BVerfG: Rechtsprechungsüberblick im Verfassungsrecht (13)
Das neue Jahr wurde von euch allen hoffentlich gut und angemessen eingeläutet, sodass Ihr euch heute wieder auf die ernsten Themen des Lebens konzentrieren könnt, denn mit diesem Rechtsprechungsüberblick stellen wir wieder eine Reihe von ausgesuchten Entscheidungen dar, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten Monaten getroffen hat.
Entscheidungen des Gerichtes in Karlsruhe sollten stets Anlass zum aufmerksamen Studieren geben. Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
Beschlüsse vom 06. Oktober 2015 – 1 BvR 1571/15 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG drei Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz abgelehnt. Es bestünden besonders hohe Hürden, sofern ein Gesetz außer Vollzug gesetzt werden soll. Entsprechend gravierende, irreversible oder nur schwer revidierbare Nachteile, welche den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machten, seien jedoch vorliegend nicht zu erkennen. Auch sei nicht absehbar, dass den Beschwerdeführern bei Fortgeltung des Tarifeinheitsgesetzes bis zur Entscheidung in der Hauptsache das Aushandeln von Tarifverträgen längerfristig unmöglich würde oder sie im Hinblick auf ihre Mitgliederzahl oder ihre Tariffähigkeit in ihrer Existenz bedroht wären.
Beschluss vom 07. Oktober 2015 – 1 BvR 1962/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Das BVerfG führte in diesem Beschluss aus, dass die nachträgliche Gewährung von Beratungshilfe für die Einlegung und Begründung eines Widerspruchs nicht mit dem pauschalen Hinweis darauf abgelehnt werden dürfe, die antragstellende Person hätte den Widerspruch selbst einlegen können. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Ablehnungsgrund des § 1 I Nr. 2 des Gesetzes über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz – BerHG). Im konkreten Fall sei eine Verletzung von Art. 3 I i.V.m. Art. 20 I und III GG hinsichtlich der Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten auch im außergerichtlichen Bereich gegeben.
Beschlüsse vom 07. Oktober 2015 – 2 BvR 413/15 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
In mehreren Beschlüssen führte das BVerfG aus, dass gleich 11 Verfassungsbeschwerden gegen das Sächsische Besoldungsgesetz, wonach das Grundgehalt der A-Besoldung anhand der tatsächlich geleisteten Dienstzeiten und der erbrachten Leistung bemessen sein, jedoch eine bestehende Stufenzuordnung aufgrund des bislang maßgeblichen Besoldungsdienstalters erhalten bleiben solle, kein Erfolg beschieden sei. Während die rückwirkende Neuregelung des Besoldungsrechts sowie die in der Überleitungsvorschrift vorgesehene Besitzstandswahrung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden seien, würden die Grundrechte der Beschwerdeführer auch durch die Revisionsentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht verletzt.
Beschluss vom 02. November 2015 – 1 BvR 1530/15 u.a.; Beschluss vom 03. November 2015 – 1 BvR 1766/15 u.a. (siehe auch die Pressemitteilung)
Den vorliegenden Beschlüssen des BVerfG zu Folge, hätten Juristische Personen des Privatrechts ihre Grundrechtsfähigkeit in einer Verfassungsbeschwerde jedenfalls dann näher darzulegen, wenn es aufgrund der äußeren Umstände nahe liege, dass sie von der öffentlichen Hand beherrscht werden oder öffentliche Aufgaben wahrnehmen würden.
Beschluss vom 07. November 2015 – 2 BvQ 39/15 (siehe auch die Pressemitteilung)
Der Bundesministerin für Bildung und Forschung (Prof. Dr. Johanna Wanka) wurde durch Beschluss des BVerfG nach erfolgreichem Antrag der Partei „Alternative für Deutschland“ auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgegeben, die Pressemitteilung mit dem Titel „Rote Karte für die AfD“ aus dem Internetauftritt ihres Bundesministeriums zu entfernen. Es sei nicht auszuschließen, dass die Antragsgegnerin das Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 GG durch Nutzung der Ressourcen ihres Ministeriums für den politischen Meinungskampf verletzt haben könnte.
Beschluss vom 17. November 2015 – 2 BvL 19/09 (siehe auch die Pressemitteilung)
Anknüpfend an das Urteil zur Besoldung der Richter und Staatsanwälte (R-Besoldung) vom 5. Mai 2015 (siehe unsere Notiz vom 05.05.2015) führte das BVerfG mit Beschluss über vier Richtervorlagen zur Beamtenbesoldung aus, dass die Grundgehaltssätze der Besoldungsgruppe A 10 in Sachsen im Jahr 2011 mit Art. 33 V GG unvereinbar und damit verfassungswidrig gewesen seien. Dagegen seien die Grundgehaltssätze der Besoldungsgruppe A 9 in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2003 und 2004 sowie A 12 und A 13 im Jahr 2003 mit Art. 33 V GG vereinbar gewesen, ebenso die Grundgehaltssätze der Besoldungsgruppe A 9 in Niedersachsen im Jahr 2005.
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Im Folgenden eine Übersicht über im Dezember veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 5. August 2015 – 1 StR 328/15
Eine bewusste Selbstgefährdung lässt grundsätzlich die Erfolgsabwendungspflicht des eintrittspflichtigen Garanten nicht entfallen, wenn sich das allein auf Selbstgefährdung angelegte Geschehen erwartungswidrig in Richtung des drohenden Verlustes des Rechtsguts (hier: Tod der eine unverdünnt giftigen BtM-Substanz des Garanten konsumierenden Person) entwickelt. Entgegen der in der Strafrechtswissenschaft geäußerter Kritik ist es in diesen Konstellationen nicht wertungswidersprüchlich, zwar jegliche Beteiligung an der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung für einen Garanten straffrei zu stellen, bei Realisierung des von dem betroffenen Rechtsgutsinhaber eingegangenen Risikos aber eine strafbewehrte Erfolgsabwendungspflicht aus § 13 Abs. 1 StGB anzunehmen. Denn anders als in den Selbsttötungsfällen erschöpft sich im Fall der Selbstgefährdung die Preisgabe des eigenen Rechtsguts gerade darin, dieses in einem vom Betroffenen jedenfalls in seinem wesentlichen Grad zutreffend erkannten Umfang einem Risiko auszusetzen. Eine Hinnahme des als möglich erkannten Erfolgseintritts bei Realisierung des eingegangenen Risikos ist mit der Vornahme der Selbstgefährdung gerade nicht notwendig verbunden (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
II. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 5 StR 385/15
Zwischen den Tatbeständen des § 249 StGB (Raub) und des § 252 StGB (räuberischer Diebstahl) besteht zwar Gesetzeseinheit in der Weise, dass § 249 StGB grundsätzlich § 252 StGB verdrängt. Anders ist es allerdings, wenn die Nötigungshandlung in der Beendigungsphase schwerer wiegt, weil erst nach der Vollendung der Wegnahme ein Qualifikationstatbestand der §§ 250 oder 251 StGB verwirklicht wurde. In diesem Fall verdrängt der zur Sicherung der Beute aus dem vorhergehenden Raub begangene, besonders schwere räuberische Diebstahl den Tatbestand des § 249 StGB (ständige Rspr.).
III. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 3 StR 199/15
Lehrfall zu Fragen rund ums Notwehrrecht: Derjenige, der bei der Flucht von Räubern aus seinem Haus mit seiner Pistole zielgerichtet auf einen der Fliehenden, der ihm unbemerkt bereits sein Portemonnaie gestohlen hat, schießt und ihn dadurch tötet, ist nicht durch Notwehr gerechtfertigt. Ein Angriff auf Leib und Leben fand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr statt, bezüglich des gestohlenen Eigentums fehlte es an einem Verteidigungswillen. Selbst wenn man insofern die Regeln zum untauglichen Versuch anwenden wollte, fehlte es am objektiven Tatbestand der Notwehrlage, da der Täter im Hinblick auf den (nur noch in Rede stehenden) Angriff auf sein Eigentum auf einen Schuss in die Beine des Fliehenden zu verweisen gewesen wäre. Auch im Hinblick auf die Beeinträchtigung des Hausrechts wäre der Schuss jedenfalls nicht mehr geboten gewesen, da die Räuber bereits flohen und damit diese Beeinträchtigung zeitnah beendet gewesen wäre. Die Annahme eines Notwehrexzesses scheitert daran, dass kein Verteidigungswille vorlag bzw. – im Hinblick auf Leib und Leben – eine nur vorgestellte Notwehrlage („Putativnotwehrexzess“) im Rahmen des § 33 StGB nicht ausreichend ist.
IV. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 3 StR 218/15
Wer sich als Zivilperson in einem ausländischen Staat, auf dessen Gebiet ein bewaffneter Konflikt zwischen Regierungstruppen und Widerstandsgruppen bzw. terroristischen Organisationen – aber auch unter diesen – ausgetragen wird, bei einem Mitglied einer terroristischen Vereinigung (hier: dem Ehemann nach islamischen Recht) aufhält und sich von diesem im Gebrauch von Schusswaffen zu dem Zweck unterweisen lässt, sich und seine Angehörigen im Falle eines Angriffs auch staatlicher Streitkräfte verteidigen zu können, bereitet in der Regel auch dann keine schwere staatsgefährdende Gewalttat im Sinne von § 89a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 1 StGB vor, wenn er mit der betreffenden terroristischen Vereinigung sympathisiert (Leitsatz des Gerichts; zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
V. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 – 4 StR 223/15
Derjenige, welcher ein Opfer durch heimtückische Schläge mit einer Metallstange auf den Kopf bewusstlos macht und hierbei tödlich verletzt begeht, wenn er später zum Tatort zurückkehrt und, da das Opfer wider erwarten noch nicht verstorben ist, sodann durch Messerstiche in den Hals tötet, einen vollendeten Heimtückemord (§ 211 StGB) und nicht einen lediglich versuchten Mord in Tatmehrheit mit vollendetem Totschlag (so die Vorinstanz). Denn die Schläge mit der Metallstange, die auch ohne die späteren Messerstiche zum Tod des Opfers geführt hätten, sind weiterhin kausal für dessen Tod gewesen. Ursächlich für den Eintritt eines tatbestandsmäßigen Erfolgs ist jede Bedingung, die den Erfolg herbeigeführt hat. Dabei ist gleichgültig, ob neben der Tathandlung noch andere Umstände, Ereignisse oder Geschehensabläufe zur Herbeiführung des Erfolgs beigetragen haben. Ein Kausalzusammenhang ist nur dann zu verneinen, wenn ein späteres Ereignis die Fortwirkung der ursprünglichen Bedingung beseitigt und seinerseits allein unter Eröffnung einer neuen Ursachenreihe den Erfolg herbeigeführt hat. Dagegen schließt es die Ursächlichkeit des Täterhandelns nicht aus, dass ein weiteres Verhalten an der Herbeiführung des Erfolgs mitgewirkt hat. Danach waren die mit Tötungsabsicht geführten Schläge mit der Metallstange unbeschadet des Umstands, dass das Tatopfer unmittelbar an den Folgen der späteren Messerschnitte verstarb, für den Tod des Opfers ursächlich. Denn der Einsatz des Messers gegen das bewusstlose, bereits tödlich verletzte Opfer, um es endgültig zu töten, knüpfte an das vorausgegangene Geschehen an und wäre ohne die durch die Schläge mit der Metallstange geschaffene Lage nicht möglich gewesen. Der Tod des Opfers als Folge der mit der Metallstange geführten Schläge ist dem Angeklagten auch subjektiv als von dem die Ausführung der Schläge tragenden Vorsatz mitumfasst zuzurechnen, da es sich um eine unwesentliche Abweichung vom Kausalverlauf handelt.
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Zum Schluss noch zwei prozessuale Entscheidung, wobei sich die eine mit der Frage einer Beschwer des Angeklagten trotz freisprechendem Urteil beschäftigt (Fall „Mollath“), während die andere die Reichweite des Ausschlusses der Öffentlichkeit nach § 338 Nr. 6 StPO, §§ 169 ff. GVG im Zusammenhang mit einer verständigungsvorbereitenden Erörterung gemäß § 257b StPO zum Thema hat:
VI. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 1 StR 56/15
Die Revision gegen ein (allein) aufgrund nicht erwiesener Schuldfähigkeit freisprechendes Urteil ist grundsätzlich unzulässig, da der Angeklagte hierdurch nicht beschwert wird. Es genügt nicht, dass nur der Inhalt der Urteilsgründe in irgend einer Weise belastend ist. Aus verfassungsrechtlichen Vorgaben, die in extrem gelagerten Ausnahmefällen zu einer Durchbrechung dieses Grundsatzes führen können, ergibt sich vorliegend nichts anderes. Für den Angeklagten schlicht unangenehme Aussagen reichen hierzu nicht aus. Auch aus der Medienwirksamkeit des Strafverfahrens kann sich eine Beschwer im genannten Sinne nicht ergeben, denn diese ist nicht Folge des Urteils und der Entscheidungsgründe selbst. Die in Art. 6 Abs. 2 EMRK garantierte Unschuldsvermutung in der Rechtsprechung des EGMR ist ebenfalls nicht verletzt. Zwar kann es hierfür nicht nur auf den Tenor der freisprechenden Entscheidung, sondern auch auf die Urteilsbegründung ankommen. Dies gilt aber vor allem dann, wenn das nationale Gericht im Fall eines Freispruchs aus sachlichen Gründen durch die Urteilsgründe zum Ausdruck bringt, es sei von der Schuld des Angeklagten tatsächlich überzeugt. Dies ist im vorliegenden Fall, in dem es um einen Freispruch aus Rechtsgründen ging, nicht gegeben.
