Wir freuen uns heute einen Gastbeitrag von Sebastian Rechenbach veröffentlichen zu können. Er hat an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena studiert und ist ab Mai Rechtsreferendar im Bezirk des OLG Jena.
Examensrelevantes Wissen zum Versuchsdelikt Teil I – Der Versuch
I. Einleitung
Sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Examen stellt die Thematik des Versuchsdeliktes einen sog. „Running Gag“ dar. Deshalb müssen bei den Prüflingen die Basics sitzen! Um dieses Ziel zu erreichen, behandelt die zweiteilige Beitragsreihe in gebotener Kürze die wichtigen Basics für die Fallbearbeitung, wobei sich der erste Teil dem Versuch widmet und im zweiten Teil die Rücktrittsproblematik im Mittelpunkt stehen wird. Die weitere Gliederung des Beitrages kann zugleich als Aufbauschema für das Gutachten angesehen werden.
II. Vorprüfung?
1. Beim Versuchsdelikt wird zunächst eine gedankliche Vorprüfung vorgenommen, ob die Tat nicht vollendet wurde und ob der Versuch überhaupt strafbar ist. Allerdings braucht diese, entgegen der immer noch h.M., nach meinem Dafürhalten im Gutachten nicht erwähnt zu werden und ist daher als eigener Prüfungspunkt grds. entbehrlich – aus zwei Gründen:
a) Ist streitig, ob der Täter das Delikt vollendet hat (z.B. wegen mangelnder objektiver Zurechnung), muss mit der Prüfung des möglichen vollendeten Deliktes begonnen werden, da dort dann regelmäßig ein Problem steckt, das zu thematisieren ist.
b) Dass der Versuch strafbar ist, zeigt man dem Korrektor, indem die §§ 22, 23 I, 12 (I oder II) StGB im Obersatz zitiert werden; z.B. T könnte sich zum Nachteil von O des versuchten Totschlages nach §§ 212, 22, 23 I, 12 I StGB schuldig gemacht haben, als er mit dem Butterfly-Messer dem O fünf Mal in die Brust stach.
Die Korrektoren werden sich freuen, wenn sie nicht erst seitenlange Vorprüfungen lesen müssen!
2. Allerdings gibt es von diesem Vorgehen eine Ausnahme: Den erfolgsqualifizierten Versuch, dem die Konstellation – Grunddelikt versucht, qualifizierende Folge eingetreten – zugrunde liegt:
- Beispiel (Gubener Hetzjagdfall, BGHSt. 48, 34 ff.): Skinhead H versucht den algerischen Asylbewerber A zu verprügeln. A gerät in Panik, flüchtet vor H und kann ihn auch abhängen. A fühlt sich dennoch nicht sicher vor H und geht zu einem Haus, um sich verstecken zu können. Da sich dessen Tür nicht öffnen lässt, tritt er deren untere Glasscheibe ein und zieht sich tödliche Schnittverletzungen zu.
a) Nach einem Teil der Lit. ist ein erfolgsqualifizierter Versuch nicht möglich, da die schwere Folge an der Vollendung des Grunddeliktes anknüpft und dies nicht erfüllt ist, wenn das Grunddelikt lediglich versucht wurde (vgl. Kühl, StrafR AT, 6. Aufl., § 17a, Rn. 44).
b) Nach Teilen der Rspr. und der Lit. ist ein erfolgsqualifizierter Versuch stets möglich, da sich durch die schwere Folge die in der Handlung angelegte Gefahr verwirklicht (vgl. BGHSt. 48, 34 [37 f.]; Heinrich, StrafR AT, 3. Aufl., Rn. 696).
c) Nach der h.L. und Teilen der Rspr. ist nach der Struktur des Tatbestandes zu differenzieren: Baut die jeweilige Erfolgsqualifikation auf den Erfolg des Grunddeliktes auf, soll ein erfolgsqualifizierter Versuch nicht möglich sein (z.B. § 226 I StGB; str. für § 227 StGB). Anders ist dies, wenn die Handlungsgefahr des Grunddeliktes in den Vordergrund gestellt wird, wie z.B. bei den §§ 178, 251 StGB (vgl. eingehend BGHSt. 42, 158 [159 ff.]; Wessels/Beulke, StrafR AT, 42. Aufl., Rn. 617).
