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Schlagwortarchiv für: Tatbestandsirrtum

Gastautor

Errare humanum est – Einführung in die strafrechtliche Irrtumslehre

Rechtsgebiete, Startseite, Strafrecht, Strafrecht AT, Verschiedenes

Der heutige Beitrag resultiert aus einer Kooperation zwischen juraexamen.info und dem Phi Delta Phi – Michael Hoffmann-Becking Inn Frankfurt am Main. Das Michael Hoffmann-Becking Inn ist Teil der weltweiten Juristenorganisation und Honor Society Phi Delta Phi, welche die älteste noch bestehende Juristenvereinigung amerikanischen Ursprungs darstellt (siehe hierzu etwa bei Wikipedia). Künftig wird im Rahmen der Kooperation in regelmäßigen Abständen ein Artikel erscheinen, der sich inhaltlich an dem bestehenden Konzept von juraexamen.info ausrichtet.
Diesen Monat stammt der Beitrag von dem Phi Delta Phi Mitglied Manuel Köchel. Er ist externer Doktorand bei Prof. Bosch am Lehrstuhl Strafrecht I in Bayreuth und Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Wirtschaftskanzlei in Frankfurt am Main.
I. Einleitung
„Errare humanum est“: Der Irrtum gilt als Kehrseite des Wissens einer Person. Während Irrtümer im Öffentlichen Recht, wenn überhaupt, stiefmütterlich behandelt werden und im Zivilrecht abgesehen von den §§ 119 ff. BGB auch eher einen Randbereich des juristischen Curriculums ausmachen, nehmen entsprechende Fehlvorstellungen in der strafrechtlichen Falllösung einen nicht nur unwesentlichen Bestandteil ein. Der nachfolgende Beitrag beleuchtet die strafrechtliche Irrtumslehre, welcher ab dem ersten Semester bis zum Ende einer jeden juristischen Ausbildung uneingeschränkte Relevanz beizumessen ist. Aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrads und der mannigfaltigen Terminologie wird diese Thematik von den Studierenden gerne aufgeschoben. Statt sich von Einzelfall zu Einzelfall zu hangeln, sollte man sich von den zahlreichen Einzelbegriffen der Lehrbuchs- und Kommentarliteratur lösen und sich zuvörderst auf die Grundstruktur der Irrtumslehre besinnen.
Vorangestellt sei in diesem Zusammenhang noch die Ausgangsüberlegung, dass sich vorsätzliche Erfolgsdelikte aus einem Erfolgsunrecht (= Eintritt eines Erfolgs, welcher im Widerspruch zur Rechtsordnung steht) und einem Handlungsunrecht (= rechtsfeindliche Gesinnung des Täters, welche in seinem Verhalten für die Außenwelt in Erscheinung tritt) zusammensetzen. Während ein abgelöster Handlungsunwert zu einer Bestrafung des Täters führen kann (bspw. im Wege der Versuchsstrafbarkeit), ist das für ein selbstständiges Erfolgsunrecht nie der Fall (der Tot eines Menschen wird erst dann für § 212 StGB relevant, wenn er auf ein Verhalten des Täters zurückgeführt werden kann).
Die Grundstruktur des Irrtumsbegriffs ist aufgrund der Ausgangsdefinition vergleichsweise simpel: „Irrtum ist jede Abweichung subjektiv Vorgestellten vom objektiv Vorhandenen„. Unterscheidet man im Hinblick auf diese Fehlvorstellung zwischen einer Komponente der Unkenntnis („Täter hat keine Kenntnis davon, dass …“) und einer Komponente der irrigen Annahme („Täter geht irrig davon aus, dass …“) und übertragt man dies auf die drei Prüfungsschritte der juristischen Falllösung – Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld – so gelangt man auf Basis dieser Struktur zu lediglich sechs Irrtumskonstellationen.

    TB

          Unkenntnis                  RW             irrige Annahme

       Schuld

 
Ergänzt werden kann dieses Grundmuster dann noch durch weitere zusätzliche Kriterien (Bezugspunkt der Fehlvorstellung im Sinne eines Irrtums über einen tatsächlichen Umstand oder eine rechtliche Wertung – dann sind 12 Konstellationen denkbar – bzw. darüber, ob sich der Irrtum zu Gunsten oder zu Ungunsten des Täters auswirkt, etc.).

          TB

         Tatsächlicher Umstand        RW            Rechtlicher Umstand

           Schuld

                                                                                                                                                                                                   