VII. BGH, Beschluss vom 12. November 2015 – 5 StR 467/15
Es liegt keine Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit vor, wenn auf Antrag des Angeklagten durch Gerichtsbeschluss die Öffentlichkeit für die Dauer seiner Vernehmung gemäß § 171b Abs. 1 GVG wegen der aus seinem persönlichen Lebensbereich zur Sprache kommenden Umstände ausgeschlossen wird und in dieser Phase eine Erörterung gemäß § 257b StPO erfolgt, mit der Strafmaßerwartungen thematisiert und Fragen einer Verständigungsmöglichkeit geklärt werden sollen. Beschränkt sich der Ausschluss der Öffentlichkeit auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt wie die Dauer der Vernehmung einer Beweisperson, so umfasst er nach ständiger Rechtsprechung alle Verfahrensvorgänge, die mit der Vernehmung in enger Verbindung stehen oder sich aus ihr entwickeln und die daher zu diesem Verfahrensabschnitt gehören. Dies war vorliegend der Fall. Denn zum Verfahren einer Verständigung nach § 257c StPO hätte auch die Klarstellung gehört, von welchem Sachverhalt, auf den sich ein Geständnis beziehen könnte, das Gericht und die übrigen Verfahrensbeteiligten ausgehen. Die Einlassung des Angeklagten, für deren Dauer die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, war mithin zwangsläufig Gegenstand einer verständigungsvorbereitenden Erörterung gemäß § 257b StPO.
Im Folgenden eine Übersicht über im November veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Urteil vom 10. Juni 2015 – 2 StR 97/14
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person nicht in einer dem Staat zurechenbaren Weise zu einer Straftat verleitet werden. Auch bei anfänglich bereits bestehendem Anfangsverdacht kann eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vorliegen, wenn die Einwirkung auf die Zielperson im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist (vorliegend bejaht). Dieser Fall ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung und unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK regelmäßig nicht mehr nur bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, sondern hat grundsätzlich ein Verfahrenshindernis zur Folge (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
II. BGH, Urteil vom 16. September 2015 – 2 StR 71/15
Ein unmittelbares Ansetzen nach § 22 Abs. 1 StGB zum Diebstahl (§ 242 StGB) nach der „Wasserwerker-Methode“, bei der sich einer der Täter unter dem Vorwand, Handwerksarbeiten vornehmen zu wollen, bei alleinstehenden älteren Personen einschleicht und diese so ablenkt, dass ein weiterer Täter heimlich ebenfalls die Wohnung betreten und dort stehlenswerte Gegenstände entwenden kann, liegt schon dann vor, wenn der erste Täter bei der Person Einlass begehrt. Nach dem gemeinsamen Tatplan haben die Täter hier die Schwelle zum „Jetzt geht es los“ mit dem nicht unter einem Rücktrittsvorbehalt stehenden unmittelbaren Einwirken auf das zuvor bereits ausgespähte Tatopfer an der Wohnungstür überschritten. Zu diesem Zeitpunkt ist auch eine konkrete Gefährdung des Opfervermögens bereits eingetreten. Dass das Gelingen und damit die Vollendung der Tat letztlich noch von dem Erfolg der Täuschung und von dem Auffinden von Wertgegenständen innerhalb der Wohnung abhängig ist, hindert nicht den Eintritt ins Versuchsstadium.
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Zuletzt noch eine Entscheidung, die sich mit der Frage der Zulässigkeit von Rechtsmitteln gegen sitzungspolizeiliche Anordnungen eines OLG-Vorsitzenden auseinandersetzt:
III. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2015 – StB 10/15 und 11/15
Die sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden einer OLG-Strafsenats nach § 176 Abs. 1 GVG, dass Film und Fotoaufnahmen der Presse vor und nach der Sitzung erlaubt seien, die Gesichter der Angeklagten vor der Veröffentlichung aber durch technische Verfahren anonymisiert werden müssten, sowie der spätere Entzug der Akkreditierung bei einem Pressevertreter, der sich an diese Verfügung nicht hält, unterliegen nicht der Beschwerde nach § 304 Abs. 1, Abs. 4 Satz 2 HS 2 StPO. Eine ausdrückliche Regelung zur Anfechtung der vorgenannten Maßnahmen enthält das GVG nicht. § 181 Abs. 1 GVG sieht lediglich ein befristetes Rechtsmittel gegen die Festsetzung von Ordnungsmitteln nach §§ 178, 180 GVG vor. Auch eine (analoge) Anwendung der allgemeinen Vorschrift des § 304 Abs. 1 StPO, wonach die Beschwerde gegen alle von den Gerichten im ersten Rechtszug oder im Berufungsverfahren erlassenen Beschlüsse und gegen Verfügungen zulässig ist, sofern sie das Gesetz nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht, scheidet aus; denn nach § 304 Abs. 4 Satz 2 HS 1 StPO ist eine Beschwerde gegen Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte gerade ausgeschlossen; die vorgenannten Maßnahmen sind auch nicht ähnlich zu denjenigen, bei denen § 304 Abs. 4 Satz 2 HS 2 StPO ausdrücklich eine Ausnahme hiervon in Sachen zulässt, in denen die OLG im ersten Rechtszug zuständig sind. Eine über den dort genannten Katalog hinaus gehende Erweiterung der Beschwerdemöglichkeit ist demgegenüber auch eingedenk des Grundrechts der Pressefreiheit dem Gesetzgeber vorbehalten.
Im Folgenden eine Übersicht über im Oktober veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 28. April 2015 – 3 StR 48/15
Die Absicht, dem Tatopfer mit Schlägen und dem Vorhalten einer Waffe ein Handy zu entwenden, auf dem sich kompromittierende Fotos eines Dritten befinden, um diese zu löschen, belegt nicht die für einen Raub (§ 249 Abs. 1 StGB) erforderliche Zueignungsabsicht. Dass die beabsichtigte Durchsuchung des Handyspeichers und die Identifizierung der dabei aufgefundenen Bilddateien im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs der Sache liegen, ändert hieran nichts, denn diese führen nicht zu deren Verbrauch. Insofern scheidet auch eine bei Fehlen der Zueignungsabsicht grundsätzlich mögliche räuberische Erpressung (§§ 253 Abs. 1, 255 StGB) aus. Denn der Täter handelt nicht in der Absicht, sich oder einen Dritten zu bereichern. Bloßer Besitz einer Sache bildet einen Vermögensvorteil nur dann, wenn ihm ein eigenständiger wirtschaftlicher Wert zukommt, etwa weil er zu wirtschaftlich messbaren Gebrauchsvorteilen führt, die der Täter oder der Dritte für sich nutzen will. Daran fehlt es nicht nur in Fällen, in denen der Täter die Sache unmittelbar nach Erlangung vernichten will, sondern auch dann, wenn er den mit seiner Tat verbundenen Vermögensvorteil nur als notwendige oder mögliche Folge seines ausschließlich auf einen anderen Zweck gerichteten Verhaltens hinnimmt.
