In einem Beschluss vom 12.5.2010 (BVerfG Beschluss 1 BvR 2636/04) zur Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Polizei Teilnehmer einer Demonstration nur dann durchsuchen darf, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gefahr bestehen. Bloße Verdachtsmomente reichten nicht aus.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer war Veranstalter einer Versammlung am 2. März 2002, die sich gegen eine Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht richtete. Mit seiner Verfassungsbeschwerde hatte er sich gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen gewendet, die eine versammlungsrechtliche Auflage gemäß § 15 Abs. 1 VersG zum Gegenstand hatten, aufgrund derer die Teilnehmer der Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden.
Grund für diese Auflage waren Erfahrungen aus früheren Demonstrationen, bei denen es zu Zusammenstößen zwischen rechten und linken Demonstranten gekommen war. Für seine Gefahrenprognose gemäß § 15 Abs. 1 VersG hatte sich das Verwaltungsgericht auf den Umstand gestützt, dass zwei Teilnehmer der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 Steinwürfe oder sonstige Wurfgeschosse befürchtet hätten. Außerdem bezog das Verwaltungsgericht den Umstand mit ein, dass es laut der eidesstattlichen Versicherung eines Teilnehmers der Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig tatsächlich zu Gewalttätigkeiten durch Gegendemonstranten gekommen sei. Ebenso wie die beiden Teilnehmer der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 die Bereitschaft zu gewalttätigem (Angriffs- oder Abwehr-) Verhalten aus den Reihen der Gegenversammlung für möglich gehalten hätten, habe das Polizeipräsidium Bielefeld Vergleichbares bei der geplanten Versammlung vier Wochen später befürchten müssen, und zwar bei den Teilnehmern der vom Beschwerdeführer angemeldeten Versammlung genauso wie bei den Gegendemonstranten, zumal zu beiden Versammlungen am 2. März 2002 jeweils zahlreiche, in der Menge schwer zu kontrollierende Teilnehmer erwartet worden seien (der Beschwerdeführer sei bei der Anmeldung seiner Versammlung von 1.000 bis 2.000 Teilnehmern ausgegangen). Unter diesen Umständen hätten objektive Anhaltspunkte für das Auffinden sicherstellbarer Gegenstände bestanden, welche das Polizeipräsidium Bielefeld dazu berechtigt hätten, pauschal im Wege einer Auflage die polizeiliche Durchsuchung aller Versammlungsteilnehmer vor dem Veranstaltungsbeginn anzuordnen. Eines konkreten Verdachts gegen bestimmte Versammlungsteilnehmer, insbesondere gegen den Beschwerdeführer, habe es insoweit nicht bedurft.
Frage: Ist der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 8 GG verletzt?
Entscheidung des BVerfG
Im Folgenden soll nur auf die Schwerpunkte der BVerfG Entscheidung im Rahmen der Begründetheit eingegangen werden.
Die angegriffenen Entscheidungen könnten den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzen.
I. Schutzbereich
Es müsste sich zunächst um eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG handeln. Eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG ist die Zusammenkunft mehrerer Personen an einem Ort zum Zwecke der Meinungsbildung und –äußerung. (h.M.) Die einzelnen Voraussetzungen hinsichtlich Mindestanzahl (hier unstreitig, da mehr als 1.000 Teilnehmer) und gemeinsamen Zweck liegen hier vor. In den Schutzbereich des Art. 8 GG fällt insbesondere auch die Anreise zum Versammlungsort.
Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG ist eröffnet, da die Auflage, dass die Teilnehmer der Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden, den freien Zugang zu einer bevorstehenden Versammlung betrifft. Der gesamte Vorgang des Sich-Versammelns unterfällt dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG.
II. Eingriff
Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt vor, wenn der Akt der öffentlichen Gewalt auf bestimmte (belastende) Rechtsfolgen final, unmittelbar, imperativ gerichtet ist. (klassischer Eingriffsbegriff) Die in diesem Sachverhalt erteilte Auflage wirkt hier zwar final, aber nicht unmittelbar. Jedoch ist nach dem modernen Eingriffsbegriff ein Eingriff zu bejahen. Eingriff ist danach jedes staatliche Handeln, das dem einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich (faktisch, informal), mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt. Allerdings muss die Wirkung von einem zurechenbaren Verhalten der öffentlichen Gewalt ausgehen.
Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 GG ist nicht nur dann gegeben, wenn eine Versammlung verboten oder aufgelöst wird, sondern auch, wenn die Art und Weise ihrer Durchführung durch staatliche Maßnahmen beschränkt wird (vgl. BVerfGE 69, 315 [349]). Die Auflage, dass die Teilnehmer einer Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden, behindert den freien Zugang zu der Versammlung.
Eine polizeiliche Durchsuchung ist – zumal wenn sie pauschal jeden Versammlungsteilnehmer erfasst – geeignet, einschüchternde, diskriminierende Wirkung zu entfalten, die Teilnehmer in den Augen der Öffentlichkeit als möglicherweise gefährlich erscheinen zu lassen und damit potentielle Versammlungsteilnehmer von einer Teilnahme abzuhalten. Somit stellt die Auflage einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 GG dar.
III. Rechtfertigung
Die Rechtfertigung des Eingriffs richtet sich danach, ob die Versammlung in geschlossenen Räumen (dann verfassungsimmanente Schranken, insbes. Grundrechte Dritte, teilweise konkretisiert durch die §§ 5-13 VersG, allerdings nur für öffentliche Versammlungen i.S.d. § 1 VersG) oder aber unter freiem Himmel stattfand. Vorliegend fand die Versammlung unter freiem Himmel statt. Beschränkungen der Versammlungsfreiheit bedürfen somit gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zu ihrer Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage.
Im vorliegenden Fall wurde die Auflage auf § 15 Abs. 1 VersG gestützt. § 15 Abs. 1 VersG sieht mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Versammlungsfreiheit Einschränkungen gegenüber Versammlungen nur für den Fall vor, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde auch bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Als Grundlage der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus (BVerfG vom 19. Dezember 2007 – 1 BvR 2793/ 04 und vom 7. November 2008 – 1 BvQ 43/ 08). Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplante Versammlung aufweisen (vgl. BVerfG Beschluss vom 4. September 2009 – 1 BvR 2147/ 09).
Wenn sich der Veranstalter und sein Anhang allerdings friedlich verhalten und Störungen der öffentlichen Sicherheit, insbesondere Gewalttaten, lediglich von Gegendemonstrationen ausgehen, müssen sich behördliche Maßnahmen primär gegen die störenden Gegendemonstrationen richten. Es ist Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung des Versammlungsrechts hinzuwirken. Gegen die friedliche Versammlung, die den Anlass für die Gegendemonstration bildet, darf nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden.
Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt bei der Behörde. Zwar sind die Feststellung der Tatsachen, auf die sich die Gefahrenprognose gründet, sowie die Würdigung dieser Tatsachen grundsätzlich Sache der Fachgerichte und entziehen sich einer Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hat allerdings zu überprüfen, ob bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts der Einfluss der Versammlungsfreiheit hinreichend beachtet worden ist. Eine solche Prüfung verlangt eine intensivierte Kontrolle, ob die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen die daraus gezogenen Schlussfolgerungen zu tragen vermögen (vgl. BVerfGE 84, 203 [210]).
Zu prüfen ist somit, ob die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Gefahrenprognose im Rahmen von § 15 Abs. 1 VersG gerecht wird.
Die von dem Verwaltungsgericht herangezogenen Umstände sind nicht geeignet, eine von der Versammlung selbst ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit nahezulegen, die den Erlass einer gegenüber der Versammlung belastenden Auflage hätte rechtfertigen können.
Zwar durfte das Verwaltungsgericht grundsätzlich den Verlauf der Anti-Wehrmachtsausstellungs-Versammlung am 2. Februar 2002 als Indiz heranziehen, da sie wegen der Zielrichtung, hier der Propagierung einer bestimmten Interpretation der jüngeren deutschen Geschichte, des Ortes und der zeitlichen Nähe Ähnlichkeiten zu der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung aufwies. Die zwei Teilnehmer dieser Versammlung haben in ihren von dem Verwaltungsgericht angeführten eidesstattlichen Versicherungen indes lediglich organisatorische Vorsichtsmaßnahmen auf Veranstalterseite gegen eventuelle Übergriffe gewaltbereiter linker Gegendemonstranten beschrieben. Diese Aussagen privater Personen zu ihrerseits lediglich verdachtsgeleiteten Handlungen stellen keine nachvollziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkte dar, wie sie für eine Gefahrenprognose im Rahmen des § 15 Abs. 1 VersG erforderlich sind. Vor allem lässt sich dieser Aussage nicht ansatzweise entnehmen, dass sich die Teilnehmer der Versammlung bei dieser Gelegenheit nicht rechtstreu verhalten haben.