III. Tatbestand
Der Tatbestand besteht beim Versuchsdelikt, ebenso wie der eines vorsätzlichen vollendeten Deliktes, aus einem objektiven und einem subjektiven Tatbestand. Jedoch wird der objektive Tatbestand beim Versuch „unmittelbares Ansetzen“ und der subjektive Tatbestand „Tatentschluss“ genannt. Außerdem wird im Gegensatz zur Prüfung beim vorsätzlichen vollendeten Delikt der subjektive Tatbestand vor dem objektiven Tatbestand geprüft.
1. Tatentschluss (subjektiver Tatbestand)
Im Tatentschluss ist zu prüfen, ob der Täter mit einem auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale eines Deliktes gerichteten Vorsatz und ggf. mit notwendigen subjektiven Tatbestandsmerkmalen handelte. Alles entscheidend ist also nur die Vorstellung des Täters!
a) Vorsatz
Der Täter muss in der Vorstellung der tatsächlichen Umstände, die, lägen sie vor, den objektiven Tatbestand eines Deliktes erfüllten, und mit unbedingten Handlungs- und Vollendungswillen handeln. An dieser Stelle werden mithin alle objektiven Tatbestandsmerkmale eines Deliktes am Maßstab der Tätervorstellung geprüft: Gab z.B. der Täter T den Schuss mit der Pistole auf das Opfer O ab, um es als andere Person töten zu wollen? Ob T mit der Pistole O überhaupt hätte treffen können, ist für die Strafbarkeit irrelevant.
Im Rahmen des Vorsatzes sollten folgende Sonderkonstellationen bekannt sein:
aa) Untauglicher Versuch,
- der stets strafbar ist und vorliegt, wenn der Täter entgegen seiner Vorstellung unter den gegebenen Umständen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen den Tatbestand eines Deliktes nicht verwirklichen kann.
- Beispiel: Mit Tötungsvorsatz schießt T auf den bereits toten O.
bb) Grob unverständiger Versuch,
- der als besonderer Fall des untauglichen Versuches ebenfalls strafbar ist und vorliegt, wenn der Täter völlig abwegige Vorstellungen von gemeinhin bekannten Ursachenzusammenhängen hat, die für jeden durchschnittlichen Menschen offensichtlich sind. Es kann nach § 23 III StGB von Strafe abgesehen werden, was aber in einer Klausur des ersten Examens keine Rolle spielt, sondern erst für das zweite Examen interessant wird.
- Beispiel: T will O durch Zugabe einer Dosis Ascorbinsäure in dessen Tee töten; weiß dabei aber nicht, dass es sich um ungefährliches Vitamin C handelt.
cc) Abergläubischer Versuch,
- der nicht strafbar ist und vorliegt, wenn der Täter nach seiner Vorstellung glaubt den Tatbestand eines Deliktes mit magischen Kräften herbeiführen zu können.
- Beispiel: Harry H will seine Freundin F totzaubern.
dd) Wahndelikt,
- das ebenso nicht strafbar ist und vorliegt, wenn der Täter den Sachverhalt genau kennt, aber denkt, dass sein Handeln strafbar ist.
- Beispiel: Harry H glaubt, dass Zaubern in Deutschland strafbar ist.
ee) Irrtümer,
denen der Täter erliegen kann, spielen bei der Abgrenzung des untauglichen Versuches vom Wahndelikt eine Rolle:
- Es gilt der Grundsatz, dass ein Tatsachenirrtum zum untauglichen Versuch und ein Rechtsirrtum zum Wahndelikt führen.
