Das Oberlandesgericht Hamm hat sich in seiner Entscheidung vom 18.09.2012 (erschienen am 29.05.2013, Az. 9 U 162/11) mit den Anforderungen an den Nachweis der Verwirklichung einer Tiergefahr i.S.d. § 833 S. 1 BGB befasst.
I. Sachverhalt
Die Klägerin, eine erfahrene Reiterin, erlitt am 28.12.2007 mit einem von der Beklagten gehaltenen Pferd einen Reitunfall. Sie stürzte auf einem unbegleiteten Ausritt von dem Pferd und zog sich schwere Verletzungen zu. Darüber hinaus erlitt sie ein Unfalltrauma, so dass sie über keine konkrete Erinnerung an das Unfallgeschehen verfügt.
Sie behauptet, das Tier habe unerwartet gescheut und sei unkontrolliert durchgegangen, so dass sich in dem Unfall eine typische Tiergefahr verwirklicht habe. Das Pferd sei ins Unterholz durchgebrochen, weswegen sie mit einem Ast kollidiert und vom Pferd gestürzt sei.
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schadensersatz, u.a. ein Schmerzensgeld und den Ausgleich einer monatlichen Erwerbsminderung.
Das Landgericht Bielefeld hatte die Klage abgewiesen.
II. Entscheidung
Das Oberlandesgericht Hamm hat die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt.
Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, die Voraussetzungen einer Tierhalterhaftung der Beklagten gem. §§ 833 S. 1, 253 Abs. 2 BGB lägen nicht vor. Es sei nicht festzustellen, dass der Unfall gem. § 833 S. 1 BGB „durch ein Tier“, also durch das Pferd der Beklagten, verursacht worden sei und sich eine typische Tiergefahr verwirklicht habe. Zur Begründung hat das Oberlandesgericht Hamm auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verwiesen. Nach dieser äußere sich eine typische Tiergefahr in einem der tierischen Natur entsprechenden unberechenbaren und selbstständigen Verhalten des Tieres. Folgt das Tier lediglich der Leitung und dem Willen eines Menschen und resultiert nur daraus der Schaden, weil er in einem solchen Fall durch den Menschen verursacht werde, könne diese Voraussetzung fehlen.
Die Beweislast dafür, dass die Verletzung bzw. der Schaden durch ein Tier eingetreten sei, trage nach Ansicht von Literatur und Rechtsprechung der Verletzte. Dies sei der Klägerin vorliegend nicht gelungen. Sie habe nicht beweisen können, dass ein der tierischen Natur entsprechendes Verhalten des Pferdes zu dem Unfall geführt hat. Nicht jeder Sturz eines Reiters vom Pferd sei auf ein tierisches Verhalten zurückzuführen. Es gebe keine Vermutung oder einen Beweis des ersten Anscheins, dass ein solcher Sturz Folge eines unberechenbaren Verhaltens des Pferdes ist. Die Gefahr, vom Pferd zu stürzen sei untrennbar mit dem Reitsport verbunden. Der Sturz von einem Pferd könne auch durch das Verhalten des Reiters verursacht worden sein.
III. Examensrelevanz
Die Rechtssprechung hat in der Vergangenheit einige Fälle zur Tierhalterhaftung gem. § 833 BGB entschieden. Außerdem haben in letzter Zeit häufig Pferde eine Rolle in Sachverhalten von Examensklausuren gespielt. Daher sollten die Grundzüge des § 833 BGB, an den stets im Zusammenhang mit Tieren zu denken ist, im Staatsexamen beherrscht werden.
1. Die Gefährdungshaftung gem. § 833 S. 1 BGB
Unter der Voraussetzung, dass das von ihm gehaltene Tier einem Dritten rechtswidrig einen Schaden zufügt, wird eine Haftung des Tierhalters begründet. Die Haftung tritt dabei ohne Verschulden des Tierhalters ein. Der Schaden muss dabei „durch ein Tier“ verursacht worden sein, es muss ein Zurechnungszusammenhang zwischen dem Verhalten des Tieres und dem Schaden bestehen. Dabei muss sich eine besondere Gefahr, die typische Tiergefahr, realisiert haben. Diese besteht darin, dass ein unberechenbares und selbstständiges Verhalten (z.B.: Durchgehen eines Pferdes, Beißen eines Hundes) der tierischen Natur entspricht. Dies ist auch der Grund für die strenge Tierhalterhaftung: Dieses unberechenbare und selbstständige Verhalten kann der Tierhalter nicht vollständig beherrschen, daher eröffnet er mit der Haltung des Tieres eine Gefahrenquelle. Dadurch ist eine strenge verschuldensunabhängige Haftung gerechtfertigt.