II. BGH, Urteil vom 9. Juli 2015 – 3 StR 33/15
Bei der Nutzung der Symbole der Rocker-Gruppe „Bandidos“ durch Angehörige einer nicht durch die Behörden verbotenen Ortsgruppe (sog. „Chapters“) machen sich diese nicht unbedingt wegen „Verwendens“ des Kennzeichens eines verbotenen Vereins nach § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 VereinsG strafbar. Vielmehr ist – parallel zur Auslegung des identischen Merkmals in der Rechtsprechung des BGH zu § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) – den Anforderungen, die die Grundrechte etwa der Meinungsfreiheit aber auch der allgemeinen Handlungsfreiheit an eine verfassungskonforme Auslegung des Tatbestands stellen, in der Weise Rechnung zu tragen, dass der mit dem Gebrauch des Kennzeichens verbundene Aussagegehalt anhand aller maßgeblichen Umstände des Falles ermittelt wird. Ergibt dies, dass der Schutzzweck der Norm eindeutig nicht berührt wird, so fehlt es an einem tatbestandlichen Verwenden des Kennzeichens, da dieses nicht als solches der verbotenen Organisation zur Schau gestellt wird. Insofern ergibt sich durch die Hinzufügung einer auf ein nicht verbotenes „Chapter“ hinweisenden Ortsbezeichnung aus dem maßgeblichen Gesamtzusammenhang der Kennzeichenverwendung eindeutig, dass der Betroffene das Symbol gerade nicht als Kennzeichen der verbotenen „Chapter“ verwendeten, sondern als Kennzeichen des eigenen, nicht mit einer Verbotsverfügung belegten Ortsvereins (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
III. BGH, Beschluss vom 16. Juli 2015 – 2 StR 16/15
Wer der Täter vom Opfer durch eine Täuschungshandlung ec-Karte und PIN-Nummer erhält und anschließend damit am Bankautomaten Geldabhebungen vornimmt, verwirklicht er nicht kumulativ die beiden Straftatbestände des Betrugs und des Computerbetrugs. Vielmehr betrügt der Täter den berechtigten Inhaber von Bankkarte und Geheimnummer im Sinne von § 263 StGB, aber er „betrügt“ nicht außerdem noch den Geldautomaten gemäß § 263a Abs. 1 Var. 3 StGB, wenn er hierbei die echte Bankkarte und die richtige Geheimnummer verwendet. Denn bei der gebotenen betrugsspezifischen Auslegung des Merkmals „unbefugt“ in § 263a Abs. 1 Var. 3 StGB ist zu unterstellen, dass es bei dem fiktiven Prüfvorgang eines Bankmitarbeiters um dieselben Aspekte ginge, die auch der Geldautomat abarbeitet. Für den Automaten sind Identität und Berechtigung des Abhebenden aber mit der Eingabe der echten Bankkarte und der zugehörigen Geheimnummer hinreichend festgestellt (ständige Rspr. des BGH).
IV. BGH, Beschluss vom 16. Juli 2015 – 4 StR 117/15
Die Tatbegehung einer gefährlichen Körperverletzung „mittels einer Waffe“ (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StGB) fordert, dass der Täter seinem Opfer durch ein von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes Tatmittel eine Körperverletzung im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB beibringt. Dies ist in dem Fall, dass der Geschädigte bei einem Schuss des Täters mit einer Schusswaffe auf seinen Pkw lediglich durch Splitter der durch den Schuss geborstenen Glasscheibe verletzt wird und ein Knalltrauma erleidet, nicht der Fall. Die Körperverletzungserfolge sind erst durch das Zerbersten der Scheibe und damit durch eine Folge des Schusses eingetreten, nicht aber „mittels“ der eingesetzten Waffe.
V. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2015 – 1 StR 16/15
Dem Schutzbereich des § 202a Abs. 1 StGB (Ausspähen von Daten) unterfallen nur solche Daten, die gegen unberechtigten Zugang besonders gesichert sind. Dies sind nur solche, bei denen der Verfügungsberechtigte durch die Sicherung sein Interesse an der Geheimhaltung der Daten dokumentiert hat. Die Zugangssicherung im Sinne von § 202a Abs. 1 StGB muss den Täter dabei zu einer Zugangsart zwingen, die der Verfügungsberechtigte erkennbar verhindern wollte. Insofern kommt eine Firewall als tatbestandsmäßige Schutzvorrichtung dem Grunde nach nicht in Betracht, wenn die vom Täter eingesetzte Schadsoftware selbige nicht umgeht, sondern von der Firewall schlicht nicht erkannt wird.
VI. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2015 – 3 StR 104/15
Die für einen (versuchten) Raub (§ 249 Abs. 1, 22, 23 StGB) erforderliche rechtswidrige Zueignungsabsicht ist nicht ohne weiteres dann gegeben, wenn ein ausländischer Freier gegenüber einer Prostituierten vor Vornahme der vereinbarten sexuellen Handlungen das Geld zurückfordert und sie hierbei gegen eine Wand drückt, um sie zu durchsuchen. Vielmehr kommt ebenfalls in Betracht, dass der Freier von einem Anspruch auf Rückgewähr des Geldes wegen rechtsgrundloser Bereicherung nach § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB ausgeht. Denn die zwischen den Beteiligten getroffene Vereinbarung über die Vornahme sexueller Leistungen gegen ein Entgelt ist wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nichtig, § 138 Abs. 1 BGB. Aus § 1 ProstG ergibt sich nichts Gegenteiliges, da nach dieser Bestimmung eine Prostituierte nur dann eine rechtswirksame Forderung erwirbt, wenn die sexuelle Handlung bereits vorgenommen wurde. Ein Ausschluss des Bereicherungsanspruchs gemäß § 814 BGB oder § 817 BGB setzt u.a. voraus, dass der Täter als Leistender wusste, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war bzw. vorsätzlich gesetzes- oder sittenwidrig handelte oder sich der Einsicht in die Gesetz- oder Sittenwidrigkeit leichtfertig verschloss. Auch dies versteht sich bei einem aus einem fremden Kulturkreis mit einer anderen Rechtsordnung entstammenden Täter nicht von selbst.
