Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sofiane Benamor, LL.B. veröffentlichen zu können. Der Autor wird demnächst im Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern tätig sein und beginnt ab kommendem Wintersemester ein Studium der Rechtswissenschaften an der Fernuniversität Hagen.
Die Störer- bzw. Verantwortlichkeitskategorien gehören zu den zentralen Begriffen des Polizei- und Ordnungsrechtes. Sie behandeln die Personen, gegen die sich die Ordnungs- und Polizeibehörden zur Gefahrenabwehr wenden können (vgl. §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 PolG NRW, §§ 13 f. ASOG Bln, explizit § 68 Abs. 1 SOG M-V). Die Verantwortlichkeit als normative Voraussetzung der Inanspruchnahme ist wesentliches Element rechtsstaatlichen Polizei- und Ordnungsrechtes. Es stellt sicher, dass nur derjenige, dem eine Gefahr zuzurechnen ist, auch in Anspruch genommen wird. Zwar ist das Gefahrenabwehrrecht typisches Landesrecht, sodass sich bundeslandspezifische Unterschiede ergeben können, wesentliche gesetzgeberische Entscheidungen sind jedoch weitestgehend bundeseinheitlich. Im Wesentlichen finden sich zwei bzw. drei Kategorien in den Polizeigesetzen:
I. Verhaltens- bzw. Handlungsstörer
II. Zustandsstörer
III. Nichtstörer
Diese sollen folgend skizziert und ihre wesentlichen Merkmale und praxis- bzw. fallrelevanten Gesichtspunkte dargestellt werden. Abschließend soll unter IV. ein kurzer Abriss der Problematik um die Auswahl bei Störermehrheit gegeben werden.
I. Verhaltens- bzw. Handlungsstörer
Bei dieser Störerkategorie ist, wie der Name bereits sagt, das Verhalten der Person maßgeblich. Dieses Verhalten kann zum einen im positiven, eigenen Tun liegen, also der aktiven Verursachung einer Gefahrenlage (z. B. dem Erzeugen nächtlichen Lärms durch Brüllen). Die Verhaltensverantwortlichkeit besteht verschuldensunabhängig, kann also einerseits Einsichtsunfähige und Betrunkene (z. B. den Betrunkenen, der nachts durch sein Liegen auf der Straße den Verkehr gefährdet) andererseits aber auch Kinder treffen. Bei Kindern und Jugendlichen unter 14 (§ 17 Abs. 2 BPolG; § 4 Abs. 2 PolG NRW; § 68 Abs. 2 SOG M-V; § 13 Abs. 2 ASOG Bln) bzw. unter 16 Jahren (§ 6 Abs. 2 PolG BW) besteht daneben auch eine Zusatzverantwortlichkeit für den bzw. die Aufsichtspflichtigen. Eine solche kann auch für den Betreuer einer behinderten Person oder für den Geschäftsherrn eines Verrichtungsgehilfen bestehen (§ 69 Abs. 3 SOG M-V, § 6 Abs. 3 HSOG, § 17 Abs. 3 BPolG). Dieser Zusatzverantwortliche tritt neben den Hauptverantwortlichen, sodass beide je nach Zweckmäßigkeit in Anspruch genommen werden können.
Die Verhaltensverantwortlichkeit kann auch aus einem Unterlassen resultieren (OVG Münster, DVBl. 1979, 735; Kingreen/Poscher, POR, § 9 Rn.6). Voraussetzung hierfür sind gesetzlich normierte Handlungspflichten aus dem öffentlichen Recht (z. B. Pflicht der Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken; Straßenreinigungspflicht aus Landesrecht; vgl. auch § 10 KrWG, § 26 WHG), bzw. Pflichten aus öffentlich-rechtlichem Vertrag, Verwaltungsakt oder auch Garantenstellung. Ob zivilrechtliche Handlungspflichten ausreichen, ist umstritten und jedenfalls hinsichtlich der Pflicht zur Haltung einer Sache im ordnungsgemäßen Zustand eher abzulehnen, da ansonsten die normative Distinktion zwischen Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit unterlaufen würde (Thiel, POR, Rn. 228). Daran ändert auch die verfassungsrechtliche Sozialbindung des Eigentums aus Art. 14 Abs. 2 GG nichts.
Regelmäßige Probleme bereiten Fälle, in denen der Gefahrzusammenhang bzw. die Gefahrverursachung des (vermeintlich) Verhaltensverantwortlichen nicht zweifellos feststeht. Zur Abgrenzung verwendet die h. M. die sog. Theorie der unmittelbaren Verursachung (Selmer, JuS 1992, 97 <98>). Danach ist das Verhalten maßgeblich, welches nach den Umständen des Einzelfalles die Gefahrengrenze überschreitet. Abzustellen ist mithin auf das letzte Glied der Kausalkette, mittelbare Verursacher scheiden damit aus. Die Gefahrenschwelle überschreitet eine Handlung, wenn sie nicht mehr denjenigen Anforderungen entspricht, die von der Rechtsordnung im Interesse eines störungsfreien Gemeinschaftslebens verlangt werden (OVG Münster, NVwZ 1985, 355 <356>). Es erfolgt also keine objektive naturwissenschaftliche, sondern eine normativ wertende Gesamtbetrachtung.
Als Korrektiv dieser Theorie wurde die Figur des Zweckveranlassers entwickelt. Hierunter ist die Person zu verstehen, welche „zwar die Gefahrengrenze überschreitet, aber nicht die zeitlich letzte Handlung vor dem Schadenseintritt vornimmt“ (Gusy, POR, Rn. 336). Er veranlasst eine Situation, in welcher durch das Verhalten anderer eine Gefahr entwickelt wird, er „fordert“ den unmittelbaren Störer „heraus“ (Schmidt, POR, Rn. 776). Die enge sachliche Nähe von Veranlassung und dem die Gefahr herbeiführenden Verhalten soll hier die Verantwortlichkeit begründen. Historisch entwickelt wurde die Figur im Schaufensterpuppenfall des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes (PrOVGE 40, 216 <217>). Der Eigentümer eines Ladens stellte diverse bewegliche Puppen in sein Schaufenster. Diese lockten viele schaulustige Passanten an, die dann Ansammlungen bildeten und mithin den Verkehr behinderten. Andere Fälle sind etwa die Vermietung von Wohnungen in Sperrbezirken gem. Art. 297 EGStGB an Prostituierte (VGH Kassel, NVwZ 1992, 1111), die Anmeldung einer potenziell unfriedlichen Demonstration (OVG Weimar, NVwZ-RR 1997, 287) oder die Einladung zu einer Facebook-Party (Klas/Bauer, K&R 2011, 533).