Auch andere Tätigkeiten werden von der Rechtsordnung trotz ihrer erhöhten Gefährlichkeit erlaubt, weil sie sozial besonders nützlich und erwünscht sind (z.B. der Betrieb eines Kfz). Realisiert sich diese Gefahr und kommt es ohne Verschulden des Halters zu einem Schaden bzw. kann der Verletzte das Verschulden nicht nachweisen, wäre es unbillig, den Verletzten den Schaden tragen zu lassen. Die Gefährdungshaftung soll deshalb Schäden erfassen, die sich aus der besonderen Gefahr der betreffenden Handlung ergeben. Die Tierhalterhaftung gem. § 833 BGB ist der einzige Gefährdungshaftungstatbestand, der im BGB geregelt ist. Weitere Tatbestände der Gefährdungshaftung, denen eine besondere Bedeutung sowohl für die Praxis als auch für das Studium zukommt, sind insbesondere die Fahrzeughalterhaftung nach § 7 Abs. 1 StVG und die Produkthaftung nach § 1 Abs. 1 ProdHaftG.
2. Die Haftung für vermutetes Verschulden, § 833 S. 2 BGB
Für Nutztiere hingegen besteht gem. § 833 S. 2 BGB eine eingeschränkte Haftung für vermutetes Verschulden. Nutztiere sind Haustiere, die dem Beruf, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt sind (z.B. vom Landwirt gehaltenes Nutzvieh). Es werden unter den Voraussetzungen des S. 1 zwei Vermutungen zugunsten des Geschädigten begründet: zum einen, dass der Tierhalter seine Pflicht schuldhaft verletzt hat und zum anderen, dass zwischen der Pflichtverletzung und dem eingetretenen Schaden ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Es wird also grundsätzlich davon ausgegangen, dass den Tierhalter ein Verschulden trifft und er zum Schadensersatz verpflichtet ist. Gelingt dem Tierhalter jedoch der Nachweis, dass er bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat (Widerlegung der Verschuldensvermutung) oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden wäre (Widerlegung der Kausalitätsvermutung), haftet er nicht nach § 833 BGB.
IV. Fazit
Wird ein Fall wie der solche in einer Examensklausur gestellt, könnte man dazu neigen, unter dem Stichwort der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung vorschnell eine Haftung des Tierhalters nach § 833 BGB anzunehmen.
§ 833 S.1 BGB als Tatbestand der Gefährdungshaftung soll zwar die Haftung des Tierhalters verschärfen und ihn auch haften lassen, wenn ihn kein Verschulden trifft bzw. dem Verletzten der Nachweis des Verschuldens nicht gelingt. Dass aber überhaupt die Voraussetzungen des Tatbestands vorliegen, also insbesondere dass die Rechtsgutsverletzung durch ein Tier verursacht wurde und sich eine typische Tiergefahr realisiert hat, muss der Verletzte auch bei der Gefährdungshaftung beweisen. Alleine die Tatsache, dass der Schaden kausal auf dem Verhalten des Tieres beruht, genügt nicht für eine Haftung nach § 833 S. 1 BGB. In dem Schaden muss sich also stets die Unberechenbarkeit und Selbstständigkeit des tierischen Verhaltens und die daraus resultierende Gefährdung realisieren. Beruht die Verursachung des Schadens auf einem tierischen Verhalten unter menschlicher Leitung und gehorcht das Tier dem Willen seines Lenkers, liegt keine tierspezifische Gefahr vor. Sie liegt jedoch vor, wenn das Tier anders reagiert, als vom Menschen beabsichtigt (z.B. Durchgehen, Losgaloppieren). Hätte die Klägerin also vorliegend beweisen können, dass das Pferd unerwartet gescheut und durchgegangen ist, wäre eine tierspezifische Gefahr anzunehmen gewesen.
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