        TB

          Zugunsten des Täters                 RW            Zuungunsten des Täters

          Schuld

 
Im Folgenden soll der Übersichtlichkeit halber zunächst auf die sechs Ausgangskonstellationen betreffend die Irrtümer hinsichtlich der Unkenntnis und irrigen Annahme tatsächlicher Umstände eingegangen werden (II.) und im Anschluss auf die sechs Ausgangskonstellationen über die Irrtümer im Hinblick auf die Unkenntnis und irrige Annahme rechtlicher Bewertungen (III.). Außen vor bleiben im Folgenden Irrtümer im Zusammenhang mit der Beteiligungslehre und den Unterlassungsdelikten. Auf die Verwendung der herkömmlichen Nomenklatur der Irrtumsumschreibungen wird aufgrund des Grundlagencharakters dieses Beitrags ausdrücklich verzichtet. Sobald der Prüfling das Konzept durchdrungen hat, können die relevanten Begriffe jederorts nachgelesen werden. Entscheidend für die Klausur ist vielmehr, dass die jeweilige Irrtumsproblematik korrekt im Prüfungsaufbau verortet wird und gerade nicht, dass das entsprechende Schlagwort fällt. Selbstverständlich fällt es positiv auf, wenn der Bearbeiter zusätzlich noch den entsprechenden Fachterminus nennt. Wer lediglich den Begriff nennt, dabei aber nicht oder nur unzureichend die zutreffende rechtliche Würdigung bzw. Subsumtionsarbeit leisten kann, hat aus Prüfersicht rasch den Stempel des bloßen „Auswendiglerners“ auf der Stirn stehen.
II. Der Irrtum über tatsächliche Umstände
1. Tatbestand
Der erste Prüfungspunkt im Rahmen des dreigliedrigen Deliktsaufbaus ist regelmäßig der Tatbestand. Dieser setzt sich aus dem objektiven und dem subjektiven Tatbestand, ggf. noch aus einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit (bspw. die Rauschtat bei § 323a StGB) zusammen. Der objektive Tatbestand der Erfolgsdelikte lässt sich weiter in die Handlung des Täters, den Erfolgseintritt, die Kausalität sowie die objektive Zurechnung untergliedern. Demgegenüber setzt sich der subjektive Tatbestand im Wesentlichen aus dem Vorsatz und z. T. aus sonstigen subjektiven Merkmalen (die Zueignungsabsicht bei § 242 StGB oder die Bereicherungsabsicht bei § 263 StGB) zusammen. Der Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB stellt die Kehrseite des Wissenselementes des Vorsatzes dar. Um die Rechtsfolge des § 16 Abs. 1 StGB zu erreichen, muss diese Fehlvorstellung sich nur auf einen einzigen relevanten Tatumstand beziehen.
a. Unkenntnis
Nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB handelt derjenige ohne Vorsatz der „bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt“ (, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört). Bedeutung gewinnt hierbei die Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Tatbestandsmerkmalen (klassisches Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Entfernen der Striche auf dem Bierdeckel als Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB).

§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB „Unkenntnis“

objektiver Tatbestand (+)                    subjektiver Tatbestand (-)

 
Bsp.: B führt im Wald Schießübungen durch. Dabei erschießt er den X, ohne diesen erkannt zu haben.
Prüfungsort: subjektiver Tatbestand (Vorsatz bzgl. des konkreten Tatbestandsmerkmals; hier: Tatobjekt gem. § 212 Abs. 1 StGB „Mensch“). Ggf. Strafbarkeit aus dem (falls vorhandenen) Fahrlässigkeitstatbestand nach § 16 Abs. 1 S. 2 StGB; hier: fahrlässige Tötung nach § 222 StGB.
b. Irrige Annahme
Geht der Täter hingegen irrtümlich von einem anderen als dem tatsächlich vorliegenden Geschehen aus, liegt konstruktiv ein Versuch vor. Dies ergibt sich aus der vorangestellten Differenzierung zwischen dem Handlungs- und dem Erfolgsunrecht.

§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB „Unkenntnis“

objektiver Tatbestand (-)                    subjektiver Tatbestand (+)

 
Bsp.: B schießt auf ein Reh, weil er es für den X hält.
Prüfungsort: Subjektiver Tatbestand bzw. Tatentschluss (Vorsatz bzgl. des konkreten Tatbestandsmerkmals; hier: Tatobjekt gem. § 212 Abs. 1 StGB „Mensch“). Ggf. Strafbarkeit aus dem (falls vorhandenen) Versuch und dem Fahrlässigkeitstatbestand; hier: fahrlässige Sachbeschädigung ist nicht strafbar, vgl. § 16 Abs. 1 S. 2 StGB, aber ggf. versuchter Totschlag nach §§ 212, 22, 23 Abs. 1 StGB.
c. Sonderfälle
Lediglich hingewiesen werden soll in diesem Kontext auf die Spezialprobleme des sog. „error in persona vel in obiecto“; der „aberratio ictus“; dem Zusammentreffen von „error in persona vel in obiecto“ und „aberratio ictus“, sowie dem Irrtum über den Kausalverlauf („mittelbare Individualisierung“); § 16 Abs. 2 StGB.
2. Rechtswidrigkeit
Ein vollständiges Unrecht setzt neben der Subsumtion unter den strafrechtlichen Tatbestand auch das Fehlen eines (un-)geschriebenen Rechtfertigungsgrundes voraus. Das Verhältnis wird regelmäßig mit dem Satz umschrieben: „die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit“. Wie den Tatbestand kann man auch die Rechtfertigungsebene in einen objektiven und einen subjektiven Teil aufspalten. Während der objektive Teil das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungselemente (diese ergeben sich bei den gesetzlich normierten Rechtfertigungsgründen aus dem Gesetz) verlangt, erfordert das subjektive Pendant, dass der Täter in Kenntnis der tatsächlichen Sachlage und aufgrund der ihm dadurch zustehenden Befugnis handelt. Kontrovers wird die Rechtsfolge bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements diskutiert.
a. Unkenntnis
Die Fälle der mangelnden Kenntnis tatsächlicher Umstände, die den Täter rechtfertigen, zeichnen sich durch das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements aus.

Rechtfertigung

obj. rechtfertigende Lage (+)           subj. Rechtfertigungselement (-)

 
Bsp.: X erschießt den T, weil er ihn nicht leiden kann, ohne zu erkennen, dass T gerade dabei war auf den ahnungslosen A anzulegen und diesen zu erschießen.
Prüfungsort: Subjektives Rechtfertigungselement; zum einen strittig, ob subjektives Rechtfertigungselement generell erforderlich ist (so die h. M.). Zum anderen unterschiedliche Auffassung darüber, ob aus vollendeter oder versuchter Tat zu bestrafen ist.
b. Irrige Annahme
Hier stellt sich der Täter irrtümlich Tatsachen vor, bei deren Vorliegen er gerechtfertigt wäre. Das Merkmal des subjektiven Rechtfertigungselements kann bejaht werden, allerdings erfüllt das objektive Geschehen nicht die vom Gesetz vorgesehenen Rechtfertigungsmerkmale.

