In der Vergangenheit haben wir schon mehrmals über den schier endlosen Streit um die Besetzung des Bundesgerichtshofs zwischen den dortigen Richtern berichtet. Hatten diese Beiträge vor allem die Konkurrentenklage zum Inhalt, so wurde aber bereits deutlich, dass die Streitigkeit auch eine verfassungsrechtliche Ebene haben kann – nämlich eine mögliche Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Das BVerfG hatte in einem heute veröffentlichten Beschluss vom 23.5.2012 (2 BvR 610/12 und 2 BvR 625/12) über genau diese Frage zu entscheiden.
Die Beschwerdeführer monierten:
Die Zuweisung eines Doppelvorsitzes an den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. E., der nach dem Geschäftsverteilungsplan sowohl den Vorsitz des 2. als auch des 4. Strafsenats innehabe, beeinträchtige wegen der dadurch hervorgerufenen Überbelastung den Anspruch auf den gesetzlichen Richter.
Der danach erforderlichen sachgerechten beziehungsweise verantwortungsvollen Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben werde der Vorsitzende Richter nur gerecht, wenn er dem gesetzlichen Leitbild entsprechend richtunggebenden Einfluss auf die Rechtsprechung des ihm anvertrauten Spruchkörpers nehmen könne. Mit diesen Anforderungen lasse sich der Doppelvorsitz in zwei voll ausgelasteten Strafsenaten nicht vereinbaren. So setze ein richtunggebender Einfluss nach der auf das Strafrecht zu übertragenden zivilgerichtlichen Rechtsprechung voraus, dass der Vorsitzende mindestens 75 % der Aufgaben als Vorsitzender seines Spruchkörpers selbst wahrnehme.
Die Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG allerdings nicht angenommen, da sie die Voraussetzungen des § 93a BVerfGG nicht erfüllt.
Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind beantwortet (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), denn die Verfassungsbeschwerden haben keine Aussicht auf Erfolg.
Begründet wird dies wie folgt:
I. Verletzung richterlicher Unabhängigkeit
Zunächst wird kurz dargelegt, wie weit der Schutzbereich des Art. 101 GG reicht.
Mit der Garantie des gesetzlichen Richters will Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Gefahr vorbeugen, dass die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll vermieden werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst werden kann, gleichgültig, von welcher Seite eine solche Manipulation ausgehe.
Darüber hinaus hat Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch einen materiellen Gewährleistungsgehalt, der dem rechtssuchenden Bürger im Einzelfall garantiert, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet.
Dieser Schutzbereich werde, wie das BVerfG darlegt, durch eine (mögliche) Überbeanspruchung des Richters grundsätzlich nicht verletzt. Begründet wird dies damit, dass der Richter die Mehrarbeit (außerhalb des Zumutbaren) schlicht und einfach liegenlassen darf. Konsequenzen drohen ihm hierdurch nicht.
Überschreitet das zugewiesene Arbeitspensum die so zu bestimmende Arbeitsleistung – auch unter Berücksichtigung zumutbarer Maßnahmen wie zum Beispiel eines vorübergehenden erhöhten Arbeitseinsatzes – erheblich, kann der Richter nach pflichtgemäßer Auswahl unter sachlichen Gesichtspunkten die Erledigung der ein durchschnittliches Arbeitspensum übersteigenden Angelegenheiten zurückstellen. Die richterliche Unabhängigkeit bleibt dabei gewährleistet, indem der Richter – nach entsprechender Anzeige der Überlastung – für die nach pflichtgemäßer Auswahl zurückgestellten Aufgaben und die dadurch begründete verzögerte Bearbeitung dienstaufsichtsrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.
Wenn der Richter hingegen doch mehr als erforderlich arbeitet, dann ist ihm kein Vorwurf zu machen, sondern es beruht allein auf seiner eigenen erhöhten Belastbarkeit. Auch diese Entscheidung ist allein auf seine richterliche Unabhängigkeit zurückzuführen.
