Formelle Verfassungswidrigkeit?
Vor einiger Zeit hatten wir ja bereits über die Debatte rund um die Laufzeitverlängerung für deutsche Atomkraftwerke und die entsprechenden verfassungsrechtlichen Probleme berichtet (s. hier). Hierbei haben wir uns bislang auf die Frage der Zustimmungspflichtigkeit beschränkt.
Materielle Verfassungswidrigkeit?
Aufgrund der tragischen Ereignisse in Japan ist es leider auch angebracht, über materiellrechtliche Aspekte nachzudenken. Insofern kommen mehrere Aspekte in Betracht: Aufgrund der Möglichkeit eines Reaktorunfalls mit katastrophalen Schäden und aufgrund der ungelösten Entsorgungsproblematik könnte die Beendigung der Kernenergienutzung zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bürger (Art. 2 Abs. 1 GG) , zum Schutz der Volksgesundheit, zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG) für ein Leben der heutigen und künftigen Generationen ohne atomare Risiken erforderlich sein, vgl. Koch/Roßnagel, NVwZ 2000, 1, 3.
Leitentscheidung: Schneller Brüter
Das BVerfG hat sich insofern bislang stets zurückhaltend geäußert und dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum zugebilligt, s. etwa den relativ aktuellen Beschluss vom 12. 11. 2008 – 1 BvR 2456/06, NVwZ 2009, 171. Leitentscheidung ist der Beschluss in der Rechtssache „Schneller Brüter“ (Beschluß vom 8. 8. 1978 – 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89 = NJW 1979, 359).
Zunächst einmal hat das BVerfG hier darauf hingewiesen, dass in einer derart grundrechtswesentlichen Frage wie die Atomkraft natürlich das Parlament als zentrale und unmittelbar legitimierte Institution im demokratischen Rechtsstaat entscheiden muss: „Die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland ist wegen ihrer weitreichenden Auswirkungen auf die Bürger, insbesondere auf ihren Freiheits- und Gleichheitsbereich, auf die allgemeinen Lebensverhältnisse und wegen der notwendigerweise damit verbundenen Art und Intensität der Regelung eine grundlegende und wesentliche Entscheidung im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes. Sie zu treffen ist allein der Gesetzgeber berufen.“
Das BVerfG sieht sich dabei zurecht nicht befugt, eine derart hochpolitische Entscheidung im Detail zu entscheiden: „In einer notwendigerweise mit Ungewißheit belasteten Situation liegt es zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen die von ihnen für zweckmäßig erachteten Entscheidungen zu treffen. Bei dieser Sachlage ist es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten. Denn insoweit ermangelt es rechtlicher Maßstäbe.“
Schutzpflichtsverletzungen (insb. Art. 2 GG)?
Was die Möglichkeit einer Schutzpflichtsverletzung angeht, äußerte sich das BVerfG damals ebenfalls sehr zurückhaltend. Vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung zu fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, hieße die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen. Die Logik dahinter ist, dass mit jeder Technik natürlich Risiken verbunden sind und immer Bedenkenträger etwas einzuwenden haben. Ein zu restriktiver Ansatz „würde weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen.“ Die Karlsruher Richter schlussfolgerten, dass vage Ungewissheiten jenseits der Schwelle praktischer Vernunft unentrinnbar seien und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen seien.
Diese Position mag damals schlüssig gewesen sein, doch nach den Vorfällen in Japan kann man sicherlich auch anderer Meinung sein. Selbst ein Land mit höchsten Sicherheitsvorkehrungen wie Japan konnte einen Unfall nicht vermeiden. Der Sicherheitsstandard war dort unstreitig höher als in Tschernobyl und vielleicht sogar höher als in Deutschland. Auch wenn Deutschland kein Erdbebengebiet ist, lassen sich Unfälle auch hier wohl leider nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen – ganz abgesehen von neuen Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus.
Hintertür im „Schneller Brüter“-Beschluss
Eine Hintertür hat sich das BVerfG in seiner Rechtsprechung aufgelassen: „Hat der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird, kann er von Verfassungs wegen gehalten sein zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist.“ Die Entscheidungen können also immer nur auf Grundlage der damals bestehenden technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse Geltung beanspruchen.
Ob nun die Laufzeitverlängerung daher wirklich materiell verfassungwidrig ist, soll hier abschließend nicht entschieden werden. Insofern sind Kommentare mit eigenen Ansichten allerdings ausdrücklich erwünscht.
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