Rechtfertigung

obj. rechtfertigende Lage (-)            subj. Rechtfertigungselement (+)

 
Bsp.: B streckt den X mit einem Faustschlag nieder, da er davon ausgeht von X angegriffen zu werden.
Prüfungsort: Nach wohl hA im Rahmen der Schuld (ansonsten je nach vertretener Meinung). Nach der eingeschränkten Schuldtheorie § 16 Abs. 1 S. 1 StGB analog (zum Umgang mit dem ETBI in der Klausur). Ggf. Fahrlässigkeitsdelikt; hier: fahrlässige Körperverletzung nach § 229 StGB.
Prüfungsort:
(1) TB
(2) RW
Hier handelt der Täter rechtswidrig, weil obj. gerade kein Rechtfertigungsgrund vorliegt.
(3) Schuld
Klausurvorschlag: Vorab sollte der Bearbeiter sich überlegen, welcher Theorie im Rahmen der Falllösung gefolgt wird, weil davon der Prüfungsort abhängt. Folgt man der hM (eingeschränkten rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie) hat man den Diskurs in der Schuld, genauer gesagt in der Vorsatzschuld zu prüfen.
„Der Vorsatzschuldvorwurf könnte entfallen, wenn der Täter sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befunden hätte.“
(a) Vorliegen eines ETBI
Dazu müsste sich der Täter Umstände vorgestellt haben, bei deren Vorliegen er tatsächlich gerechtfertigt gewesen wäre (siehe oben unter 2 b.)  inzidente Prüfung des entsprechenden Rechtfertigungsgrundes aus der Sicht des Täters
(b) Auseinandersetzung mit den Theorien
Klausurtipp: in einer Strafrechtsklausur wird man je nach Umständen des Falles nicht die Zeit haben auf alle Theorien einzugehen. Es bietet sich an, neben der Meinung, der schlussendlich gefolgt wird, auf zwei weitere Ansichten einzugehen (zum Umgang mit dem ETBI in der Klausur).
3. Schuld
Neben dem Tatbestand und der (indizierten) Rechtswidrigkeit setzt die volle Strafbarkeit des Delinquenten dessen entsprechende Schuld voraus. Der Gesetzgeber hat gewisse außergewöhnliche Motivationslagen erkannt, die eine Bestrafung trotz tatbestandlichem und rechtswidrigem Geschehensablauf nicht erfordern. Das vom Täter verwirklichte Unrecht bleibt allerdings insofern bestehen, als es Anknüpfungspunkt für ein Teilnahmedelikt sein mag. Der letzte Prüfungsstein des dreigliedrigen Deliktsaufbaus kann weiter unterteilt werden in die Schuldfähigkeit nach §§ 20 f. StGB, ggf. spezieller Schuldmerkmale (bspw. Rücksichtslosigkeit bei § 315c StGB) und der persönlichen Vorwerfbarkeit, insb. den Entschuldigungsgründen, dem Unrechtsbewusstsein (vgl. § 17 StGB) sowie der Vorsatzschuld. Ähnlich wie bei den Rechtfertigungsgründen ist es auch bei den Entschuldigungsgründen angebracht, die Prüfung in einen objektiven und einen subjektiven Part zu trennen.
Unabhängig davon, ob der Täter das Unrecht der Tat aufgrund etwaigen Nichtwissens oder aufgrund einer tatsächlichen Fehlvorstellung nicht erkennen konnte, hängt die Anwendbarkeit des § 17 S. 1 StGB (Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.) von der Vermeidbarkeit des Irrtums ab.
Ein Verbotsirrtum ist vermeidbar (vgl. § 17 S. 2 StGB) wenn der Täter bei gehöriger Anspannung seines Gewissens und Anstrengung aller geistigen Kräfte das Unrecht der Tat erkennen konnte. Insgesamt legt der BGH sehr strenge Maßstäbe bei der Beurteilung an, so dass der Verbotsirrtum (auch in der Klausur) in der Regel vermeidbar sein wird. Bei Zweifeln an der rechtlichen Zulässigkeit der Tat besteht eine Erkundigungspflicht.

§ 17 StGB „Einsicht“

Vermeidbarkeit S. 2              Unvermeidbarkeit S. 1

 
I. Irrtum über tatsächliche Umstände
a. Unkenntnis
Der Täter ist nicht entschuldigt, da er ohne Kenntnis der tatsächlichen Umstände nicht aus der Motivation der entschuldbaren Zwangslage heraus handelt.

Entschuldigung

obj. entschuldigende Lage (+)             subj. Motivationslage (-)

 
Bsp.: X und Y sind schiffbrüchig und treiben zusammen auf einer morschen Holzplanke. Die Planke kann auf Dauer nur einen tragen. X erkennt dies nicht, will aber die Situation nutzen, um Y zu töten, und schubst diesen ins Wasser. Y ertrinkt.
Prüfungsort: Entschuldigungsgrund (umgekehrter Entschuldigungstatbestandsirrtum). Aufgrund der fehlenden psychischen Zwangslage ist die volle Strafbarkeit zu bejahen.
b. Irrige Annahme
Gesetzlich geregelt in § 35 Abs. 2 StGB als Entschuldigungstatbestandsirrtum: nimmt „bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden“.