An dieser Rechtsfigur gibt es zahlreiche Kritik (vgl. exemplarisch Erbel, JuS 1985, 257), deren Bearbeitung jedoch den Rahmen dieses Beitrages erheblich übersteigen würde.
II. Zustandsstörer bzw. -verantwortlichkeit
Die Zustandsverantwortlichkeit als Ausfluss der Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG stellt im Gegensatz dazu auf die tatsächliche Sachherrschaft oder Eigentum an einer Sache, die wiederum Gefahren verursacht, ab (§ 18 BPolG; § 70 SOG M-V; § 7 PolG BW; § 5 PolG NRW; § 14 ASOG Bln). Es kommt hier also nicht darauf an, ob der Eigentümer oder Inhaber der tatsächlichen Gewalt etwas für den Gefahrenzustand der betreffenden Sache kann oder diesen (schuldhaft oder unschuldhaft) verursacht hat, sondern nur auf die objektiven Gefahren, die von der Sache ausgehen. Klassische Anwendungsfälle für die Zustandsverantwortlichkeit sind der Baum auf einem Privatgrundstück, der auf die Straße (und damit auf Passanten) zu fallen droht oder der um sich beißende Hund.
Die Eigentümereigenschaft ist akzessorisch zu den Wertungen des bürgerlichen Rechts (Götz, POR, § 9 Rn. 55). Eigentümer ist somit, wer nach den Vorschriften des BGB Eigentum an einer Sache hat. Bei gemeinschaftlichem Miteigentum ist jeder Eigentümer eigenständig verantwortlich. Die Verantwortlichkeit des Eigentümers entfällt allerdings, wenn der Inhaber der tatsächlichen Welt diese ohne den Willen des Eigentümers oder des Nutzungsberechtigten ausübt (§ 18 Abs. 2 S. 2 BPolG, § 5 Abs. 2 S. 2 PolG NRW, § 14 Abs. 2 S. 2 ASOG Bln, § 7 Abs. 2 S. 2 HSOG). Dies kann durch typische Fallkonstellationen wie Diebstahl und Unterschlagung, aber auch durch hoheitliche Beschlagnahme (z. B. Pfändung) geschehen.
Nicht beendet wird die Zustandsverantwortlichkeit des Eigentümers jedoch durch Dereliktion gem. §§ 928, 959 BGB. Hier regeln die Polizeigesetze explizit, dass diese auch nach der Dereliktion weiterhin besteht (vgl. § 18 Abs. 3 PolG BW; 5 Abs. 3 PolG NRW; § 14 Abs. 4 ASOG Bln; § 6 Abs. 3 BremPolG; § 70 Abs. 3 SOG M-V). Der Derelinquierende soll sich seiner Verantwortung nicht einfach durch Eigentumsaufgabe entziehen können.
Die andere Form der Zustandsverantwortlichkeit ist die des Inhabers der tatsächlichen Gewalt, also der tatsächlichen Sachherrschaft. Die tatsächliche Gewalt bzw. Sachherrschaft ist ein polizeirechtseigener Begriff, der zwar ähnlich, aber nicht völlig deckungsgleich mit dem zivilrechtlichen Besitzbegriff ist (Götz, § 9 Rn. 51), da er keinen Besitzbegründungswillen erfordert und nach der Verkehrsauffassung zu bestimmen ist. Er wird jedoch in aller Regel zum selben Ergebnis führen. Beispiele für diese Kategorie sind Mieter, Pächter und Verwahrer, aber auch Insolvenz- und Konkursverwalter.
III. Inanspruchnahme des Nichtstörers
Unter gewissen, sehr engen Voraussetzungen können auch Personen, die weder Verhaltens- noch Zustandsstörer bzw. Verantwortliche sind, in Anspruch genommen werden (§ 71 SOG M-V; § 20 BPolG, § 6 PolG NRW; § 9 PolG BW; § 16 ASOG Bln; § 7 BremPolG). Man spricht in diesem Zusammenhang vom polizeilichen Notstand. (Pieroth/Schlink/Kniesel, § 9 Rn. 74). Erforderlich ist hier eine Gefahr, die gegenwärtig und zumeist auch erheblich sein muss. Weiterhin ist die Inanspruchnahme des nichtverantwortlichen Dritten subsidiär zu anderen Möglichkeiten der Gefahrenabwehr. Das bedeutet sowohl, dass die Gefahr weder durch Inanspruchnahme des Verhaltens- noch Zustandsstörer, noch durch die Behörde selbst gebannt werden kann. Die Inanspruchnahme des Nichtverantwortlichen ist insoweit „doppelt subsidiär“ (Gusy, Rn. 384). Bei der Wahl und Ausprägung der Maßnahme muss die Behörde zudem darauf achten, dass diese sich auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt und so wenig invasiv wie möglich ist. Außerdem steht dem Nichtstörer ein öffentlich-rechtlicher Ausgleichsanspruch zu (§ 59 Abs. 1 Nr. 1 ASOG Bln; § 56 Abs. 1 Satz 1 BremPolG; § 72 Abs. 1 SOG M-V; § 67 PolG NRW; § 55 Abs. 1 PolG BW).
Klassische Beispiele für diese Konstellation sind die sog. Obdachlosenfälle, in denen die Ordnungsbehörde eingreift, um drohende Obdachlosigkeit zu verhindern oder bestehende Obdachlosigkeit (auch nur temporär) zu beenden (vgl. OVG Berlin, NVwZ 1991, 692; VGH München, BayVBl. 1991, 114). Hier wird der Eigentümer der bereits bewohnten oder einer unbewohnten Wohnung als Nichtstörer in Anspruch genommen, da eine Inanspruchnahme des tatsächlichen Störers – hier des Obdachlosen – nicht erfolgsversprechend ist. Da allerdings auch hier die Nachrangigkeit der Inanspruchnahme des Nichtstörers gilt, muss sich die Ordnungsbehörde zunächst bemühen, andere Unterkünfte für den (potenziell) Obdachlosen zu finden (Schmidt, Rn. 837).
