der Partei haben. Auch dies scheidet hier aus.
Verfassungsrechtlich nicht haltbar ist nach den obigen Maßstäben die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, die Tätigkeit des Beschwerdeführers sei dennoch objektiv geeignet, die verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu unterstützen; gefährlich für die freiheitliche demokratische Grundordnung könnten auch Personen sein, die selbst auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stünden, jedoch bei objektiver Betrachtung durch ihre Tätigkeit verfassungsfeindliche Bestrebungen förderten, ohne dies zu erkennen oder als hinreichenden Grund anzusehen, einen aus anderen Beweggründen unterstützten Personenzusammenhang zu verlassen.
Insofern liegt eine nicht gerechtfertigte Verletzung des Rechts auf ein freies Mandat aus Art. 38 abs. 1 S. 2 GG vor.
Mögliche andere verletzte Grundrechte – Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 GG), das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie das Recht auf chancengleiche Teilnahme an Parlamentswahlen – wurden vom BVerfG nicht mehr geprüft. Es wird insbesondere das Verhältnis dieser Grundrechte zu Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht näher problematisiert. Hier wäre aber wohl von einer Subsidiarität auszugehen.
IV. Bewertung/ Examensrelevanz
Das Urteil überzeugt vollständig. Bereits dem Studenten in den Anfangssemestern ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip wohlbekannt. Dass ein Eingriff in ein (Grund)recht ohne individuelles Verschulden oder ohne individuelle Fehler schwer zu rechtfertigen sein dürfte, sollte demnach jedem einleuchten.
Der Fall eignet sich, insbesondere auch durch den Umweg über das Organstreitverfahren, sehr gut für eine Examensklausur. Dort käme es dann auf eine saubere Prüfung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und der möglichen Rechtfertigungsgründe an. Hier bedarf es dann einer geordneten und stimmigen Argumentation. Berücksichtigt man dies, sollte der Fall in der Klausur gut lösbar sein.