Entschuldigung

obj. entschuldigende Lage (-)           sub. Motivationslage (+)

 
Bsp.: Wie soeben. X und Y sind schiffbrüchig und treiben zusammen auf einer morschen Holzplanke. Die Planke kann auf Dauer beide tragen. X geht irrtümlich davon aus, dass nur einer getragen werden kann (Entschuldigungstatbestandsirrtum) und schubst Y ins Wasser. Y ertrinkt.
Prüfungsort: Schuld. Schuld entfällt, sofern der Irrtum unvermeidbar gewesen ist. War der Irrtum vermeidbar kann Strafe nach §§ 35 Abs. 2 S. 2, 49 Abs. 1 StGB gemildert werden.
II. Irrtum über rechtliche Wertungen
Vergleichbar mit den Irrtümern über Tatumstände ist es auch beim Irrtum über rechtliche Umstände/Wertungen denkbar, dass der Delinquent das Verbot nicht kennt (Unkenntnis), oder aber auch, dass er auf Grund einer fehlerhaften Vorstellung sein Verhalten nicht für rechtswidrig hält (Irrige Annahme).
1. Tatbestand
a. Unkenntnis
Der Irrtum im rechtlichen Bereich auf Tatbestandsebene führt zu einem Verbotsirrtum nach § 17 S. 1 StGB.

§ 17 StGB „Einsicht“

Vermeidbarkeit S. 2             Unvermeidbarkeit S. 1

 
Bsp.: Der Täter geht nicht davon aus, dass die Verschmutzung eines Gewässers entgegen § 324 StGB nicht nur ökologisch bedenklich, sondern auch rechtlich verboten ist.
Prüfungsort: Schuld. Bei Unvermeidbarkeit entfällt die Schuld, ansonsten kann eine fakultative Strafmilderung erfolgen.
b. Irrige Annahme
Der Täter verwirklicht kein strafrechtlich relevantes Unrecht, geht aber davon aus, dass sein Handeln verboten ist. Merkformel: „Wäre der Täter auch ohne seinen Irrtum straflos, kann der Irrtum nicht zur Strafbarkeit führen“.
Bsp.: A nimmt irrigerweise an, dass Klingelstreiche bei Privatpersonen strafbar seien.
Prüfungsort: Ggf. am Ende eines anderen Straftatbestandes, aber selten prüfungsrelevant.
2. Rechtswidrigkeit
a. Unkenntnis
Der Delinquent ist gerechtfertigt, weil die Voraussetzungen des jeweiligen Rechtfertigungsgrunds vorliegen, obwohl er dessen Grenzen zu eng auslegt.

Rechtfertigung

obj. rechtfertigende Lage (+)        subj. Rechtfertigungselement (+/-)

 
Bsp.: Ehefrau F wird von ihrem Ehemann M verprügelt. Aus Furcht vor weiteren Verletzungen greift sie zum nächstliegenden Kerzenständer und schlägt lebensgefährlich zu. Sie verkennt dabei, dass auch lebensgefährliche Verteidigungshandlungen vom Notwehrrecht mit umfasst sind.
Prüfungsort: Subjektives Rechtfertigungselement. Es ist die Frage aufzuwerfen, ob der Irrtum über die Gebotenheit der Verteidigungshandlung das Notwehrrecht entfallen lässt. Dies ist aber zu verneinen, da der Täter objektiv wie subjektiv gerechtfertigt ist.
b. Irrige Annahme
Geht der Täter irrig davon aus, dass ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, der sein Verhalten legitimiert, bzw. dehnt er einen bestehenden Rechtfertigungsgrund zu weit aus, irrt er auf juristischer Bewertungsebene.

Rechtfertigung

obj. rechtfertigende Lage (-)            subj. Rechtfertigungselement (+)

 
Bsp.: Der im Rollstuhl sitzende R erschießt den davonlaufenden Kirschendieb K, weil er davon ausgeht, diesen bereits für den Diebstahl an den Kirschen zur Strecke bringen zu dürfen.
Prüfungsort: Schuld. Die Behandlung des Irrtums richtet sich erneut nach § 17 StGB.
3. Schuld
a. Unkenntnis
Verkennt der Täter bei Kenntnis der Sachlage und bei vorhandenem Rettungswillen den Entschuldigungsgrund, so ist er wegen bestehender seelischer Zwangslage entschuldigt.

Entschuldigung

obj. entschuldigende Lage (+)         subj. Motivationslage (+/-)

 
Bsp.: Ehefrau F wird von ihrem Ehemann M über längere Zeit hinweg verprügelt. Aus Furcht vor weiteren Verletzungen greift sie, während dieser schläft, zum nächstliegenden Messer und sticht lebensgefährlich zu. Sie verkennt dabei, dass auch lebensgefährliche Verteidigungshandlungen vom Notstandsrecht mit umfasst sind.
Prüfungsort: Schuld. Es ist die Frage aufzuwerfen, ob der Irrtum über die Reichweite des entschuldigenden Notstands die Straffreiheit verhindert. Dies ist nach allgemeiner Ansicht aber zu verneinen.
b. Irrige Annahme
Der Täter geht irrigerweise vom Vorliegen einer Entschuldigungsnorm aus bzw. legt die Reichweite der Entschuldigungsnorm zu weit aus.