Weiterhin in der Praxis bedeutsam sind Fälle auf dem Gebiet des Versammlungsrechtes, in denen die Teilnehmer einer Demonstration zwar friedlich agieren, eine Gefahr jedoch von der Gegendemonstration zu erwarten ist. Hier ist das Verhältnis der potenziellen Maßnahmen zueinander jedoch komplexer, da die Notstandsverantwortung z. B. durch Auflagen oder ggf. auch ein Totalverbot der gefährlichen Demonstration (vgl. § 15 Abs. 1 VersG) teilweise vermieden werden kann (BVerfG, NVwZ 2000, 1406). Hier ist auch zu prüfen, ob der Demonstrationsanmelder nicht bereits als Zweckveranlasser in Anspruch genommen werden kann.
IV. Polizei- und ordnungsbehördliche Störerauswahl
In vielen Fällen wird es nicht nur einen, sondern mehrere Verantwortliche geben, die zur Abwehr der Gefahr in Anspruch genommen werden können. Gerade die aufgezeigten Zusatzverantwortlichkeiten bei der Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit oder die sog. Doppelstörer, die sowohl verhaltens- als auch zustandsverantwortlich sind, geben den zuständigen Behörden zur Gefahrenabwehr die Möglichkeit der individuellen Auswahl. Diese Entscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde (vgl. § 12 ASOG Bln, § 14 SOG M-V, § 3 PolG NRW; § 3 PolG BW; § 4 Abs. 1 BremPolG; § 16 BPolG). Sie hat dabei Entschließungs- und Auswahlermessen. Bei „besonders hoher Intensität der Störung oder Gefährdung“ (BVerwGE 11, 95 <97>) oder „besonders schweren Gefahrenfällen“
(BVerwG, DÖV 1969, 465) kann dieser Ermessensspielraum eingeschränkt sein. Zentrales und entscheidendes Kriterium bei der Störerauswahl ist der gefahrenabwehrrechtliche Grundsatz der Effektivität der Gefahrenabwehr, dass sich die Behörde also an denjenigen wendet, der die Gefahr am schnellsten und effektivsten beseitigen kann (Schmidt, Rn. 816). So ist im Verhältnis Mieter (als Inhaber der tatsächlichen Gewalt) und Eigentümer der Mieter als Anwesender, sofort Handlungsfähiger eher in der Lage, einen losen Ziegelstein vom Dach des Hauses zu entfernen als der entfernt wohnende Eigentümer. Andersherum wird sich die Behörde an den Eigentümer wenden, wenn es um bestimmte Handlungen geht, die dem Mieter aus mietvertraglichen bzw. eigentumsrechtlichen Gründen verboten sind, er dazu also rechtlich nicht in der Lage ist. In der Literatur finden sich darüber hinaus vermehrt Faustformeln für die Inanspruchnahme, etwa „Verhaltensverantwortlicher/Handlungsstörer vor Zustandsstörer“ oder „Doppelstörer vor einfachem Störer“ (Thiel, Rn. 305). Die Tauglichkeit solcher Faustformeln ist umstritten (Vgl. Schoch, JURA 2012, 685 <688>). Es wird hier zu raten sein, eine wertende Gesamtbetrachtung der jeweiligen Umstände des konkreten Einzelfalls vorzunehmen.
Schlagwortarchiv für: Störerauswahl
Mit Beschluss vom 03.07.2013 (5 L 193/13) entschied das Verwaltungsgericht Aachen über den Eilrechtsschutzantrag eines Grundstückseigentümers gegen eine an ihn gerichtete bauordnungsrechtliche Beseitigungsverfügung. Gegenstand der angegriffenen Verfügung des Kreises Düren war die Beseitigug eines auf dem Grundstück des Antragstellers erichteten Protestcamps gegen die Erweiterung des Tagesbaus Hambach.
A. Sachverhalt
Im Rahmen der Proteste gegen die (weitere) Ausdehnung des Tagebaus Hambach errichteten Aktivisten auf dem Grundstück, das im Bereich des geplanten Tagebaus liegt, ein aus Zelten, Wohn- und Bauwagen, Pkws mit Vorzelt bzw. Windschutz, Holzhütten sowie einer „Kriechbude“ mit blauer Folienabdeckung bestehendes Protestcamp. Der Eigentümer des im Außenbereich liegenden Grundstücks hatte den Aktivisten die Errichtung des Camps Ende 2012 gestattet. Wie von dem Antragsteller im Verfahren ausgeführt, sollte das Camp primär den „Protestorganismus“ am Leben erhalten und verhindern, dass die Beteiligten „in alle Himmelsrichtungen“ vertrieben werden. Dabei diene es auch als Obdach seiner Bewohner und als Ausgangsbasis für die Planung des Widerstands und insbesondere von Protestveranstaltungen. Mit Bescheid vom 22.03.2013 verfügte der Kreis Düren gegenüber dem Eigentümer der Wiese, unter (formell ordnungsgemäßer) Anordnung der sofortigen Vollziehung, das Camp zu beseitigen. Gegen diesen Bescheid hat der Grundstückseigentümer Anfechtungsklage beim Verwaltungsgericht erhoben. Zugleich begehrt er im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.
B. Rechtliche Würdigung
Der Antrag des Grundstückseigentümers hat Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.
I. Zulässigkeit
Angesichts der zahlreichen materiell-rechtlichen Probleme, die der Fall im Rahmen der Begründetheit aufwirft, sollte die Zulässigkeitsprüfung in einer Klausur möglichst kurz ausfallen. Gleichwohl sind im Eilrechtsschutz stets (also auch hier) folgende Punkte zumindest kurz anzusprechen (siehe ausführlich zur Zulässigkeitsprüfung unseren Grundlagenbeitrag zu § 80 Abs. 5 VwGO):
1. Statthaftigkeit
Statthaft ist der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGo, da sich der Antragsteller gegen den Vollzug eines ihn belastenden Verwaltungsakts (in Form der Beseitigungsverfügung) wendet, gegen den in der Hauptsache die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) statthaft ist. In diesen Fällen ist Eilrechtsschutz vorrangig nach den §§ 80, 80a VwGO und nicht nach § 123 Abs. 1 VwGO zu gewähren (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO).
2. Rechtsschutzbedürfnis
Das für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGo erforderliche Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, da der Anfechtungsklage des Antragstellers wegen der Vollziehungsanordnung der Behörde keine aufschiebende Wirkung zukommt (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) und die Klage fristgerecht erhoben worden, also nicht offensichtlich unzulässig ist.