- Problematisch ist nun aber die Abgrenzung bei einem Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale (z.B. fremd, zuständige Stelle), wobei die h.M. davon ausgeht, dass ein untauglicher Versuch dann vorliegt, wenn die Fehlvorstellung durch einen Sachverhaltsirrtum bedingt ist oder aber wenn das Vorstellungsbild des Täters mit Blick auf die rechtsgutsbezogene Komponente rechtliche Relevanz aufweist (vgl. Jäger, Examens-Rep. StrafR AT, 5. Aufl., Rn. 290 ff.).
ff) Tatentschluss auf bewusst unsicherer Tatsachengrundlage
- ist ausreichend, da dabei nicht das Ob, sondern nur das Wie zweifelhaft ist (vgl. BGH NStZ 1991, 233 f.).
b) Sonstige subjektive Tatbestandsmerkmale
Die zu prüfenden sonstigen subjektiven Tatbestandsmerkmale sind solche, die aus dem Strafrecht BT bekannt sein sollten, z.B. Zueignungsabsicht bei § 242 StGB, Habgier bei § 211 StGB.
2. Unmittelbares Ansetzen, § 22 StGB (objektiver Tatbestand)
Um den objektiven Tatbestand eines Versuchsdeliktes zu verwirklichen, muss ein Täter zur Tatbestandsverwirklichung nach § 22 StGB unmittelbar angesetzt haben. Wann dies gegeben ist, ist in den meisten Fällen unproblematisch, sodass oftmals ein Satz genügt, z.B: „Durch den Schuss auf O hat T unmittelbar i.S.d. § 22 StGB angesetzt.“
a) Wann liegt unmittelbares Ansetzen i.S.d. § 22 StGB vor?
Entscheidend ist die Frage, wann ein Täter i.S.d. § 22 StGB unmittelbar ansetzt, nur (!) in wirklich problematischen Konstellationen.
- Beispiel (BGH NStZ-RR 2004, 361 f.): T ist auf dem Weg zur Wohnung von O, um diesen zu töten. Seinen Besuch kündigt er telefonisch bei O an. An der Wohnung angekommen, schlägt T mehrmals an die Wohnungstür und fordert O auf herauszukommen, da T ihn jetzt umbringen will. O öffnet nicht und begibt sich auf den Balkon. Da niemand öffnet, geht T wieder.
Die Theorienvielfalt dazu ist kaum überschaubar, lässt sich aber auf die vier folgenden Ansätze eingrenzen:
aa) Zwischenaktstheorie, nach der ein Täter unmittelbar ansetzt, wenn nach der Vorstellung des Täters zwischen seinem Verhalten und der Tatbestandsverwirklichung kein wesentlicher Zwischenakt mehr liegt.
bb) „Jetzt-geht’s-los-Formel“, nach der ein Täter die Schwelle zum „Jetzt geht’s los“ überschritten haben muss, um unmittelbar i.S.d. § 22 StGB anzusetzen.
cc) Sphärentheorie, nach der ein Täter unmittelbar ansetzt, wenn er in die Schutzsphäre des Opfers eingedrungen ist und nach seiner Vorstellung zwischen Handlung und erwartetem Erfolgseintritt ein enger zeitlich-räumlicher Zusammenhang besteht.
dd) Die Rspr. und h.L. vertreten hingegen einen Kombinationsansatz: Der Täter muss demnach subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht’s los“ überschritten und objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung angesetzt haben. Er muss also Handlungen vorgenommen haben, die nach dem Tatplan im ungestörten Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen sollen oder die im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen (vgl. BGHSt. 40, 299 [301]; Wessels/Beulke, StrafR AT, 42. Aufl., Rn. 601). – arg.: Die voranstehenden Theorien werden, einzeln betrachtet, nicht allen Fallgestaltungen gerecht.
b) Problematische Fälle zum unmittelbaren Ansetzen
aa) Versuchsbeginn beim unechten Unterlassungsdelikt,
- entweder beim Verstreichenlassen der ersten oder der letzten Rettungsmöglichkeit; oder nach (zutreffender) h.M. wenn der Garant die Herrschaft über das Geschehen aus der Hand gibt.
bb) Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft,
- wenn der Täter auf den Tatmittler einwirkt oder erst, wenn der Tatmittler auf das Opfer einwirkt oder aber nach (zutreffender) h.M. wenn der Täter das Geschehen aus der Hand gegeben hat.
cc) Versuchsbeginn bei Mittäterschaft,
zu dem sich zwei Lösungsansätze entwickelt haben:
- Einzellösung, nach der der Versuch für jeden Täter erst beginnt, wenn er selbst unmittelbar i.S.d. § 22 StGB ansetzt (vgl. Puppe, StrafR AT, 2. Aufl., § 39 Rn. 13). – arg.: Tatherrschaft, die der Mittäterschaft immanent ist, kann erst dann möglich sein, wenn der Mittäter selbst tätig wird.