Entschuldigung

obj. entschuldigende Lage (-)         subj. Motivationslage (+)

 
Bsp.: Ehefrau F wird von ihrem randalierendem Ehemann M regelmäßig verprügelt. Aus Furcht vor weiteren zerstörten Einrichtungsgegenständen greift sie, während dieser schläft, zum nächstliegenden Messer und sticht lebensgefährlich zu.
Prüfungsort: Schuld. Irrtum nach hA unbeachtlich (allenfalls im Rahmen der Strafzumessung nach § 46 StGB zu berücksichtigen).
So unübersichtlich die Irrtumsproblematik aufgrund der unterschiedlichen Terminologie auf den ersten Blick erscheint, gelingt es doch mit wenigen Weichenstellungen diesem Irrgarten eine gewisse Systematik einzuverleiben. Aufgrund dieser Möglichkeit strukturiertes Denken abzufragen, ist die Irrtumsproblematik ein beliebter Mosaikstein in der strafrechtlichen Schein-, Zwischenprüfungs- und Examensklausur.
 

29.09.2014/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2014-09-29 08:00:052014-09-29 08:00:05Errare humanum est – Einführung in die strafrechtliche Irrtumslehre
Christian Muders

Rechtsprechungsüberblick in Strafsachen

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Im Folgenden eine Übersicht über in letzter Zeit in Zeitschriften veröffentlichte interessante Entscheidungen von Obergerichten in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschl. v. 14.2.2012 – 3 StR 392/11 (= NStZ 2012, 627 f. = StV 2012, 465 f.)
– Kein Raub bzw. räuberische Erpressung bei der gewaltsamen Wegnahme eines Mobiltelefons zur bloßen Durchsuchung des Speichers und dem anschließenden Kopieren einzelner Daten –
1. Es liegt keine für einen Raub erforderliche Zueignungsabsicht vor, wenn der Täter ein Mobiltelefon gewaltsam an sich bringt, um im Speicher des Geräts nach Beweisen für die Art der Beziehung zwischen dem Geschädigten und der Schwester einer dritten Person zu suchen. Gleiches gilt für das Kopieren gefundener Daten, da dies nicht zu deren Verbrauch führt.
2. Ebenfalls fehlt es in diesem Fall an einer Bereicherungsabsicht i.S.d. räuberischen Erpressung, da der bloße Besitz einer Sache nur dann einen Vermögensvorteil darstellt, wenn ihm ein eigenständiger wirtschaftlicher Wert zukommt, etwa weil er zu wirtschaftlich messbaren Gebrauchsvorteilen führt, die der Täter für sich nutzen will. Daran fehlt es nicht nur in den Fällen, in denen der Täter die Sache unmittelbar nach Erlangung vernichten will, sondern auch dann, wenn er den mit seiner Tat verbundenen Vermögensvorteil nur als notwendige oder mögliche Folge seines ausschließlich auf einen anderen Zweck gerichteten Verhaltens hinnimmt.
II. BGH, Urt. v. 27.6.2012 – 2 StR 79/12 (= NStZ 2012, 629 f. = wistra 2012, 385 f.)
– Zum Vermögensschaden beim Betrug –
1. Wird bei einem Kauf über Umstände getäuscht, die den Verkehrswert der Sache maßgeblich mitbestimmen, erleidet der dadurch zum Kaufabschluss bewogene Kunde einen Betrugsschaden regelmäßig nur dann, wenn die Sache objektiv den vereinbarten Preis nicht wert ist. Unerheblich ist demgegenüber regelmäßig, ob die gelieferte Ware von geringerem Wert ist als die vertraglich vereinbarte.
2. Daher ist beim Fehlen einer vom Verkäufer fälschlich zugesicherten Eigenschaft der Kaufsache der Käufer nicht stets und ohne Rücksicht darauf, ob die Sache trotz Fehlens der zugesicherten Eigenschaft den vereinbarten Preis wert ist, durch den Abschluss des Vertrages betrügerisch geschädigt (hier: Kauf von Plagiatsfelgen, die als Originalfelgen ausgegeben wurden).
III. OLG Celle, Beschl. v. 23.7.2012 – 31 Ss 27/12 (StraFo 2012, 419 ff. = DAR 2012, 644 ff.)
– Zur Rechtswidrigkeit einer Diensthandlung i.S.d. § 113 StGB bei einer Verkehrskontrolle –
Eine Diensthandlung ist rechtswidrig im Sinne von § 113 Abs. 3 Satz 1 StGB, wenn Polizeibeamte einen Betroffenen falsch belehrt haben (konkret: Belehrung über eine allgemeine Verkehrskontrolle nach § 36 Abs. 5 StVO, wenn tatsächlich der Verdacht einer Trunkenheitsfahrt besteht).
VI. OLG Hamm, Urt. v. 21.8.2012 – III-4 Rvs 42/12 (= wistra 2012, 447 f.)
– Untreue und Irrtum über das Einverständnis des Vermögensinhabers –
1. Der Tatbestand der Untreue setzt einen gravierenden Pflichtenverstoß voraus, der durch das Einverständnis des Vermögensinhabers mit dem Handeln des Täters entfällt.
2. Ein Irrtum des Täters über das Einverständnis ist Tatbestandsirrtum i.S.d. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB.
(Anm.: Das OLG nutzt in der Entscheidung teilweise auch den Begriff der „Einwilligung“, offenbar als Synonym – dies ist in der Prüfung strikt zu vermeiden!)