II. Begründetheit
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO ist begründet, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtmäßig ist und das private Aussetzungsinteresse (Suspensivinteresse) des Antragsstellers das öffentliche Vollzugsinteresse der Behörde überwiegt. Dies richtet sich in erster Linie nach den (summarisch zu prüfenden) Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Ist der Verwaltungsakt danach (offensichtlich) rechtswidrig, hat der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO regelmäßig Erfolg, da an dem Vollzug eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Ist der Verwaltungsakt (offensichtlich) rechtmäßig, überwiegt das Vollzugsinteresse der Behörde (im Fall des § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO) aber nur, wenn ein besonderes Vollzugsinteresse vorliegt.
1. Formell rechtmäßige Anordnung der sofortigen Vollziehung
Im Hinblick auf die formellen Anforderungen an die behördliche Vollziehungsanordnung nach § 80 Abs. 3 VwGO bestehen laut Sachverhalt keine Bedenken
2. Interessenabwägung – Erfolgsaussichten in der Hauptsache
Als Ermächigungsgrundlage für die bauordnungsrechtliche Verfügung kommt § 61 Abs. 1 BauO NRW in Betracht. Danach haben die Bauaufsichtsbehörden bei der Errichtung, der Änderung, dem Abbruch, der Nutzung, der Nutzungsänderung sowie der Instandhaltung baulicher Anlagen darüber zu wachen, dass die öffentlich-rechtlichen Vorschriften und die aufgrund dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen eingehalten werden (Satz 1). Sie haben in Wahrnehmung dieser Aufgaben nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen (Satz 2).
a) formelle Rechtmäßigkeit
Die formellen Voraussetzungen (Zuständigkeit/Verfahren/Form) waren vorliegend gewahrt. Etwaige Anhörungsmängel wurden jedenfalls im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens nach § 45 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG NRW geheilt (im Interesse der Leserlichkeit des Beitrags wird die Thematik hier nicht näher dargestellt – siehe vertiefend etwa hier).
b) materielle Rechtmäßigkeit
Auf Tatbestandsebene setzt eine auf § 61 Abs. 1 BauO NRW gestützte Beseitigungsanordnung das Vorliegen einer baulichen Anlage sowie deren formelle und materielle Illegalität voraus.
aa) Protestcamp als bauliche Anlage im Sinne der §§ 2, 61, 63 BauO NRW
Bei den das Protestcamp bildenden einzelnen Bestandteilen müsste es sich um bauliche Anlagen im Sinne des § 2 BauO NRW handeln.
Bauliche Anlagen sind mit dem Erdboden verbundene, aus Bauprodukten hergestellte Anlagen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW). Eine Verbindung mit dem Erdboden besteht nach § 2 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW auch dann, wenn die Anlage durch eigene Schwere auf dem Erdboden ruht oder auf ortsfesten Bahnen begrenzt beweglich ist oder wenn die Anlage nach ihrem Verwendungszweck dazu bestimmt ist, überwiegend ortsfest benutzt zu werden.
Zu diesen Anlagen gehören neben Zelten, die mit Heringen und/oder ähnlichen Befestigungen mit dem Erdboden verankert sind, vgl. Gädtke/Czepuck/Johlen/Plietz/Wenzel, BauO NRW, 12. Aufl., § 2 Rdnr. 45, auch zu Wohnzwecken genutzte Wohn-, Bau- und Verkaufswagen, bei denen die Funktion als Transportmittel bei wertender Betrachtung in den Hintergrund tritt, vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 13. März 1998 – 2 S 2.98 -, BRS 60 Nr. 206; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22. Oktober 1985 – 4 TH 1864/85 -, BRS 44 Nr. 136 = juris, sowie Pkws mit Vorzelt bzw. Windschutz, wenn diese überwiegend ortsfest benutzt werden.
Folglich handelt es sich bei den verschiedenen Bestandteilen des Camps um bauliche Anlagen.
bb) formelle Illegalität
Die formelle Illegalität folgt grds. aus dem Umstand, dass der Grundstückeigentümer die für die einzelnen baulichen Anlagen gemäß § 63 BauO NRW erforderliche Baugenehmigung nicht besitzt.
Man kann an dieser Stelle (wie auch das Verwaltungsgericht) noch eine Abgrenzung zu fliegenden Bauten im Sinne des § 79 BauO NRW vornehmen (die keiner Baugenehmigung nach § 63 BauO NRW bedürfen). Dies lässt sich leicht mit Hilfe der Legaldefinition des § 79 Abs. 1 BauO NRW vornehmen. Die insoweit erforderliche Eignung und Bestimmung zum wiederholten Aufstellen und Zerlegen an verschiedenen Orten ist vorliegend angesichts des zum Enscheidungszeitpunkt bereits monatelang unveränderten Standorts des Camps zu verneinen.
cc) materielle Illegalität
Materiell ist das im Außenbereich befindliche Vorhaben (das die Errichtung von baulichen Anlagen zum Inhalt hat, vgl. § 29 Abs. 1 BauGB) an § 35 BauGB zu messen. Im Rahmen des § 35 BauGB ist zuerst zu prüfen, ob ein privilegiertes Vorhaben im Sinne des § 35 Abs. 1 BauGB vorliegt (und öffentliche Belange nicht entgegenstehen). Ist dies nicht der Fall, kann sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit als sonstiges Vorhaben aus § 35 Abs. 2 BauGB ergeben, wenn die Ausführung oder Benutzung öffentliche Belange nicht beeinträchtigt und die Erschließung gesichert ist.
- Protestcamp kein privilegiertes Vorhaben im Sinne des § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB
In Betracht kommt vorliegend allein der Tatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB. Danach sind Vorhaben privilegiert, die wegen ihrer besonderen Anforderungen an die Umgebung, wegen ihrer nachteiligen Wirkung auf die Umgebung oder wegen ihrer besonderen Zweckbestimmung nur im Außenbereich ausgeführt werden sollen.
Die Bestimmung stellt einen Auffangtatbestand für diejenigen nicht in § 35 Abs. 1 BauGB benannten Vorhaben dar, die auf einen Standort im Außenbereich angewiesen sind. Zur Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen bedarf es einer rechtlichen Wertung, ob das Vorhaben nach Lage der Dinge des jeweiligen Einzelfalls aus einem der in der Vorschrift genannten Gründe hier und so sachgerecht nur im Außenbereich untergebracht werden kann. Diese Wertung beinhaltet vor allem die Entscheidung, ob das Vorhaben überhaupt im Außenbereich ausgeführt werden soll. Das ist nicht der Fall, wenn es zur Erfüllung der zulässigen und an sich außenbereichsadäquaten Funktion nicht erforderlich ist (siehe dazu zuletzt etwa die lesenswerte Entscheidung des OVG Münster, Urteil vom 15.02.2013 – 10 A 237/11 Rz. 27 ff. – juris, zu einem Hundeauslaufplatz im Außenbereich).
