Am gestrigen Sonntag fand die Landtagswahl in Schleswig-Holstein statt, die gegenüber anderen Land- und Bundestagswahlen die Besonderheit aufweist, dass eine teilnehmende Partei – der SSW – nach § 3 Abs. 1 S. 2 SchlHWahlG von der Fünfprozenthürde ausgenommen ist. Dies ist bei der aktuellen Wahl insbesondere deshalb bedeutsam, weil der SSW mit 4,5% knapp die Fünfprozenthürde verfehlte, durch diese Ausnahmeregelung aber die Möglichkeit hat, dennoch drei Abgeordnete zu entsenden, die möglicherweise gemeinsam mit SPD und B90/Grünen die Regierung bilden könnten.
Der Beitrag möchte dies zum Anlass nehmen, den Hintergrund dieser Regelung aufzuzeigen und dessen verfassungsrechtliche Rechtfertigung zu hinterfragen.
I. Entwicklung des Minderheitenwahlrechts
In Deutschland sind vier nationale Minderheiten anerkannt: die Dänen (die im SSW vereint sind), die Friesen, die Sorben und die Sinti und Roma. Wer als nationale Minderheit angesehen wird, ergibt sich aus dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten i.V.m. der Ratifizierung durch die jeweiligen Staaten. Wahlrechtlich genießen diese Minderheiten in Deutschland besonderen Schutz – sowohl in einigen Ländern durch die Ausnahme von der Fünfprozentklausel (bspw. die Sorben in Brandenburg, nicht aber in Sachsen) als auch auf Bundesebene durch die Regelung in § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG. Alle gezeigten nationalen Minderheiten könnten damit – sofern sie auf Bundesebene antreten und ausreichend Stimmen für ein Mandat erhalten – Abgeordnete in den deutschen Bundestag entsenden.
Der Schutz der Dänen in SSW hat historische Gründe und geht auf eine Vereinbarung von 1955 zurück (Kopenhagener Erklärung) nach der der deutschen und der dänischen Minderheit wechselseitig Minderheitenrechte zugesprochen wurden.
II. Verfassungsrechtliche Hintergründe
Das Minderheitenwahlrecht muss verfassungsrechtlich zulässig sein. Zum Wahlrecht sind in letzter Zeit einige wichtige Urteile ergangen (hier, hier und hier sowie hier), die sich meist mit der Frage der Zulässigkeit einer Fünfprozentklausel, bzw. mit der Einteilung von Wahlkreisen und Überhangmandaten befassen.
Ging es bei den Urteilen zur Fünfprozentklausel allerdings um die Frage, ob die Mindestgrenze von fünf Prozent verfassungsrechtlich zulässig ist (was bekanntermaßen bei der Europawahl sowie bei Kommunalwahlen im Gegensatz zu Bundes- und Landtagswahlen nicht der Fall ist), geht es hier um das genaue Gegenteil, nämlich um die Frage, ob die Ausnahme von der Fünfprozenthürde für eine Partei (den SSW) nicht eine unzulässige Besserstellung gegenüber den anderen Parteien ist, insbesondere gegenüber denjenigen, die diese Hürde nicht überspringen.
Anknüpfungspunkt für eine Wahlrechtsprüfung nach dem Grundgesetz wäre Art. 38 GG, nach der schleswig-holsteinischen Landesverfassung wäre es Art. 3 Abs. 1 Verf SH. Nach beiden Regelungen muss eine Wahl gleich sein – dies umfasst sowohl den Zählwert der Stimme als auch ihren Erfolgswert. Beim Vorliegen einer Fünfprozenthürde differiert der Erfolgswert zwischen denjenigen Stimmen für eine Partei über dieser Hürde gegenüber den Parteien unter dieser Hürde. Eine solche Unterscheidung kann aber durch zu erwartende schwerwiegende Funktionsstörungen im Parlamant gerechtfertigt sein.
Bei der schleswig-holsteinischen Regelungen ist zwar der Erfolgswert der Stimmen zwischen SSW und den anderen im Landtag vertretenen Parteien identisch, nicht aber zwischen SSW und anderen Parteien unterhalb der Fünfprozenthürde. Auch diese Ungleichbehandlung bedarf einer Rechtfertigung – also eines zwingenden sachlichen Grundes. Zudem muss der Eingriff geeignet und erforderlich sein.
Hier könnte ein sachlicher Grund in Form des Minderheitenschutzes bestehen. Ein solcher Grund ist nach dem oben Gezeigten grundsätzlich anzuerkennen, bedürfen doch die Minderheiten zur Durchsetzung ihrer Interessen prinzipiell eines besonderen Schutzes. Der Eingriff wäre dann auch geeignet und erforderlich um die Interessen dieser Minderheit durchzusetzen.