02.12.2012/2 Kommentare/von Christian Muders
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Christian Muders https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Christian Muders2012-12-02 12:00:522012-12-02 12:00:52Rechtsprechungsüberblick in Strafsachen
Christian Muders

BGH: Zum Vorliegen von Erpressung, erpresserischen Menschenraub und Geiselnahme

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Anm. zu BGH, Urteil vom 14. März 2012 – 2 StR 547/11
1. Worum geht´s?
Nach den Feststellungen der Vorinstanz wurde das spätere Tatopfer Y am Vorabend der Tat der Diskothek J.-Club verwiesen, deren Betreiber der Angeklagte C war und in der die übrigen Angeklagten als Türsteher arbeiteten. Aus Verärgerung holte Y aus seiner Wohnung eine mit einer Reizgaspatrone geladene Schreckschusspistole. Er kehrte zurück und schoss im Vorraum der Diskothek eine Hartplastikkugel in Richtung eines der Türsteher, die diesen jedoch verfehlte. Durch das gleichzeitig austretende Reizgas erlitt ein anderer Türsteher Augenreizungen. Infolge des Vorfalls verließen die anwesenden Gäste sofort die Diskothek, ohne ihre Rechnungen zu begleichen. Am nächsten Tag traf sich Y mit den Angeklagten an der Diskothek, um sich für sein Verhalten zu entschuldigen. Als Y sich an den C wandte, fragte dieser ihn, ob er ihn „verarschen“ wolle, versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige und forderte „wegen der Rufschädigung und als Ausgleich“ 80.000 Euro. Versuche des Y, sich telefonisch bei Bekannten Geld zu leihen, blieben erfolglos. Während er zusammengekauert auf einem Hocker saß, schlugen ihn mehrere Türsteher mit der flachen Hand ins Gesicht. Hierbei äußerte C: „Entweder kommen die 80 Mille oder deine Leiche geht hier raus!“ Ein weiterer Türsteher zog ihm die Hose so weit herab, dass das nackte Gesäß zu sehen war. Die Angeklagten kündigten Y an, er werde jetzt „gefickt“. Nunmehr hielt einer der Türsteher die Mitangeklagten von weiteren Bestrafungsaktionen ab. Im Laufe der Auseinandersetzung hatte C seine Forderung zunächst auf 50.000,- Euro und schließlich auf 10.000,- Euro reduziert, wobei Y noch am selben Abend 3.000,- Euro zahlen sollte. Sodann wurde ein gemeinsamer Bekannter zum J.-Club bestellt, der bereit war, für Y zu bürgen. Von dem Geschehen hatten die Angeklagten Handyvideos gefertigt, verbunden mit der Drohung, diese für den Fall der Nichtzahlung zu verbreiten. Y erlitt bei dem Vorfall u.a. Prellungen und Hämatome sowie eine Versteifung des Vordergliedes des rechten Zeigefingers. Da er um sein Leben fürchtete, flog er noch am gleichen Tag in die Türkei.
Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten als gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung gewertet. Einen versuchten erpresserischen Menschenraub (§ 239a StGB) hat es mit der Begründung verneint, die Angeklagten hätten in der Vorstellung gehandelt, ihnen stehe ein Zahlungsanspruch in Höhe von 80.000,- Euro gegen den Geschädigten Y zu. (Sachverhalt leicht gekürzt wiedergegeben.)
2. Was sagt der BGH?
a) Der BGH weist zunächst die Ansicht des Landgerichts zurück, wonach ein  erpresserischer Menschenraub vorliegend bereits deswegen ausscheide, weil die Angeklagten von einem Zahlungsanspruch gegen den Geschädigten ausgegangen seien.
aa) Gesetzlicher Anknüpfungspunkt für diese Wertung der Vorinstanz ist zunächst der Umstand, dass der erpresserische Menschenraub gem. § 239a Abs. 1 StGB als (unvollkommen) zweiaktiges Delikt ausgestaltet ist: Danach erfordert dieser neben einer „Entführungs-„ bzw. „Bemächtigungshandlung“ des Täters als „erstem Akt“ zusätzlich noch – „zweiter Akt“ –

  • im subjektiven Tatbestand die von Anfang an geplante Ausführung einer Erpressung (Entführungstatbestand, Alt. 1);
  • oder aber, wenn dieser Entschluss erst nach Beginn der Tathandlung reift, sogar eine (zumindest in den Versuchsbereich vorgerückte) objektive Verwirklichung derselben (Ausnutzungsvariante, Alt. 2).

In jedem Fall muss der Täter daher mit dem Vorsatz handeln, mithilfe der Entführung bzw. Bemächtigung eine tatbestandsmäßige Erpressung i.S.d. § 253 (§ 255) StGB zu begehen. Bei diesem Tatbestand wiederum ist u.a. gefordert, dass der Täter handelt, um sich oder einen Dritten „zu Unrecht zu bereichern“. Die Rechtswidrigkeit der Bereicherung stellt dabei im Rahmen des § 253 StGB (ebenso wie bei § 263 StGB oder auch – dort im Hinblick auf die Zueignungsabsicht – bei den §§ 242, 249 StGB) ein echtes normatives Tatbestandsmerkmal dar. Somit ist es von der allgemeinen Rechtswidrigkeit der Tat zu scheiden, bei der Fehlvorstellungen allenfalls zu einem Erlaubnistatbestandsirrtum führen können, welcher die Vorsatzschuld entfallen lässt (s. hierzu nur den „Hells-Angels“-Fall des BGH vom letzten Jahr – Aufbereitung hier). Für den (objektiven) Ausschluss der Rechtswidrigkeit der Bereicherung kommen dabei insbesondere bestehende zivilrechtliche Ansprüche des Täters in Betracht, die sich auf den Bereicherungsgegenstand beziehen. Vorliegend nun könnte man aufgrund der vergangenen Geschehnisse in der Diskothek an einen Schadensersatzanspruch des C gegen Y aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB denken oder auch – nach dem Sachverhalt allerdings eher fernliegend – an eine Forderung wegen Eingriffs in den ausgeübten Gewerbebetrieb (§ 823 Abs. 1 BGB).
bb) Der BGH hat demgegenüber angenommen, dass eine ausreichende Vorstellung der Angeklagten im Hinblick auf einen zivilrechtlichen Anspruch gegen Y jedenfalls in Höhe des geforderten Betrages nicht hinreichend begründet gewesen sei. Er stellt insofern zunächst den generellen Maßstab dar:

Jedoch genügt es für den Erpressungsvorsatz, wenn der Täter es für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, dass die Forderung nicht oder nicht im Umfang des Nötigungsziels besteht oder aber von der Rechtsordnung nicht geschützt ist. Nur wenn der Täter klare Vorstellungen über Grund und Höhe des geltend gemachten Anspruchs hat, fehlt es ihm an dem Bewusstsein einer rechtswidrigen Bereicherung.