Gemessen an diesen Kriterien verneint das Gericht die Einordnung des Protestcamps als privilegiertes Vorhaben im Sinne des § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB:
In Anwendung dieser Grundsätze fehlt es vorliegend an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass die Vorhaben auf Verhältnisse angewiesen sind, die typischerweise im Außenbereich anzutreffen sind. Die Eigentümer der streitgegenständlichen Anlagen nutzen das „Protestcamp“ nach den eigenen Angaben des Antragstellers in dem Schriftsatz vom 6. Mai 2013 primär um den „Protestorganismus“ am Leben zu erhalten und zu verhindern, dass die Beteiligten „in alle Himmelsrichtungen“ vertrieben werden. Es dient als Obdach seiner Bewohner und als Ausgangsbasis für die Planung des Widerstands und insbesondere von Protestveranstaltungen, z.B. der vom Antragsteller selbst organisierten Demonstration vom 18. November 2012 an der Autobahnabfahrt Kerpen-Buir. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass ein derartiges „Basislager“ nicht auch im Innenbereich realisiert werden könnte.
- Beeinträchtigung öffentlicher Belange im Sinne des § 35 Abs. 2 BauGB
Zur Bestimmung möglicher öffentlicher Belange, die ein sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB beeinträchtigen könnte, sollte man sich immer zunächst an den Regelbeispielen des § 35 Abs. 3 BauGB orientieren. Diese sind freilich nicht abschließend. Im vorliegenden Fall könnte das Vorhaben sowohl den Darstellungen des Flächennutzungsplans widersprechen (§ 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BauGB) (dieser stellt das Baugrundstück als „Fläche für die Landwirtschaft“ dar), oder das Entstehen einer Splittersiedlung befürchten lassen (§ 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB).
Das Verwaltungsgericht lässt die Frage jedoch offen und stellt maßgeblich auf das vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte – in § 35 Abs. 3 BauGB nicht ausdrücklich geregelte – öffentlichen Belang „Erfordernis einer förmlichen Planung“ ab. Dabei geht es vereinfacht gesagt um die Frage, ob das in Rede stehende Gebiet bauplanungsrechtlich zum Gegenstand eines Bebauungsplans gemacht werden müsste. In einem solchen Fall sind die Kriterien des § 35 BauGB nicht geeignet, um die Zulässigkeit eines Vorhabens zu beurteilen:
Die öffentlichen Belange, die der Gesetzgeber in § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB aufzählt, haben nur beispielhaften Charakter. Zu den nicht benannten öffentlichen Belangen gehört auch das Erfordernis einer förmlichen Planung. Dieser öffentliche Belang hat allerdings eine andere Qualität als die in § 35 Abs. 3 BauGB genannten. Er bringt zum Ausdruck, dass die in § 35 BauGB selbst enthaltenen Vorgaben nicht ausreichen, um im Sinne des erwähnten Konditionalprogramms eine Entscheidung über die Zulässigkeit des beabsichtigten Vorhabens treffen zu können. Das im Außenbereich zu verwirklichende Vorhaben kann eine Konfliktlage mit so hoher Intensität für die berührten öffentlichen und privaten Belange auslösen, dass dies die in § 35 BauGB vorausgesetzte Entscheidungsfähigkeit des Zulassungsverfahrens übersteigt. Ein derartiges Koordinierungsbedürfnis wird vielfach dann zu bejahen sein, wenn die durch das Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einen in erster Linie planerischen Ausgleich erfordern, der seinerseits Gegenstand einer abwägenden Entscheidung zu sein hat. Eine in diesem Sinne „abwägende“ Entscheidung ist nach der Gesetzeslage weder der Genehmigungsbehörde noch der Gemeinde im Rahmen des § 36 Abs. 1 BauGB zugestanden. Sie ist nach Maßgabe der §§ 1 ff. BauGB allein in einem Bauleitplanverfahren zu treffen.
Ob ein Erfordernis förmlicher Planung besteht, richtet sich im Einzelfall vor allem nach dem Umfang des Vorhabens und der Möglichkeit seiner Einordnung in die nähere Umgebung, wobei der Katalog der § 35 Abs. 3 BauGB insoweit wichtige Anhaltspunkte liefert.
Lässt sich die Koordination der Belange sachgerecht letztlich nur im Wege einer Abwägung sicherstellen, so ist dies auch ein hinreichendes Anzeichen für seine bodenrechtlich relevanten Auswirkungen, die geeignet sind, ein Planungsbedürfnis auszulösen.
Eine solche Situation ist hier gegeben. Dabei kommt der Tatsache, dass nur die einzelnen baulichen Anlagen, nicht aber die Gesamtanlage als solche, bei der es sich nicht um einen Campingplatz im Sinne von § 2 Abs. 1 der Verordnung über Camping- und Wochenendplätze handelt, genehmigungspflichtig ist, keine Bedeutung zu. Die 19 baulichen Anlagen treten nämlich schon wegen ihrer Verwirklichung in einem engen räumlichen Zusammenhang auf einem Flurstück und wegen ihres Charakters als (wildes) Camp als einheitliche Anlage in Erscheinung. Ein solches inmitten landwirtschaftlich genutzter Felder gelegenes Camp setzt eine förmliche Planung voraus, weil die ortsfeste Aufstellung der Anlagen eine Nutzung des Grundstücks durch die Mitglieder der Protestbewegung ermöglicht, die gesteigerte Anforderungen an die Gestaltung der in der näheren Umgebung befindlichen Wege und Straßen, die in erster Linie für den landwirtschaftlichen Verkehr ausgebaut sind, und an die Erschließungsanlagen (Wasser und Abwasser) stellt. Dies sind Belange, die grundsätzlich einer planerischen Steuerung bedürfen.
Die Zulässigkeit des Vorhabens kann damit im Ergebnis nicht auf § 35 BauGB gestützt werden, da es einer formelle Planung bedurft hätte.
