Der Vorstandsvorsitzende der Audi-AG Rupert Stadler wurde gestern an seinem Wohnsitz festgenommen und sitzt aktuell in Untersuchungshaft. Seit Beginn der Dieselaffäre im Jahr 2015 soll der Chef der VW-Tochtergesellschaft aus den eigenen Reihen Hinweise erhalten haben, denen zufolge auch bei Fahrzeugen der Marke Audi manipulierte Abgassysteme verarbeitet und verkauft worden sind. Die Münchener Staatsanwaltschaft hatte bereits diverse Telefonate Stadlers abgehört und stellte diverse Unterlagen im Rahmen einer Razzia sicher. Aufgrund konkreter Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr erging letztlich ein Haftbefehl gegen den Vorstandsvorsitzenden. Die Staatsanwaltschaft befürchtete, dass Stadler Zeugen und/oder Beschuldigte im Abgasskandal möglicherweise beeinflussen werde. Sowohl für die schriftliche, als auch mündliche Examensprüfung müssen Kandidaten Grundkenntnisse zum Strafprozessrecht vorweisen können. Die Untersuchungshaft gem. §§ 112 ff. StPO muss von Prüflingen in ihren Grundzügen beherrscht werden. Aus aktuellem Anlass soll deshalb ein kurzer Überblick hierzu gegeben werden:
I. Arten der strafprozessualen Haft nach der StPO
Das Strafprozessrecht kennt verschiedene Arten der Haft, die unterschiedliche Zwecke verfolgen. Die Untersuchungshaft ist in §§ 112 ff. StPO geregelt und dient vornehmlich der effektiven Strafrechtspflege. Daneben besteht die Möglichkeit einer Ordnungs-bzw. Beugehaft gegenüber Zeugen nach §§ 51, 70 StPO. Ebenso kann eine Ordnungshaft entsprechend § 177 GVG angeordnet werden, wenn Parteien, Beschuldigte, Zeugen, Sachverständige oder bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen den zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anordnungen des Gerichts nicht Folge leisten. Ein Haftbefehl kann auch gegen den Angeklagten ergehen, wenn sein Ausbleiben in der Hauptverhandlung nicht genügend entschuldigt ist, § 230 Abs. 2 StPO. Im beschleunigten Verfahren kann zudem ein Haftbefehl gegen den Verdächtigen nach § 127b StPO erlassen werden. Darüber hinaus regelt die StPO in §§ 453c, 457 StPO die Vollstreckungshaft sowie die Strafhaft nach den §§ 449 ff. StPO.
II. Zweck der U-Haft: Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs
Die Untersuchungshaft dient der effektiven Durchführung des staatlichen Strafverfahrens und soll neben der Gewährleistung eines geordneten Verfahrens auch die spätere Strafvollstreckung sicherstellen (vgl. BVerfG Beschluss v. 13.10.1971 – 2 BvR 233/71; MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 2.). Da die Untersuchungshaft einen erheblichen Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) bedeutet, darf sie nur unter strengen Voraussetzungen angeordnet werden. Die staatliche Gemeinschaft hat einen legitimen Anspruch auf eine vollständige Aufklärung der Tat sowie einer zeitnahen Bestrafung des Täters, welcher durch die Untersuchungshaft gesichert werden darf, wenn und soweit die Sicherung nur durch eine Inhaftierung des Verdächtigten möglich ist (vgl. BVerfG Beschluss v. 13.10.1971 – 2 BvR 233/71). Die Untersuchungshaft bedeutet letztlich also immer eine (verfassungsrechtliche) Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Interesse der staatlichen Gemeinschaft an einer effektiven, wirksamen Strafverfolgung (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 1).
III. Voraussetzungen der Untersuchungshaft
Die Prüfungspunkte der Untersuchungshaft ergeben sich unmittelbar aus §§ 112 – 113 StPO: Es bedarf eines dringenden Tatverdachts gegen den Beschuldigten (1) und eines Haftgrundes (2). Zusätzlich muss die Untersuchungshaft dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen (3). Wichtig: Der Prüfungspunkt des dringenden Tatverdachts dient oftmals als Einstieg in den materiellen Teil strafrechtlicher Klausuren / mündlichen Prüfungen!
1. Dringender Tatverdacht
Der Beschuldigte muss der Tat „dringend verdächtig“ sein, § 112 Abs. 1 S. 1 StPO. Ein dringender Tatverdacht liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen eine „hohe“ bzw. „große“ Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist (jüngst BGH Beschluss v. 11.1.2018 – AK 75/17, BeckRS 2018, 1024; BVerfG Beschluss v. 13.10.1971 – 2 BvR 233/71). Zum einen muss also die Täterwahrscheinlichkeit umfassend auf Grundlage der bestehenden Tatsachenbasis geprüft werden. Ebenso ist eine Prognose über die Verurteilungswahrscheinlichkeit zu erstellen (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 21). Bloße Vermutungen reichen also für eine Untersuchungshaft nicht aus (BGH Beschluss v. 18.10.2007 – 3 Sa 214/07, BeckRS 2007, 16872).