Sodann führt der BGH aus, warum dieser Maßstab nach Maßgabe der durch die Vorinstanz getroffenen Feststellungen nicht erfüllt ist:

Die Ausführungen des Landgerichts, der von dem Angeklagten C zunächst geforderte Betrag von 80.000 Euro erscheine angesichts des den Angeklagten neben einem Schmerzensgeld zustehenden Ausgleichsanspruchs für Umsatzverluste nicht abwegig, wenn es durch Rufverlust zur Schließung der Diskothek komme (…), belegen, dass das Landgericht den Prüfungsmaßstab für die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Bereicherung verkannt hat. (…) Feststellungen zur Höhe des entgangenen Gewinns aufgrund des fluchtartigen Verhaltens der Gäste enthält das Urteil nicht. Hinsichtlich möglicher künftiger Umsatzeinbußen, zu deren Höhe sich das Urteil ebenfalls nicht verhält, bestand kein fälliger Anspruch auf Zahlung (§ 252 BGB), sondern allenfalls ein zivilrechtlicher Feststellungsanspruch. (…) Naheliegende Umstände, die dagegen sprechen könnten, dass die Angeklagten nicht nur vage, sondern klare Vorstellungen über Grund und Höhe der von ihnen geltend gemachten Forderung hatten, hat das Landgericht nicht erkennbar in seine Überlegungen einbezogen. (…) Hinzu kommt, dass der Angeklagte C seine Forderung von ursprünglich 80.000 Euro im Laufe des Tatgeschehens zunächst auf 50.000 Euro und schließlich auf 10.000 Euro reduzierte.

cc) Ist daher nach dem BGH der Vorsatz zur Vornahme einer (räuberischen) Erpressung bei den Angeklagten nicht ausgeschlossen, sieht er allerdings aus einem anderen Grund den hiermit verknüpften Tatbestand des erpresserischen Menschenraubs als nicht erfüllt an: So führt er aus, dass es im Hinblick auf den vom Tatopfer letztendlich geforderten Betrag i.H.v. 10.000,- Euro jedenfalls an einem funktionalen Zusammenhang mit der Bemächtigungslage des § 239a StGB fehle:

Zwar hatten sich die Angeklagten des Geschädigten Y bemächtigt, jedoch wohl nicht in der Erwartung, dass die erpresserische Forderung noch innerhalb der Bemächtigungslage erfüllt werden sollte. Vielmehr kam es ihnen nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe darauf an, den Geschädigten während der Dauer der Zwangslage einzuschüchtern und seine entsprechende Bereitschaft zu einer späteren Zahlung nach erfolgter Freilassung zu wecken (…).

Das Erfordernis eines solch „funktionalen Zusammenhangs“ ergibt sich dabei nach h.M. aus der gebotenen restriktiven Auslegung des § 239a StGB: Danach muss gerade die durch die Bemächtigung geschaffene, gesicherte Zwangslage zur Verwirklichung des weiteren Nötigungsziels eingesetzt werden.
dd) Zuletzt ist bzgl. des erpresserischen Menschenraubs noch anzumerken, dass – entgegen der Vorinstanz – wohl nicht lediglich ein Versuch des § 239a StGB, sondern wenn überhaupt dessen Vollendung in Rede stand: Denn da die Erpressung in der Entführungsalternative des § 239a Abs. 1 StGB lediglich geplant, im Rahmen der Ausnutzungsalternative – zumindest nach der Rspr. – nur versucht sein muss (BGH, NStZ 2007, 32; krit. dazu Joecks, Studienkommentar StGB, 7. Aufl. 2007, § 239a Rn. 20a m.w.N.), steht das Ausbleiben des vom Täter erstrebten  Nötigungserfolgs einer Vollendung nicht entgegen (vgl. auch § 239a Abs. 4 StGB, der bei „Verzicht auf die erstrebte Leistung“ lediglich eine fakultative Strafmilderung nach Art einer tätigen Reue formuliert).
b) Im Folgenden irritiert allerdings, dass der Senat im unmittelbaren Anschluss an die Verneinung des erpresserischen Menschenraubs auf die Möglichkeit der Verwirklichung des „Geschwister“-Tatbestandes zu § 239a StGB , nämlich der Geiselnahme nach § 239b StGB verweist:

Ob insoweit gegebenenfalls eine Geiselnahme (§ 239b Abs. 1 StGB) in Betracht kommt, wird der neue Tatrichter auf der Grundlage der neu zu treffenden Feststellungen zu erwägen haben.