- dd) Zwischenergebnis: Protestcamp formell und materiell illegal
c) Rechtsfolgenseite
Auf Rechtsfolgenseite sind nun verschiedene Gesichtspunkte zu erörtern. Die Erwägungen müssen in einer Klausur in eine sinnvolle (vertretbare) Reihenfolge gebracht werden. Da § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW der Behörde Ermessen einräumt („Sie haben in Wahrnehmung dieser Aufgaben nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen“) und sich die Begründetheit des Antrags nach den Erfolgsaussichten der Hauptsache richtet (s.o.), empfiehlt es sich, zunächst – wie gewohnt – die ordnungsgemäße Ermessensbetätigung im Hinblick auf Maßnahme und Störer überprüfen (vgl. dazu § 114 VwGO) und dann auf eine mögliche Beeinträchtigung von Grundrechten einzugehen.
aa) Auswahlermessen: hohe Anforderungen an Beseitigungsanordnung im Eilrechtsschutz
Eine bauaufsichtsrechtliche (auf die Generalklausel des § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW gestützte) Verfügung, mit der die Beseitigung baulicher Anlagen (im Gegensatz zur Untersagung ihrer Nutzung oder einer Baueinstellung) angeordnet wird, setzt wegen der besonders hohen Eingriffsintensität jedenfalls die formelle und materielle Ilegalität der Anlagen voraus. Selbst wenn das Vorhaben formell und materiell illegal ist, bedarf es stets der Prüfung, ob nicht auf andere Weise (durch weniger einschneidende Maßnahmen) rechtmäßige Zustände hergestellt werden können. Hier ist nun zu erkennen, dass die Rechtmäßigkeit einer Beseitigungsanordnung im Eilrechtsschutz höheren Anforderungen unterliegt und regelmäßig zu verneinen ist.
Der Antragsgegner konnte die angefochtene Verfügung auch in rechtlich zulässiger Weise auf die formelle und materielle Illegalität der Vorhaben stützen, soweit hierdurch das Entfernen der baulichen Anlagen vom Grundstück des Antragstellers gefordert wird. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung einer bauaufsichtlichen Beseitigungsverfügung ist, worauf der Antragsteller zu Recht hinweist, zwar regelmäßig zu verneinen, weil der – nur durch ein Eilverfahren bestätigte – Abbruch von baulichen Anlagen die Hauptsache in unangemessener Weise vorwegnehmen kann.
Formell und materiell illegalen Baumaßnahmen ist daher regelmäßig durch Stilllegung der Baumaßnahmen oder Untersagung der Nutzungsaufnahme zu begegnen. Mit der Anordnung dieser Maßnahmen wird dem Zweck der Genehmigungspflicht – das Bauvorhaben soll (vor seiner Ausführung) auf seine Zulässigkeit geprüft werden – in aller Regel hinreichend Rechnung getragen. Auch kann der Vorteil, den der ohne die erforderliche Baugenehmigung Bauende gegenüber dem gesetzestreuen Bürger dadurch erlangt, dass er eine nicht zugelassene Baumaßnahme bzw. Nutzung schon vor der Erteilung der Baugenehmigung verwirklicht, durch die Stilllegung oder Nutzungsuntersagung weitgehend aufgehoben werden.
Gemessen an diesen Kriterien unterliegt die Rechtmäßigkeit der Beseitigungsanordnung zunächst erheblichen Bedenken. Etwas anderes kann aber gelten
in Ausnahmefällen, wenn beispielsweise die Beseitigung den ohne die erforderliche Baugenehmigung Bauenden nicht wesentlich härter trifft als ein Nutzungsverbot oder – wie bei Werbeanlagen – das Nutzungsverbot einer Beseitigung gleichkommt, darf die Behörde die sofortige Entfernung des Baukörpers allein wegen formeller und materielle Illegalität verlangen. In jedem Fall muss die Beseitigung der baulichen Anlage ohne erheblichen Substanzverlust und andere – absolut und im Wert zur baulichen Anlage gesehen – hohe Kosten für Entfernung und Lagerung möglich sein.
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts liegt hier ein solcher Ausnahmefall vor, denn
Die Beseitigung der streitgegenständlichen baulichen Anlagen ist ganz offensichtlich ohne (größeren) Substanzverlust und wesentliche wirtschaftliche Aufwendungen möglich. Die Zelte und Vorbauten können abgebaut, zusammengelegt, in den verschiedenen Fahrzeugen verstaut und gemeinsam mit den Fahrzeugen vom Grundstück entfernt werden. Die Hütte, die aus Holzresten behelfsmäßig gezimmert wurde, und die Kriechbude, die aus in den Boden eingegrabenen Holzplatten und hierauf befestigten Folienabdeckungen besteht, können auseinandergenommen und die Bauteile später einer erneuten Verwendung zugeführt werden. Ein nennenswerter Substanzverlust tritt daher nicht ein.
Die Beseitigung der baulichen Anlagen trifft den Antragsteller bei objektiver Betrachtung auch nicht härter als ein Nutzungsverbot. Denn ein solches hätte ebenfalls zur Folge, dass aus Sicherheitsgründen zumindest die Zelte, zeltartigen Konstruktionen und Vorbauten abgebaut und ebenso wie die Fahrzeuge entfernt werden müssten, da diese ansonsten der Gefahr einer Beschädigung durch Witterungseinflüsse ausgesetzt und/oder dem Zugriff Dritter schutzlos preisgegeben wären.
Darüber hinaus könnte eine Nutzungsuntersagung wegen der Lage der Bauvorhaben im Außenbereich aber auch nicht wirksam überwacht werden, so dass allein die Beseitigung der streitgegenständlichen baulichen Anlagen für eine Wiederherstellung baurechtmäßiger Zustände in Betracht kommt.
bb) Störerauswahlermessen: Grundstückseigentümer als Störer
Im Hinblick auf die Störerauswahl gilt es zu erkennen, dass grundsätzlich auch eine Inanspruchnahme der einzelnen Camp-Insassen (als Verhaltensstörer) in Betracht gekommen wäre. Allerdings lag es unter dem Gesichtspunkt der Effektivität der Gefahrenabwehr nahe, den Eigentümer des Grundstücks in Anspruch zu nehmen:
Zwar wäre auch in Betracht gekommen, den jeweiligen Inhaber der baurechtlich illegal aufgestellten und genutzten Anlagen in den Grenzen seiner jeweiligen Verhaltensverantwortlichkeit (§ 17 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden) einzeln heranzuziehen. Eine Verpflichtung, das Auswahlermessen in der letztgenannten Weise auszuüben, bestand für den Antragsgegner jedoch nicht. Denn es gibt kein generelles Rangverhältnis zwischen der Inanspruchnahme des Verhaltens- und des Zustandsstörers; die Entschließung, wer als Pflichtiger heranzuziehen ist, ist vielmehr an den Umständen des Einzelfalles, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und auch dem Gebot effektiver und schneller Gefahrenabwehr auszurichten.