- Gesamtlösung (Rspr.; h.M.), nach der alle Mittäter in das Versuchsstadium treten, sobald einer von ihnen unmittelbar i.S.d. § 22 StGB ansetzt (vgl. BGHSt. 40, 299 [301 f.]; Seher, JuS 2009, 304 [309]). – arg.: Die Täter wollen eine gemeinsame Tat begehen, weshalb nach § 25 II StGB eine umfassende Zurechnung der Tatbeiträge stattfinden soll – unabhängig davon, wann der einzelne Täter seinen Tatbeitrag erbringt.
IV. Rechtswidrigkeit und Schuld
Für die Rechtswidrigkeit und Schuld ergibt sich für das Versuchsdelikt nichts Besonderes.
V. Persönliche Strafausschließungsgründe und Persönliche Strafaufhebungsgründe
An dieser Stelle sollte auf mögliche persönliche Strafausschließungsgründe (z.B. Angehörigenprivileg nach § 258 VI StGB) und persönliche Strafaufhebungsgründe (z.B. Rücktritt nach § 24 StGB, vgl. dazu aber Teil II) geachtet werden.
VI. Strafzumessung (Regelbeispiele)
Wurde zuvor der Versuch bejaht und v.a. ein möglicher Rücktritt abgelehnt, gelangt man ggf. noch zur Prüfung von möglichen Regelbeispielen. Dabei ist in Konstellationen, in denen der Täter das Grunddelikt und das Regelbeispiel lediglich versucht hat, umstritten, ob es einen Versuch in einem besonders schweren Fall geben kann:
- Beispiel (versuchter Einbruchsdiebstahl, BGHSt. 33, 370 ff.): Dieb D will in die Gaststätte des Wirtes W einbrechen, um dort wertvolle Gegenstände zu stehlen. Dazu will D ein Fenster aufbrechen und durch dieses in das Haus steigen. Als er gerade das Fenster aufbricht, trifft die durch den Nachbarn N verständigte Polizei ein und unterbindet die Fortführung der Tat.
1. Nach der Rspr. und Teilen der Lit. sind Regelbeispiele wie Tatbestandsmerkmale zu behandeln, sodass ein Versuch in einem besonders schweren Fall möglich ist (vgl. BGHSt. 33, 370 [374 f.]; Gropp, StrafR AT, 3. Aufl., § 9, Rn. 49i). – arg.: Regelbeispiele typisieren einen erhöhten Unrechts- und Schuldgehalt und dieser fällt für die Begründung der Regelwirkung dann gegenüber dem Grunddelikt ins Gewicht, wenn dieses nicht vollendet wurde.
2. Nach der h.L. kann die straferhöhende Wirkung von Regelbeispielen erst eintreten, wenn sie durch den Täter verwirklicht werden (vgl. Zöller, StrafR BT I, 38 f.). Der Ansicht hat sich auch der BGH im Bereich des Sexualstrafrechts angeschlossen. In einer Entscheidung zum § 176 III Nr. 2 StGB a.F. geht der 5. Strafsenat des BGH davon aus, dass es im System des Strafgesetzbuches keinen Versuch eines besonders schweren Falles geben könne, da die gesetzlichen Regelbeispiele keine Tatbestände im engeren Sinn seien, sondern lediglich Strafzumessungsregeln enthalten (vgl. BGH NStZ-RR 1997, 293; ebenso BGH NStZ 2003, 602 zum § 177 II StGB). – arg.: Der Wortlaut des § 22 StGB bezieht sich lediglich auf Tatbestände und nicht auf Strafzumessungsvorschriften, weswegen die erste Ansicht gegen Art. 103 II GG verstößt. Zudem geht die Indizwirkung eines Regelbeispieles nicht schon bei dessen Versuch von diesem aus.