VII. BGH, Urteil vom 20. August 2015 – 3 StR 259/15
Der Täter, der in einer Bank unter Hinweis auf seinen geschlossenen Koffertrolly, in dem sich eine (tatsächlich nicht vorhandene) Bombe befinde, die Auszahlung von Bargeld erreichen will und dieses auch erhält, verwirklicht hierdurch eine schwere räuberische Erpressung nach §§ 253 Abs. 1, 255, 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB. Soweit die Rechtsprechung wegen der weiten Fassung des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB den Tatbestand einschränkend dahingehend auslegt, dass dieser nicht auf Fälle Anwendung finden soll, in denen die objektive Ungefährlichkeit des Werkzeugs oder Mittels schon nach seinem äußeren Erscheinungsbild offenkundig auf der Hand liegt, ist ein derartiger Sachverhalt in der vorgenannten Situation nicht gegeben. Denn es ist nicht erkennbar, ob der Koffer eine Bombe enthält oder nicht. Sofern der Bankangestellte zwar nicht an die Bombe glaubt, aber das Bargeld aus Angst vor einem mitgeführten Messer oder einer Spritze auszahlt, liegt hierin eine unwesentliche Abweichung vom Kausalverlauf, der für die rechtliche Beurteilung der Tat bedeutungslos ist.
VIII. BGH, Urteil vom 10. September 2015 – 4 StR 151/15
Für eine (versuchte) Strafvereitelung im Amt nach §§ 258 Abs. 1, 258a StGB ist nur in Bezug auf die Tathandlung und den Vereitelungserfolg direkter Vorsatz (§ 258 Abs. 1 StGB: „absichtlich oder wissentlich“) erforderlich, während für die Kenntnis der Vortat bedingter Vorsatz ausreicht. Eine genaue Vorstellung in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht ist dabei nicht notwendig. Daher ist der Tatbestand auch dann erfüllt, wenn der Täter es – ungeachtet fortbestehender Zweifel – nur für möglich hält, dass eine Straftat begangen worden ist und die von ihm daraufhin ins Auge gefasste Handlung (hier: Telefonat mit dem Beschuldigten, um ihn über ein eventuell bevorstehendes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft zu warnen) darauf abzielt, für den Fall, dass tatsächlich eine Straftat vorliegt, eine Bestrafung des Vortäters zumindest für geraume Zeit zu verhindern (st. Rspr. des BGH).
IX. BGH, Beschluss vom 30. September 2015 – 5 StR 367/15
Eine gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB kann auch dann vorliegen, wenn ein am Tatort anwesende Gehilfe die Wirkung der Körperverletzungshandlung des Täters bewusst in einer Weise verstärkt, welche die Lage des Verletzten zu verschlechtern geeignet ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn das Opfer durch die Präsenz mehrerer Personen auf der gegnerischen Seite auch wegen des möglichen Eingreifens des anderen Beteiligten in seinen Chancen beeinträchtigt wird, dem Täter der Körperverletzung Gegenwehr zu leisten, ihm auszuweichen oder zu flüchten. Liegt das (alkoholisierte) Opfer jedoch bereits bei Beginn der Gewaltanwendung durch den Täter ohne Gegenwehr am Boden und ist ersichtlich nicht in der Lage, sich zu wehren oder zu fliehen, ist eine solche Situation nicht anzunehmen.
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Zuletzt noch eine strafprozessuale Entscheidung, die sich mit dem Recht des Beschuldigten im Vorverfahren befasst, eigenständig die Beiordnung einen Pflichtverteidiger zu beantragen:
X. BGH, Beschluss vom 9. September 2015 – 3 Bgs 134/15
Für die Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren bedarf es in den Fällen des § 141 Abs. 3 Satz 1 bis 3 StPO eines Antrags der Staatsanwaltschaft. Eine autonome Entscheidungsbefugnis des Gerichts besteht nicht, was aus der Systematik des Gesetzes folgt. Denn § 141 StPO ergänzt die Regelungen zur notwendigen Verteidigung aus § 140 StPO. Von Amts wegen kann das Gericht nur dann tätig werden, wenn es bereits mit dem Sachverhalt befasst ist, was im Fall des § 140 Abs. 3 StPO noch nicht geschehen ist. Auch ein eigenes Antragsrecht des Beschuldigten besteht nicht, wofür bereits der Wortlaut des § 141 Abs.3 Satz 2 StPO spricht, wonach die Staatsanwaltschaft den Antrag stellt, wenn „nach ihrer Auffassung“ die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig werden wird. Die differenzierte Regelung der Pflichtverteidigerbestellung des § 141 StPO steht in Einklang mit der grundsätzlichen Unterscheidung der Strafprozessordnung zwischen Ermittlungsverfahren und Verfahren ab Anklageerhebung. In dem Ermittlungsverfahren ist die Staatsanwaltschaft „Herrin des Verfahrens“, das Gericht kann in diesem Verfahrensabschnitt keine Maßnahmen gegen den Willen bzw. ohne Antrag der Staatsanwaltschaft treffen.
Im Folgenden eine Übersicht über im September veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 – 2 StR 464/14
Das Erfordernis einer „Zäsur“ beim Verdeckungsmord (§ 211 Abs. 2 Fallgruppe 3 Alt. 2 StGB), die zwischen der verdeckten Tat und der anschließenden Tötungshandlung bestehen muss, gilt nur für einen Handlungsablauf, in dem von vornherein Tötungsvorsatz vorliegt. In Fällen, in denen ein äußerlich ununterbrochenes Handeln (bzw. Unterlassen) zunächst nur mit Körperverletzungsvorsatz beginnt und dann mit Tötungsvorsatz weitergeführt wird, liegt die erforderliche Zäsur in diesem Vorsatzwechsel selbst.
II. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2015 – 2 StR 467/14
Wird während eines Raubes das Opfer zu Boden gebracht und der beschuhte Fuß auf den Hals des Opfers gedrückt, so dass diesem Schwarz vor Augen wird, handelt es sich hierbei nicht um einen besonders schweren Raub unter Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs (§ 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB). Denn ein gefährliches Werkzeug ist nur ein solches Tatmittel, das nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall geeignet ist, dem Opfer erhebliche Körperverletzungen zuzufügen. Wird der Fuß des Täters gegen den Hals des Opfers gedrückt, kommt dem Schuh aber keine besondere Bedeutung dafür zu, ob dem Opfer erhebliche Verletzungen beigebracht werden. Die Wirkung dieser Handlung hängt vielmehr vor allem von dem Druck ab, den der Fuß auf den Hals ausübt.