Ausgehend hiervon erweist sich die Entscheidung des Antragsgegners, den Antragsteller als Störer heranzuziehen, als ermessensgerecht. Sie beruht im Kern auf der Erwägung, dass die Bewohner der baulichen Anlagen häufig wechseln und daher nur schwer zu ermitteln sind, und berücksichtigt ergänzend, dass der Antragsteller über das bloße Zurverfügungstellen des Grundstücks hinaus durch eigenes Handeln – nämlich die aktive Unterstützung der Bewohner des Camps – die baurechtlich illegalen Anlagen in ihrem (Fort-)Bestand erhält. Diese Überlegungen sind nicht zu beanstanden. Die Inanspruchnahme des Antragstellers entspricht vielmehr dem Ziel effektiven Verwaltungshandelns, weil derzeit weder die einzelnen Nutzer noch deren Namen und Anschriften bekannt sind und ein Vorgehen gegen diese Personen mit erheblichen Aufwand verbunden wäre, den zu treiben der Antragsgegner nicht verpflichtet ist.
cc) Ermessensüberschreitung – Beeinträchtigung von Grundrechten
Ein Ermessensfehler (in Form der Ermessensüberschreitung) kann auch in einer Verletzung von Grundrechten liegen. Das Verwaltungsgericht prüft im vorliegenden Fall, ob die Beseitigungsanordnung in den Schutzbereich des Art. 8 GG eingreift. Dann müsste da Protestcamp eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG sein. Dies verneint das Verwaltungsgericht wegen des fehlenden funktionalen Zusamenhangs zwischen der Camp-Infrastruktur und dem Versammlungszweck:
Geschützt ist zwar der gesamte Vorgang des Sichversammelns, wozu auch der Zugang und die Abreise zu einer bevorstehenden oder sich bildenden Versammlung gehört. Ebenso wenig wie es für die Eröffnung des Schutzbereich des Art. 8 GG ausreicht, dass die Teilnehmer einer Veranstaltung durch einen beliebigen Zweck miteinander verbunden sind, kann auch nicht jede Begleiterscheinung einer Versammlung oder eine für deren Durchführung begehrte Infrastruktur (Zelte, Sitzgelegenheiten, Ver- und Entsorgungseinrichtungen etc.) dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfallen. Dies ist vielmehr nur dann anzunehmen, wenn die jeweils in Rede stehenden Gegenstände und Hilfsmittel zur Verwirklichung des Versammlungszwecks funktional und symbolisch für die kollektive Meinungskundgebung wesensnotwendig sind, denn der Versammlungsbegriff bzw. dessen Schutzbereich ist nicht weiter auszudehnen, als dies zur Schutzgewährung nach Art. 8 GG erforderlich ist. (…) Solange das Camp primär als Basislager zur Organisation des Widerstands dient, der u.a. die Mobilisierung der örtlichen Bevölkerung zum Ziel hat, ist der gemeinsame Zweck nicht auf die unmittelbare Teilnahme an einer der Meinungsäußerung und Meinungsbildung dienenden Veranstaltung gerichtet. Seine Errichtung hat vielmehr die Schaffung derjenigen „Infrastruktur“ zum Ziel, die für die Erhaltung der Protestorganisation erforderlich ist. Eine feste „Infrastruktur“ fällt aber gerade nicht unter den Schutz des Grundrechts
Die Beseitigungsanordnung ist damit auch unter Ermessensgesichtpunkten nicht zu beanstanden und stellt sich damit im Ergebnis als offensichtlich rechtmäßig dar.
3. Besonderes Vollzugsinteresse
Hat der Rechtsbehelf in der Hauptsache keine Aussicht auf Erfolg, weil der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist, bedarf es zur Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung wegen des in § 80 Abs. 1 VwGO (Regelfall: aufschiebende Wirkung) zum Ausdruck kommenden Regel-/Ausnahme Verhältnis eines besonderen öffentlichen Vollzugsinteresses. Hier ist stets eine Würdigung der Umstände des Einzelfalls angezeigt:
Für die hier gewählte Beseitigungsanordnung spricht zudem, dass aufgrund des bisherigen Verhaltens des Antragstellers, der eine Ausweitung des Camps in der Vergangenheit nicht nur hingenommen, sondern bewusst gefördert hat, Anhaltspunkte dafür bestehen, dass weitere ungenehmigte Baumaßnahmen zu befürchten sind. Auch insoweit ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung gerechtfertigt, da nur so einer weiteren Verfestigung und Entstehung baurechtswidriger Zustände auf dem Grundstück des Antragstellers wirksam entgegengewirkt werden kann.
Letztlich geht von dem Protestcamp auch eine Vorbildwirkung aus, obwohl dieses im Außenbereich gelegen und nach den Angaben des Antragstellers nicht ohne Weiteres einsehbar ist. Denn es ist nicht auszuschließen, dass sich andere Gegner des Tagebaus Hambach durch das pressewirksame Camp ermutigt sehen, in der näheren Umgebung in gleicher Weise illegale bauliche Anlagen zu errichten.
III. Ergebnis
Der Antrag des Grundstückseigentümers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Anfechtungsklage gegen die Beseitigungsanordnung des Kreises Düren hat keine Aussicht auf Erfolg.
IV. Fazit
Die Entscheidung ließe sich unverändert als Examensklausur stellen. Sie enthälten eine ganze Reihe verwaltungsrechtlicher Problemstellungen, sowohl aus dem allgemeinen (Heilung einer unterlassenen Anhörung im gerichtlichen Verfahren, Störerauswahl, Ermessensprüfung), als auch aus dem besonderen (Begriff der baulichen Anlage, Voraussetzungen einer Beseitigungsanordnung, bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nach § 35 BauGB) Verwaltungsrecht. In einer Klausur würden vermutlich einzelnen Erwägungen des Gerichts auch bereits im Sachverhalt angedeutet werden. Die zugrundeliegende Thematik (Tagebau Hambach) ist zudem äußerst öffentlichkeitswirksam und eignen sich deshalb ausgezeichnet für ein mündliches Prüfungsgespräch.
Abschließend sei noch einmal auf unseren Grundlagenbeitrag zu § 80 Abs. 5 VwGO verwiesen.