2. Haftgrund
Neben dem dringenden Tatverdacht bedarf es für die Anordnung von Untersuchungshaft eines Haftgrundes. Die von der StPO anerkannten Haftgründe sind in § 112 Abs. 2 Nr. 1 – 3 normiert.
a) Fluchtgefahr
112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StPO regelt den Haftgrund der Fluchtgefahr: Untersuchungshaft kann angeordnet werden, wenn festgestellt wird, dass „der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält“ bzw. „bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde“. Flüchtig ist, wer sich von seinem Lebensmittelpunkt (ggf. ins Ausland) absetzt, um für Ermittlungsbehörden und Gerichte unerreichbar zu sein und sich ihrem Zugriff zu entziehen. Verborgen hält sich der Beschuldigte, wenn er etwa unangemeldet, unter falschem Namen oder an einem unbekannten Ort lebt, um sich dem Verfahren zu entziehen (vgl. OLG Karlsruhe Beschluss v. 1.3.2004 – 3 Ws 44/04, BeckRS 2004, 04171). Die Fluchtgefahr stellt statistisch betrachtet den häufigsten Haftgrund dar. Allgemein gilt wieder, dass es einer hohen Wahrscheinlichkeit bedarf, auch wenn insoweit keine volle Überzeugung der Tatsachen notwendig ist (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 41).
b) Verdunkelungsgefahr
112 Abs. 2 Nr. 3 lit. a bis c regelt den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr. Die Vorschrift ist letztlich selbsterklärend. Das Verfahren wird durch den Beschuldigten verdunkelt, wenn er etwa Beweismittel vernichtet, auf Zeugen und/oder Mitbeschuldigte in unlauterer Weise einwirkt oder Dritte zu einem solchen Verhalten veranlasst. Notwendig ist allerdings, dass gerade das Verhalten des Beschuldigten die Gefahr eines erschwerten Verfahrens, also die Verdunkelung begründet. Ein Einwirken auf Beweispersonen setzt bei der Verdunkelungsgefahr eine unmittelbare oder mittelbare psychische Beeinflussung voraus, durch die die Beweislage zuungunsten der Wahrheit geändert werden soll. Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Zeuge durch Bedrohung zur Falschaussage veranlasst wird (OLG Köln Beschluss v. 1.6.2017 – 2 Ws 341/17, BeckRS 2017, 141453).
c) Ausnahme vom Erfordernis eines Haftgrundes bei Schwerkriminalität
Nach dem Wortlaut des § 112 Abs. 3 StPO soll dann, wenn der Beschuldigte einer der in diesem Absatz genannten Straftaten verdächtig ist, Untersuchungshaft auch ohne Vorliegen eines Haftgrundes nach § 112 Abs. 3 StPO angeordnet werden können. Die aufgelisteten Katalogtaten beinhalten Straftaten der Schwerkriminalität. Da auf den ersten Blick die Anordnung von Untersuchungshaft bereits bei Vorliegen eines dringenden Tatverdachts ohne jegliche Anhaltspunkte für eine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr möglich ist, hat sich das Bundesverfassungsgericht früh für eine restriktivere Auslegung der Vorschrift ausgesprochen: In Anbetracht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss die Norm in Zusammenhang mit § 112 Abs. 2 StPO gelesen werden. Es müssen also Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne eine Inhaftierung des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Straftat verhindert werden (BVerfG Beschluss v. 15.12.1965 – 1 BvR 513/65, NJW 1966, 243). Daraus folgt, dass es im Regelfall genügt, wenn eine Flucht oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen ist, wovon bei den genannten Katalogtaten üblicherweise auszugehen sein wird (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 93).
3. Kein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Die Untersuchungshaft darf nicht angeordnet werden, wenn sie unverhältnismäßig ist, § 112 Abs. 1 S. 2 StPO. § 113 Abs. 1, 2 StPO kann insoweit als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips verstanden werden. Das Gesetz sieht die Unverhältnismäßigkeit als Haftausschließungsgrund vor, sodass sie positiv festgestellt werden muss (BeckOK/Krauß, StPO, 29. Ed. 2018, § 112 Rn. 42 m.w.N.). Mildere Mittel können etwa sein, dass der Beschuldigte Personalpapiere abliefert (BeckOK/Krauß, StPO, 29. Ed. 2018, § 112 Rn. 46). Insgesamt muss stets geprüft werden, ob der Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen in Anbetracht des staatlichen Bedürfnisses nach einer effektiven Strafverfolgung unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls nicht außer Verhältnis steht.
IV. Formalia
Die Untersuchungshaft wird von der Staatsanwaltschaft beim Richter beantragt. Zuständig ist bis zur Erhebung der öffentlichen Klage der Ermittlungsrichter, vgl. § 125 Abs. 1 StPO. Nach Erhebung der öffentlichen Klage ist das Gericht, welches mit der Sache befasst ist, zuständig (§ 125 Abs. 2 StPO). Wird der Beschuldigte ergriffen, ist er unverzüglich dem Richter vorzuführen, § 115 Abs. 1 StPO. Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft sehen die §§ 304 ff. StPO (Haftbeschwerde) sowie die §§ 117 ff. StPO (Antrag auf Haftprüfung) vor. Auch besteht die Möglichkeit, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen, § 116 StPO. Die Norm ist ebenfalls als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu verstehen („weniger einschneidende Maßnahmen“).
V. Summa
Die Untersuchungshaft ist nicht nur Theoriestoff der juristischen Ausbildung, sondern vielmehr Gegenstand alltäglicher Strafverfolgungsarbeit. Das jüngste Beispiel aus dem Hause Audi macht dies erneut deutlich. Examenskandidaten sollten die Grundzüge der Untersuchungshaft für Klausuren und die mündlichen Prüfung unbedingt beherrschen. Nicht zuletzt greifen Prüfer gerne auf die Untersuchungshaft zurück, um die materielle Strafrechtsprüfung prozessual einzukleiden.
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