aa) Irritierend ist diese Feststellung deshalb, da die Rspr. (jedenfalls bisher) auch für die Geiselnahme einen entsprechenden funktionalen Zusammenhang zwischen den dort ebenfalls zu findenden Tathandlungen der „Entführung“ bzw. „Bemächtigung“ mit der zumindest subjektiv anvisierten, weiteren Nötigung des Opfers gefordert hat. Dazu nur BGH, Urteil v. 20.09.2005 – 1 StR 86/05 (= NStZ 2006, 36 ff. m. insoweit zust. Anm. Jahn/Kudlich, NStZ 2006, 340):

Nach der Rechtsprechung des BGH ist es erforderlich, dass zwischen der Entführung eines Opfers und einer beabsichtigten Nötigung ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang derart besteht, dass der Täter das Opfer während der Dauer der Entführung nötigen will (…) und die abgenötigte Handlung auch während der Dauer der Zwangslage vorgenommen werden soll (…). Denn der Zweck dieser Strafvorschrift, die schon wegen ihrer hohen Mindeststrafe der einschränkenden Auslegung bedarf, besteht gerade darin, das Sich-Bemächtigen oder die Entführung des Opfers deshalb besonders unter Strafe zu stellen, weil der Täter seine Drohung während der Dauer der Zwangslage jederzeit realisieren kann.

Die Annahme eines parallelen Erfordernisses des „funktionalen Zusammenhangs“ sowohl bei § 239a als auch bei § 239b StGB erscheint dabei insofern überzeugend, als beide Delikte im objektiven Tatbestand identisch sind und nur im Rahmen des subjektiv geplanten bzw. ins Versuchsstadium getretenen zweiten Handlungsakts divergieren: Während bei § 239a Abs. 1 StGB eine Erpressung mit entsprechender Bereicherungsabsicht gefordert ist, lässt § 239b StGB grds. jedwedes Nötigungsziel ausreichen – wobei der Tatbestand freilich die hierzu genutzten Nötigungsmittel auf besonders qualifizierte Drohungen bzw. Gewalteinwirkungen beschränkt (Drohung mit Tod, schwerer Körperverletzung oder Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer).
bb) Im Übrigen ist zu beachten, dass – abzüglich des wohl auch für § 239b StGB fehlenden funktionalen Zusammenhangs – in dem Fall, dass dem Diskothekenbesitzer C und seinen Kumpanen tatsächlich eine Forderung i.H.v. 800.000,- Euro zugekommen wäre, dies der Verwirklichung des Tatbestands der Geiselnahme dennoch nicht entgegengestanden hätte: Denn da diese Vorschrift sich nicht zu einer spezifisch rechtswidrigen Bereicherungsabsicht äußert, sondern grds. jedweden Nötigungszweck genügen lässt, ist auch das Ziel, das Opfer zur Begleichung einer tatsächlich bestehenden Forderungen zu zwingen, erfasst. Allenfalls im Rahmen der allgemeinen Rechtwidrigkeitsprüfung wäre dann noch zu untersuchen, ob ein berechtigtes Zahlungsbegehren den Tatbestand eines Rechfertigungsgrundes auszufüllen vermag bzw. die Verwerflichkeit der mit der Bemächtigung/Entführung verknüpften Nötigung nach § 240 Abs. 2 StGB ausschließt. Ein solches dürfe indes bereits im Hinblick auf den Einsatz der von § 239b StGB geforderten intensiven Nötigungsmittel (s.o.) stets ausscheiden.
c) Schließlich hat der BGH auch die Berücksichtigung einer vom Landgericht nicht bejahten Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) angemahnt. Geht man davon aus, dass sowohl der erpresserische Menschenraub als auch die Geiselnahme in Zwei-Personen-Verhältnissen eine gewisse „Stabilisierung“ der Bemächtigungslage verlangen, um diese Tatbestände von der „einfachen“ (räuberischen) Erpressung bzw. sonstigen Nötigungsdelikten abgrenzen zu können (vgl. dazu nur Kindhäuser, LPK, 4. Aufl. 2010, § 239a Rn. 26 m.w.N.), wird § 239 StGB regelmäßig (mit-)erfüllt sein – und tritt freilich bei gleichzeitiger Bejahung eines der vorgenannten Delikte zurück. Liegt hingegen (wie vom Landgericht angenommen) nur eine Nötigung im Tateinheit mit Körperverletzungsdelikten vor, kann der Freiheitsberaubung durchaus eine eigenständige Bedeutung zukommen.
3. Warum ist die Entscheidung wichtig?
Die Entscheidung lohnt sich zu merken, da – neben den eher in Nebenrollen auftretenden Körperverletzungsdelikten – einige bekannte Tatbestände aus dem Umfeld der Vermögens- und Freiheitsdelikte zur Debatte stehen. Demgemäß eignet sie sich sowohl für eine mündliche Prüfung als auch (als Teilstück) einer größer angelegten Examensklausur. Aus Prüfersicht ist dabei namentlich die Abgrenzung des § 239a StGB von einer „einfachen“ räuberischen Erpressung (Stichwort: Zweiaktigkeit, funktionaler Zusammenhang) interessant. Mit dem Vorbringen, dass die Täter von der Durchsetzung eines berechtigten Anspruchs ausgingen, kann außerdem das Verständnis des Prüflings bzgl. der Einordnung des Merkmals der „Rechtswidrigkeit“ der Bereicherungsabsicht abgeprüft werden. Schlussendlich ist das Erkennen der „Auffangfunktion“ des § 239b StGB in diesem Zusammenhang, der auch bei Abnötigung berechtigter Forderungen eingreifen kann, nicht uninteressant.

05.07.2012/1 Kommentar/von Christian Muders
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Christian Muders https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Christian Muders2012-07-05 10:00:132012-07-05 10:00:13BGH: Zum Vorliegen von Erpressung, erpresserischen Menschenraub und Geiselnahme

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