Die Figur des Zweckveranlassers ist seit geraumer Zeit in Schrifttum und Rechtsprechung höchst umstritten und mithin ein „Klassikerproblem“ des Polizei- und Ordnungsrechts. Solides Grundwissen erleichtert dem Prüfling dabei den Einstieg in die Falllösung. Klausurtechnisch taucht die Zweckveranlasserproblematik im Rahmen der auf Tatbestandsebene zu verortenden Prüfung auf, ob die handelnde Polizei- oder Ordnungsbehörde ihre Maßnahme gegen den richtigen Störer bzw. den Verursacher der Gefahr gerichtet hat. Zunächst sollen die gängigen Verursachungstheorien hinsichtlich der polizei- und ordnungsrechtlichen Handlungsverantwortlichkeit kurz dargestellt werden (I.). Im Anschluss daran folgt eine sich auf das im Rahmen des Examens erforderliche Wissen beschränkende Darstellung des Streitstandes hinsichtlich Zulässigkeit und Voraussetzungen einer Inanspruchnahme als Zweckveranlasser (II.).
I. Verursacherbegriff im Polizei- und Ordnungsrecht
Die Störereigenschaft hängt maßgeblich davon ab, ob im polizeirechtlichen Sinne eine Gefahr verursacht wurde. Auf ein Verschulden oder eine Verschuldensfähigkeit kommt es dabei nicht an. Zur Ermittlung der polizeirechtlichen Kausalität kommt zunächst die Äquivalenztheorie i.S.d condicio sine qua non – Formel in Betracht, wonach grundsätzlich jede getätigte Handlung, die nicht hinweggedacht, bzw. jede unterlassene Handlung, die nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele, ursächlich ist. Die Äquivalenztheorie wird allerdings in diesem Kontext von der h.M aufgrund ihrer Uferlosigkeit und der damit einhergehenden übermäßigen Ausdehnung der polizeirechtlichen Verantwortlichkeit abgelehnt. Beim polizeirechtlichen Verursacherbegriff darf also nicht allein auf die Kausalität im Sinne naturwissenschaftlicher Regeln abgestellt werden. Auch die aus dem Zivilrecht bekannte Adäquanztheorie erscheint im Kontext des Polizeirechts als untauglich, da Ädaquanz im Ergebnis auf die Vorhersehbarkeit und damit auf das Verschulden abstellt. Die polizeirechtliche Haftung ist jedoch, wie eingangs bereits erwähnt, verschuldensunabhängig (täterindifferent). Die Theorie der rechtswidrigen Verursachung stellt hingegen darauf ab, dass die Handlungsverantwortlichkeit Folge rechtswidrigen Handelns ist. Nach einer anderen Literaturmeinung ist die Frage der Verhaltensverantwortlichkeit anhand wertender Kriterien wie Pflichtwidrigkeit oder Risikosphäre zu ermitteln (Lehre von der Risikosphäre).
Nach der mittlerweile wohl herrschenden Theorie der unmittelbaren Verursachung ist nur diejenige Person verhaltensverantwortlich, die die Gefahr unmittelbar herbeigeführt hat und damit selbst und in eigener Person die Gefahrenschwelle überschritten hat.
II. Die Lehre vom Zweckveranlasser
Als Zweckveranlasser (auch mittelbarer Verursacher genannt) wird im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne eine Person bezeichnet, der eine Gefährdung oder Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch Dritte aufgrund einer eigenen, für sich betrachtet rechtmäßigen bzw. neutralen Handlung zugerechnet wird.
Die Rechtsfigur des Zweckveranlassers wird von Teilen des Schrifttums grundsätzlich abgelehnt. Begründet wird dies mit dem Analogieverbot, dem Schutz von Grundrechten sowie dem Verweis auf den Grundsatz, wonach eine polizeirechtwidrige Situation nur durch eigenverantwortliches Handeln geschaffen werden kann. Danach soll gegen denjenigen, der lediglich einen mittelbaren Verursachungsbeitrag geleistet hat, nur unter den Voraussetzungen der Notstandverantwortlichkeit vorgegangen werden können.
Der herrschenden Ansicht zufolge kann auch ein mittelbarer Verursacher einer Gefahr als Handlungsverantwortlicher im polizeirechtlichen Sinne angesehen werden, wobei allerdings streitig ist, unter welchen Voraussetzungen dies der Fall ist.
Die subjektive Zweckveranlassertheorie stellt primär darauf ab, ob der Handelnde zweckgerichtet die Gefahrenverwirklichung durch Dritte beabsichtigt oder zumindest billigend in Kauf genommen hat. Auf Grundlage der objektiven Zweckveranlassertheorie ist eine Verhaltensstörereigenschaft dann zu bejahen, wenn aus der Sicht eines unbeteiligten Dritten die eingetretene Folge typischerweise durch die Veranlassungshandlung herbeigeführt wird. Die h.M vertritt hingegen eine vermittelnde Sichtweise, indem sie diese beiden Ansichten in ein Alternativitätsverhältnis stellt. Danach ist Zweckveranlasser und damit Verhaltensstörer, wer die Störung bzw. Gefahr subjektiv bezweckt oder dessen Verhalten zwangsläufig eine Störung oder Gefahr zur Folge hat.
Gegner und Befürworter dieser Rechtsfigur sind sich allerdings einig, dass eine Inanspruchnahme als Zweckveranlasser in der Regel jedenfalls dann ausscheiden muss, wenn bei wertender Betrachtungsweise in rechtmäßiger Weise von grundrechtlich geschützten Verhaltensweisen Gebrauch gemacht wurde. In derartigen Konstellationen kommt jedoch eine Inanspruchnahme als Nichtstörer in Betracht.
Beispiel 1: Ladeninhaber L engagiert gutaussehende (weibliche) Models und lässt sie im Schaufenster seines Ladengeschäfts spärlich bekleidet in aufreizender Weise posieren. Dadurch entsteht eine große Menschenansammlung, die eine Blockade der am Laden vorbeiführenden Straße und ein Verkehrschaos nach sich zieht. L ist jedenfalls objektiver Zweckveranlasser, obwohl ihm das Verkehrschaos möglicherweise (subjektiv) unerwünscht war.
Beispiel 2: A ist Inhaber eines Warenlagers und will seinem Nachbarn eins auswischen. Dazu weist er seinen Warenlieferanten unter Mitgabe des Schlüssels für das Warenlager an, in den nächsten Tagen nur zur Nachtzeit anzuliefern. Hinsichtlich der eintretenden nächtlichen Ruhestörung ist A (subjektiver) Zweckveranlasser. Die Tatsache, dass der Warenlieferant ebenfalls Verhaltensstörer ist, steht dem nicht entgegen. Dies spielt im Falle der Inanspruchnahme des A allein auf Ebene der Ermessensprüfung eine Rolle (Störerauswahlermessen).