III. BGH, Urteil vom 4. August 2015 – 1 StR 624/14
Die Tatbestandsvariante des „Quälens“ bei der Misshandlung Schutzbefohlener (§ 225 Abs. 1 StGB) verlangt das Verursachen länger andauernder oder sich wiederholender (erheblicher) Schmerzen oder Leiden. Demgegenüber bedarf es entgegen einer abweichenden Ansicht in der Literatur über den Vorsatz hinaus keiner besonderen subjektiven Beziehung des Täters zur Tat im Sinne einer gefühllos-unbarmherzigen Gesinnung; es reicht eine Tatbegehung aus Gleichgültigkeit oder Schwäche. Dies ergibt sich neben historisch-genetischen Argumenten insbesondere auch aus der unterschiedlichen Formulierung der drei Tathandlungsvarianten in § 225 Abs. 1 StGB: Gerade weil der Gesetzgeber bei der Formulierung ausdrücklich zwischen Begehungsweisen mit besonderer subjektiver Beziehung zur Tat („rohe Misshandlung“, „böswillige Vernachlässigung“) und solchen ohne derartigen Zusatz unterscheidet, ergibt sich im Umkehrschluss, dass bei der Variante des „Quälens“ keine weiteren subjektiven Voraussetzungen vorliegen müssen. Gegenüber den zwei anderen Varianten des § 225 Abs. 1 StGB zeichnet sich die Tatvariante des „Quälens“ durch besondere Anforderungen an den Körperverletzungserfolg aus; dies rechtfertigt es, insoweit keine weiteren einschränkenden subjektiven Elemente zu verlangen (ständige Rspr. des BGH).
IV. BGH, Beschluss vom 4. August 2015 – 3 StR 112/15
Wird der Angeklagte, der mit mehreren Mittätern einen Geldautomaten aufgebrochen hat, hierbei von Beamten des Landeskriminalamtes observiert, bevor er anschließend mit dem Pkw den Tatort verlässt und wird er erst eine halbe Stunde später ca. 35 km vom Tatort entfernt von Beamten eines mobilen Einsatzkommandos gestellt, wobei er einen Beamten mit seinem Pkw bei einem Fluchtversuch verletzt, verwirklicht er hiermit den Tatbestand des räuberischen Diebstahls (§ 252 StGB). Das hierfür erforderliche „Betreffen auf frischer Tat“ liegt dabei zwar nicht mehr zum Zeitpunkt des Zugriffs, wohl aber bei der Observation durch Beamte des Landeskriminalamtes vor. Dabei steht es dem „Betreffen“ nicht entgegen, dass diese Beamten die Tat nicht erst nach ihrer Vollendung entdeckten, sondern sie bereits von Anfang an beobachteten. Ebenfalls ist nach dem Wortlaut der Vorschrift unerheblich, dass sich die in dem Anfahren auf den Polizeibeamten des Sondereinsatzkommandos liegende Gewaltanwendung nicht gegen einen der Polizeibeamten richtete, der den Täter auf frischer Tat angetroffen hat. Es genügt, dass die Nötigungshandlung Folge des Betroffenseins ist, mithin zu diesem in Bezug steht. Ein solcher ist auch gegeben, wenn das Nötigungsmittel im Rahmen der sogenannten Nacheile angewendet wird, also während der sich unmittelbar an das Betreffen auf frischer Tat anschließenden Verfolgung. Liegen diese Voraussetzungen vor, kommt es auf einen engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zwischen Vortat und Gewaltanwendung nicht an, solange die Verfolgung ohne Zäsur durchgeführt wird.
V. BGH, Beschluss vom 18. August 2015 – 3 StR 289/15
Eine vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung erfordert als Erfolg das Hervorrufen einer körperlichen Auswirkung; seelische Beeinträchtigungen als solche genügen nicht. Daher stellt das Anspucken eines Polizeibeamten, welches bei diesem Ekelgefühle und länger anhaltenden Brechreiz verursacht, zwar nicht hinsichtlich der Ekelgefühle, wohl aber im Hinblick auf den hervorgerufenen Brechreiz einen tauglichen Körperverletzungserfolg dar. Ob danach eine Bestrafung wegen vorsätzlicher (§ 223 Abs. 1 StGB) oder fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) in Betracht kommt, hängt von einem zumindest bedingten Vorsatz des Täters hinsichtlich des Brechreizes ab.
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Zuletzt noch eine prozessuale Entscheidung, die sich mit dem absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO (Mitwirkung eines Richters, dessen Befangenheit zu Unrecht verneint wurde) befasst:
VI. BGH, Urteil vom 17. Juni 2015 – 2 StR 228/14
Eine Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit (§ 24 Abs. 2 StPO) ist berechtigt, wenn dieser während einer Beweisaufnahme im Rahmen der Hauptverhandlung vorgefertige private SMS versendet. Denn dies gibt Anlass zu der Befürchtung, der Richter habe sich mangels uneingeschränkten Interesses an der dem Kernbereich richterlicher Tätigkeit unterfallenden Beweisaufnahme bereits auf ein bestimmtes Ergebnis festgelegt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob deswegen die Aufmerksamkeit des Richters erheblich reduziert gewesen ist. Denn mit einer von vornherein geplanten, über den Verhandlungszusammenhang hinausreichenden externen Telekommunikation gibt der Richter zu erkennen, dass er bereit ist, in laufender Hauptverhandlung Telekommunikation im privaten Bereich zu betreiben und dieses über die ihm obliegenden dienstlichen Pflichten zu stellen.
Im Folgenden eine Übersicht über im Juli veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 21. April 2015 – 4 StR 92/15
Die – ggf. mit Gewalt (§ 249 StGB) – erfolgte Wegnahme von in drei Tüten verpacktem Marihuana, nachdem dem Täter dieses kurz zuvor von dem jetzigen Oper selbst gewaltsam abgenommen wurden, ist nicht nach den Vorschriften über die Besitzkehr nach § 859 Abs. 2 BGB gerechtfertigt. Für die Anwendung dieser Vorschrift ist kein Raum, wenn der konkrete Besitz als solcher bei Strafe verboten ist und eine im Anschluss an eine Besitzentziehung geübte Besitzkehr deshalb erneut zu einer strafrechtswidrigen Besitzlage führen würde. Aus dem gleichen Grund kann für den Verlust des Besitzes von Betäubungsmitteln auch kein Schadensersatz durch Wiedereinräumung des Besitzes im Wege einer Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB) verlangt werden.