Ob sich ein überdurchschnittlich leistungsfähiger oder leistungsbereiter Richter letztlich darauf beruft, nur mit einem durchschnittlichen Arbeitspensum belastet zu werden, oder sein erhöhtes Leistungsvermögen beziehungsweise seine erhöhte Leistungsbereitschaft zur Bewältigung etwaiger überobligatorischer Aufgaben einsetzt, ist diesem überlassen und seinerseits Ausfluss der richterlichen Unabhängigkeit.
II. Allenfalls Verletzung effektiven Rechtsschutzes
Bearbeitet der Richter die Fälle nicht in der angemessenen Zeit, so kommt allenfalls eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG in Betracht.
Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, der aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch oder aus Art. 19 Abs. 4 GG herzuleiten ist und einen Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit umfasst (vgl. BVerfGE 54, 39 <41>; 88, 118 <123 f.>; Papier, in: HdStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 18, 21 f., § 177 Rn. 90, 93; Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 19 Rn. 143 ff.), ist mit den dafür in der Rechtsordnung vorgesehenen Mitteln durchzusetzen.
III. Mangelnder Einfluss des Richters?
Auch der mangelnde Einfluss des vorsitzenden Richters aufgrund fehlenden Wissens vermag eine Verfassungsbeschwerde nicht zu begründen.
Zum einen ist hier unklar, inwiefern überhaupt eine verfassungsrechtliche Manifestation vorliegt, denn jedenfalls kommt eine Verletzung nicht in Betracht. Dies wird damit begründet, dass keine Regelungen bestehen, wie und woher der Spruchkörper bzw. die einzelnen Mitglieder ihr Wissen erlangen. Hier folgt aus der richterlichen Unabhängigkeit, dass dies auch selbst ausgestaltet werden kann.
Die Entscheidung, ob der Spruchkörper sich mit Blick auf die Arbeitsteilung im Kollegium darauf beschränkt, durch den Berichterstatter über den maßgeblichen Sach- und Streitstand informiert zu werden, oder die Vollständigkeit und Richtigkeit des Berichterstattervortrags – allein darum geht es an diesem Punkt – dadurch sichert und verstärkt, dass ein, mehrere oder alle Mitglieder des Spruchkörpers sich den Streitstoff aus den Akten selbst erarbeiten, ist ihm überlassen und insoweit Ausfluss der richterlichen Unabhängigkeit.
Sofern eine Mitwirkung des Vorsitzenden an 75% der Fälle gefordert wird (BGHZ 37, 210 <215 f.>; 88, 1 <8 f.>; vgl. auch Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl. 2010, § 59 Rn. 12) so betrifft diese zum anderen allein eine quantitative, nicht aber eine qualitative Ebene. Eine solche quantitaive Mitwirkung lag stets vor.
Dass der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Dr. E. infolge des ihm übertragenen Doppelvorsitzes an der Mitwirkung bei den Entscheidungen der Strafsenate in erheblichem Umfang verhindert gewesen sei und der Vorsitz stattdessen von einem Vertreter habe wahrgenommen werden müssen, ist nicht ersichtlich und wird von den Beschwerdeführern auch nicht behauptet.
IV. Fazit/Examensrelevanz
Eine Verletzung von Art. 101 GG kommt damit hier nicht in Betracht. Die Argumentation des BVerfG überzeugt, auch wenn sie sich an einigen Stellen kurios liest. Letztlich bringt das BVerfG zwei Argumente:
- Zum einen muss der Richter die Mehrarbeit nicht erledigen; wenn er es doch macht, so kann man es ihm nicht vorwerfen.
- Zum anderen muss der Vorsitzende zwar an den Entscheidungen mitwirken, dazu genügt es aber, dass er quantitativ mitwirkt. Woher er sein Wissen erlangt ist nicht überprüfbar.
Für eine mündliche Prüfung eignet sich der Fall sehr gut, einerseits weil man gut auch zu anderen Fragen (bspw. Konkurrentenklage) überleiten kann, andererseits weil der Fall die Medien in den letzten Monaten stark beschäftigt hat.
Auch in einer schriftlichen Examensklausur kann zumindest ein Teil dieser Fragen geprüft werden. Hier sollte man die Rechtsprechung des BVerfG kennen, gerade weil es sich bei Art. 101 GG um eine eher wenig beachtete Norm handelt.