III. Grenzen im Einzelfall
Spezielle Regelungen für nationale Minderheiten sind im Wahlrecht somit grundsätzlich zulässig. Fraglich ist aber, ob der SSW sich tatsächlich auf diese (noch) berufen kann. Dies wäre dann ausgeschlossen, wenn sein Auftreten nicht mehr vom sachlichen Grund des Minderheitenschutzes erfasst wäre.
Der SSW tritt als Partei in ganz Schleswig-Holstein an; Zweitstimmen erhät er auch aus Gebieten, in denen es keine dänische Minderheit gibt. Lediglich Direktkandidaten stellt er nur in Gebieten mit einer eigenen Minderheit. Zudem richtet sich die Politik auch an sämtliche Bürger Schleswig-Holsteins, nicht allein an die dänische Minderheit. Dies wird insbesondere dadurch verdeutlicht, dass möglicherweise eine Regierungsbeteiligung des SSW in Betracht kommt, die sich notwendigerweise auf das gesamte Schlesig-Holstein erstreckt. Dies zeigt, dass es zumindest fraglich ist, ob der SSW bei der bestehenden Regelung als Minderheitenpartei anzusehen ist.
Dieses Problem ergab sich durch eine Änderung des Wahlsystems in Schleswig-Holstein im Jahr 2000 und die Einführung von Erst- und Zweitstimmen. Diese Änderung und das Auftreten des SSW im politischen Betrieb lässt Zweifel aufkommen, ob er tatsächlich noch als Minderheitenpartei priviligiert werden sollte.
Möglichkeiten für eine zweifellos verfassungskonforme Ausgestaltung des Wahlrechts würden unproblematisch bestehen – hierzu müsste nicht einmal auf die Fünfprozenthürde verzichtet werden. Ein Vorbild könnten hier die Wahl zum ersten gesamtdeutschen Bundestag 1990 sein, bei der zwar nicht auf die Fünfprozenthürde verzichtet wurde, diese galt aber zum Schutz der „ostdeutschen Minderheit“ eigenständig in den neuen Bundesländern. Eine vergleichbare Regelung wäre auch in Schleswig-Holstein möglich: Der SSW tritt nur in denjenigen Wahlkreisen an, in denen eine dänische Minderheit tatsächlich besteht (also in Schleswig) – überschreitet er hier die Fünfprozenthürde, darf er dann auch die entsprechende Anzahl Abgeordnete entsenden.
IV. Was sagt die Rechtsprechung?
Auch die Rechtsprechung hatte sich in der Vergangenheit mit der Frage der Verfassungswidrigkeit zu befassen: Das OVG Schleswig-Holstein hielt eine solche für möglich und legte eine entsprechende Frage dem BVerfG 2005 vor (2 KN 2/04).
1. Dem SSW kann die Bedeutung als Minderheitenpartei nur dort beigemessen werden, wo er sie auch tatsächlich besitzt. Eine darüber hinausreichende Privilegierung wegen der Eigenschaft als Minderheitenpartei verhält sich im Wahlwettbewerb, anders als die Bedeutung einer Partei wegen Ihres Erfolges in der Mehrheits- oder Verhältniswahl, nicht neutral.
- 2. Eine Ausdehnung der Privilegierung des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) als Partei der dänischen bzw friesischen Minderheit auf den Landesteil Holstein ist nicht erforderlich.
- Das Bundesverfassungsgericht (2 BvL 18/02) lehnte dies aber bereits aufgrund der Unzulässigkeit der Vorlage ab. Es legte hierzu dar:
Das Gericht muss daher seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm näher begründen und sich jedenfalls mit nahe liegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten auseinander setzen.
Gleichfalls blieb aber auch offen, ob eine Verfassungswidrigkeit nicht doch vorlag. Dies wird an folgendem Leitsatz deutlich:
Es ist zweifelhaft, ob diese Voraussetzungen bei § 3 Abs. 1 S. 2 SchlHWahlG (Ausnahme von der 5-%-Klausel für Parteien der dänischen Minderheit) nach Einführung des Zwei-Stimmen-Wahlrechts gegeben sind.
Die Frage der Verfassungswidrigkeit ist damit noch nicht eindeutig entschieden.
V. Ausblick und Examensrelevanz
Ob erneut eine Überprüfung der Regelung erfolgen wird, hängt insbesondere von der politischen Entwicklung in Schleswig-Holstein ab. Jeder, der in den nächsten Tagen und Wochen die mündliche Prüfung absolviert, sollte sich auf jeden Fall mit den Grundsätzen des Wahlrechts und auch mit den oben verlinkten Entscheidungen befassen – hier auf Lücke zu setzen, wäre sehr leichtsinnig.