II. BGH, Urteil vom 2. Juni 2015 – 5 StR 80/15
Werden dem Opfer nach Verbringen in ein entlegenes Waldstück, was ursprünglich nur dessen „Bestrafung“ dienen sollte, aufgrund eines plötzlichen Einfalls der Täter Wertgegenstände abgenommen und dieses dazu gezwungen seine Eltern zu beleidigen, kann hierin sowohl ein erpresserischer Menschenraub (§ 239a StGB) als auch – im Hinblick auf die erzwungene Beleidigung – eine Geiselnahme (§ 239b StGB) liegen. Die für beide Tatbestände erforderliche „Bemächtigungslage“ liegt dabei bereits aufgrund des über einen erheblichen Zeitraum andauernden Geschehens und die fehlende Fluchtmöglichkeit des Tatopfers, welches sich mehreren Tätern gegenübersieht, vor.
III. BGH Urteil vom 3. Juni 2015 – 2 StR 473/14
Das Notwehrrecht nach § 32 StGB ist im Fall eines eskalierenden Nachbarstreits, bei dem der Angeklagte seinen Kontrahenten mit Beleidigungen und Aufforderung dazu veranlasst, ihn mit einem Axtstiel anzugreifen, um ihn sodann mit einem Spaten auf den Kopf zu schlagen, aufgrund der vorangegangenen Tatprovokation eingeschränkt, sodass die Ausübung aggressiver Trutzwehr unzulässig ist. Diese rechtliche Einschränkung führt allerdings nicht dazu, dass sich der Angeklagte bei Vorliegen asthenischer Affekte nicht auf den Entschuldigungsgrund des Notwehrexzesses berufen kann (§ 33 StGB).
IV. BGH, Beschluss vom 3. Juni 2015 – 4 StR 193/15
Dem Bestehen einer Bande im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 2, § 244a Abs. 1 StGB steht es nicht entgegen, dass sich die potentiellen Mitglieder zum Zeitpunkt ihrer Vereinbarung darauf beschränken wollen Diebstahlstaten für einen überschaubaren Zeitraum zu begehen, solange keine Beschränkung auf wenige, individuell bereits bestimmbare Taten besteht. Die Beschränkung auf eine bestimmte Begehungsart gegen den selben Gewahrsamsinhaber oder auf nach Zeit, Ort und zu erbeutende Gegenstände schließt eine bandenmäßige Begehung demgegenüber nicht aus.
V. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015 – 3 StR 113/15
Die Subsidiaritätsklausel des Unterschlagungstatbestandes gemäß § 246 Abs. 1 StGB bezieht sich auf alle mit einer Unterschlagung tateinheitlich begangenen Delikte. Daher kann die gleichzeitige Entwendung von Zigaretten und Wechselgeld aus einer Tankstelle, wobei einer der Mittäter als Angestellter der Tankstelle an letzterem bereits zuvor Alleingewahrsam hatte, nicht zu einer Verurteilung wegen der tateinheitlichen Verwirklichung von Diebstahl (an den Zigaretten) und Unterschlagung (im Hinblick auf das Wechselgeld) führen.
VI. BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 – 5 StR 71/15
Zum Begriff der „Asche“ im Sinne des § 168 Abs. 1 StGB (Störung der Totenruhe) gehören sämtliche nach der Einäscherung verbleibenden Rückstände, d.h. auch die vormals mit einem Körper fest verbundenen, nicht verbrennbaren Bestandteile. Daher unterfällt auch die Entnahme von Zahngold aus den Ascheresten eines Verstorbenen, um dieses gewinnbringend weiterzuveräußern, der Tatbestandsalternative der „Wegnahme“ des vorgenannten Tatbestandes (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
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Zum Schluss noch drei prozessuale Entscheidung, wobei sich die erste zum Schutzzweck des § 257c Abs. 5 StPO (Belehrungspflicht über Voraussetzung und Folgen des Entfallens der gerichtlichen Bindung an eine Verständigungsvereinbarung) äußert, die zweite die Verwertbarkeit einer nach § 81g StPO fehlerhaft erhobenen Speichelprobe betrifft und die dritte sich mit dem Recht des Angeklagten auf das „letzte Wort“ (§ 258 Abs. 2 StPO) befasst:
VII. BGH, Beschluss vom 6. Mai 2015 – 4 StR 40/15
Auf der Verletzung der Belehrungspflicht nach § 257c Abs. 5 StPO kann ein Urteil nicht beruhen, wenn der Angeklagte kein Geständnis abgegeben hat. Denn der Zweck des § 257c Abs. 5 StPO ist es, den Angeklagte vor Eingehen einer Verständigung, deren Bestandteil ein Geständnis ist, vollumfänglich über die Tragweite seiner Mitwirkung an der Verständigung zu informieren. Nur so ist gewährleistet, dass er autonom darüber entscheiden kann, ob er von seiner Freiheit die Aussage zu verweigern (weiterhin) Gebrauch macht oder sich auf eine Verständigung einlässt. Wird von dem Angeklagten jedoch kein Geständnis abgegeben, wird der vorgenannte Schutzzweck auch nicht berührt.
VIII. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2015 – 4 StR 555/14
Die verfahrensfehlerhafte Verwendung einer vom Angeklagten abgegebenen Speichelprobe zur Ermittlung seines DNA-Identifizierungsmusters gemäß § 81g StPO führt nicht in jedem Fall zur Unverwertbarkeit des in der DNA-Analyse-Datei gespeicherten Identifizierungsmusters. Vielmehr ist je nach den Umständen des Einzelfalls unter Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte und der widerstreitenden Interessen zu entscheiden (sog. Abwägungslehre). Bedeutsam sind dabei insbesondere die Art und der Schutzzweck des etwaigen Beweiserhebungsverbots sowie das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes, das seinerseits wesentlich von der Bedeutung der im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter bestimmt wird (im vorliegenden Fall hat der BGH die Verwertbarkeit bejaht).
IX. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015 – 1 StR 198/15
Es stellt keinen Verstoß gegen das Recht des Angeklagten auf das letzte Wort nach § 258 Abs. 2 StPO dar, wenn das Gericht danach noch eine Negativmitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO über das Fehlen von Verständigungsgesprächen abgibt. Denn dem Angeklagten ist nach § 258 Abs. 2 StPO nur dann erneut das letzte Wort zu gewähren, wenn nach der Schließung der Beweisaufnahme nochmals in die Verhandlung eingetreten worden ist. Der Wiedereintritt liegt nicht nur in jeder Prozesshandlung, die ihrer Natur nach in den Bereich der Beweisaufnahme fällt, sondern bereits in jeder Handlung, in der sich der Wille des Gerichts zum Weiterverhandeln in der Sache zeigt. Werden nach dem letzten Wort ausschließlich Vorgänge erörtert, die auf die gerichtliche Entscheidung keinen Einfluss haben können, besteht demgegenüber keine Verpflichtung nach § 258 Abs. 2 StPO.