Dagegen hat das Verwaltungsgericht keine tatsächlichen Feststellungen zu der Frage getroffen, ob und inwieweit die Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig Ähnlichkeiten zu der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung aufwies und daher im Rahmen der Gefahrenprognose als Indiz herangezogen werden durfte. Außerdem hat der Teilnehmer der Versammlung in seiner von dem Verwaltungsgericht angeführten eidesstattlichen Versicherung lediglich Übergriffe gewalttätiger linker Gegendemonstranten beschrieben. Nach seiner Darstellung haben hauptsächlich die Ordner, in einem Fall die Einsatzkräfte der Polizei, die solchermaßen provozierten Teilnehmer der Versammlung erfolgreich im Zaum gehalten. Anhaltspunkte dafür, dass die Teilnehmer der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung aus eigenem Antrieb die gewalttätige Auseinandersetzung mit den linken Gegendemonstranten gesucht hätten, ergeben sich aus dieser Aussage nicht.
Auch soweit das Verwaltungsgericht bei seiner Gefahrenprognose auf die Größe des zu erwartenden Teilnehmerkreises der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung abgestellt hat, trägt dieser Umstand die Auflage nicht. Denn allein aus der Größe einer Versammlung kann nicht auf die Gewaltbereitschaft der Teilnehmer geschlossen werden.
Insgesamt scheint die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts allein auf der – nicht ausgesprochenen – Vermutung zu gründen, die Teilnehmer der vom Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung könnten durch frühere Störungen von gewalttätigen linken Gegendemonstranten gereizt nunmehr zum Präventivschlag ausholen. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen ohne hinreichende konkrete Tatsachengrundlage reichen jedoch, wie dargelegt, für die Gefahrenprognose im Rahmen des § 15 Abs. 1 VersG nicht aus. Der Umstand, dass bei der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung Störungen der öffentlichen Sicherheit durch gewaltbereite linke Gegendemonstranten zu befürchten waren, hätte den zuständigen Behörden Anlass sein müssen, zuvörderst gegen die angekündigten Gegendemonstrationen Maßnahmen zu ergreifen. Das durch gewaltbereite Gegendemonstranten drohende Gefahrenpotential ist der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung nicht zurechenbar.
Somit erfüllt die angegriffene Entscheidung die verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Gefahrenprognose im Rahmen von § 15 Abs. 1 VersG nicht.
Als Nichtstörerin hätte die vom Beschwerdeführer veranstaltete Versammlung daher nur im Wege des polizeilichen Notstandes in Anspruch genommen werden können.
Im Hinblick auf die besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes sind der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts indessen weder die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen noch Ansätze für deren notwendige rechtliche Würdigung zu entnehmen. Zwar dürfen die diesbezüglichen Anforderungen an Durchsuchungen, die letztlich nur der Ermöglichung einer friedlichen Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit dienen, in Situationen, die insgesamt durch drohende Gewalt geprägt sind, nicht zu hoch angesetzt werden. Jedoch bedarf es insoweit zumindest der Darlegung, dass ein Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit primär durch Maßnahmen gegenüber den Störern ins Werk gesetzt wird und dass er auf diese Weise aber nur unzureichend gewährleistet werden kann. Hieran fehlt es indes. So fehlen insbesondere Ausführungen dazu, dass und inwieweit gegen die angekündigten Gegendemonstrationen gerichtete, behördliche Maßnahmen nicht ausgereicht haben, der gewaltbereiten Gegendemonstranten Herr zu werden und so der Gefahr einer etwaigen gewalttätigen Eskalation zu begegnen. Feststellungen hierzu hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen. Unter dem Gesichtspunkt der Eskalation fehlt es weiterhin an konkreten und nachvollziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkten für die Annahme, dass die Teilnehmer der von dem Beschwerdeführer veranstalteten Versammlung überhaupt unter Rückgriff auf mitgebrachte Gegenstände zur Schutz- und Trutzwehr übergehen würden.
Da mithin auch die besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes nicht erfüllt sind, durfte die vom Beschwerdeführer veranstaltete Versammlung als Nichtstörerin nicht im Wege des polizeilichen Notstandes in Anspruch genommen werden.
Mithin war der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 GG hier nicht durch § 15 VersG oder durch Vorliegen der besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes gerechtigt.
Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist somit zulässig und begründet. Die Verfassungsbeschwerde hat wegen des Verstoßes gegen Art. 8 Abs. 1 GG Erfolg.
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