Im Folgenden eine Übersicht über im Juni veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 20. Januar 2015 – 3 StR 551/14
Eine geheimdienstliche Agententätigkeit wird nicht ohne Weiteres im Sinne des § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB „gegen die Bundesrepublik Deutschland“ ausgeübt, wenn die Ausforschungsbemühungen des Angeklagten (hier: für den indischen Inlandsgeheimdienst) sich gegen Mitglieder oder Unterstützer einer durch die Europäische Union gelisteten ausländischen terroristischen Vereinigung richten, insbesondere gegen Führungsmitglieder, die mit internationalem Haftbefehl gesucht werden (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
II. BGH, Urteil vom 15. April 2015 – 1 StR 337/14
Dem Vermögensschaden bei einem Sachbetrug (§ 263 Abs. 1 StGB), steht nicht unbedingt entgegen, dass bei der Veräußerung eines durch den Täter als Sicherungsgeber unterschlagenen, an eine Bank sicherungsübereigneten Pkw mit gefälschten Fahrzeugpapieren der getäuschte Erwerber rechtlich das Eigentum an dem Pkw erwirbt (§§ 932, 935 BGB). Dies gilt jedenfalls dann, wenn nach dem Tatplan des Täters der Pkw dem Käufer nicht im Rahmen eines späteren Zivilprozesses wieder entzogen werden soll, sondern bereits unter Vortäuschung einer anderweitigen Entziehung und Einschaltung (gutgläubiger) Polizeibeamter eine sofortige Beschlagnahme des Fahrzeugs in die Wege geleitet wird. Sein Eigentumsrecht kann der Geschädigte nämlich im Hinblick auf die ihm unter Angabe unrichtiger Verkäuferdaten übergebenen gefälschten Fahrzeugpapiere gegenüber den vom Täter instrumentalisierten Polizeibeamten nicht nachweisen. Für die Möglichkeit einer erfolgreichen späteren Herausgabeklage des Geschädigten bestehen jedenfalls dann keine Anhaltspunkte, wenn das Fahrzeug von der Polizei nicht an die Bank als Sicherungseigentümer, sondern an den Sicherungsgeber als Täter – mit ungewissem weiterem Verbleib – herausgegeben werden soll. Einer solchen Möglichkeit kommt daher zum Zeitpunkt der Vermögensverfügung kein wirtschaftlicher Wert zu. Damit erlangt der geschädigte Erwerber bei wirtschaftlicher Betrachtung zum Zeitpunkt der Vermögensverfügung lediglich eine für ihm im Ergebnis wertlose kurzfristige Besitzposition an dem Fahrzeug.
III. BGH, Beschluss vom 16. April 2015 – 1 StR 490/14
Die Manipulation des Auslesestreifens eines Geldspielautomaten durch einen zwischen diesem und dem Auslesegerät zwischengeschalteten Adapter, mit dem die durch den Automaten erzielten Umsatzerlöse vor dem Ausdruck mittels des Auslesegeräts verändert werden können, stellt die Verfälschung technischer Aufzeichnungen in der Tatvariante des § 268 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 StGB wegen störender Einwirkung auf den Aufzeichnungsvorgang dar (und nicht das Gebrauchen verfälschter technischer Aufzeichnungen gemäß § 268 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Denn erst der durch das Auslesegerät erstellte Ausdruck der in einem eigenständigen Bauteil des Geldspielautomaten automatisch erfassten und eingespielten Umsätze ist eine technische Aufzeichnung im Sinne des § 268 StGB. Bei den zuvor im Datenspeicher des Geräts abgelegten Daten handelt es sich demgegenüber noch nicht um eine technische Aufzeichnung, da diese Informationen allein Teil des vom Spielautomaten (ohne technische Eingriffe) nicht abtrennbaren Gerätespeichers sind. Erst die dauerhafte Verkörperung auf dem mittels des Auslesegeräts – grundsätzlich ohne Einwirkungsmöglichkeit von außen – hergestellten Ausdruck ist eine Darstellung im Sinne des § 268 StGB, durch die sich ein Mensch den Informationswert der in den Automaten gespeicherten Werte nutzbar machen kann.
IV. BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 – 5 StR 547/14
Im Rahmen der Prüfung einer Täuschungshandlung beim Betrug (§ 263 StGB) umfasst die Forderung und Vereinbarung eines bestimmten, gegebenenfalls auch überhöhten Preises nicht ohne weiteres die konkludente Erklärung, die verkaufte Sache sei ihren Preis auch wert. Mit Rücksicht auf das Prinzip der Vertragsfreiheit ist grundsätzlich kein Raum für die Annahme konkludenter Erklärungen über die Angemessenheit oder Üblichkeit des Preises; es ist vielmehr Sache des Käufers, abzuwägen und sich zu entscheiden, ob er die geforderte Vergütung aufwenden will. Für den Verkäufer besteht bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit und des Wuchers grundsätzlich auch keine Pflicht zur Offenlegung des Werts des Kaufobjektes, selbst wenn dieser erheblich unter dem geforderten Preis liegt. Im Regelfall muss der Verkäufer den Käufer auch nicht auf ein für diesen ungünstiges Geschäft hinweisen, sondern darf davon ausgehen, dass sich sein künftiger Vertragspartner im eigenen Interesse selbst über Art und Umfang seiner Vertragspflichten Klarheit verschafft hat (st. Rspr.).
V. BGH, Urteil vom 3. Juni 2015 – 5 StR 628/14
Zum Vorliegen der subjektiv erforderlichen groben Fahrlässigkeit in Form von Leichtfertigkeit bei einem Raub mit Todesfolge (§ 251 StGB), bei dem die maskierten und mit Pistolen bewaffneten Täter ein 82-jähriges Ehepaar überfallen und die Ehefrau aufgrund einer vorangehenden Misshandlung ihres Ehemanns und der folgenden Bedrohung einen Asthmaanfall erleidet, der zu ihrem Tode führt.
Im Folgenden eine Übersicht über im Mai veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 3. März 2015 – 3 StR 595/14
Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB reicht es zur Begehung eines schweren Raubes als Mitglied einer Bande auch aus, dass die Bande sich zur fortgesetzten Begehung von Diebstahlstaten verbunden hat; dass die künftigen Wertgegenstände unter zusätzlichem Einsatz von Nötigungsmitteln erlangt werden sollen, ist danach nicht erforderlich (Abweichung zu einer – nicht tragenden – Erwägung in BGH, Beschl. v. 13. Apr. 1999 – 1 StR 77/99 –).
II. BGH, Urteil vom 17. März 2015 – 2 StR 379/14
Die Vorschrift des Art. 12 Abs. 1 EGStGB, wonach neben Freiheitsstrafe die wahlweise Androhung von Geldstrafe auch dann tritt, wenn das Gesetz neben Freiheitsstrafe ohne besonderes Mindestmaß diese Strafart nicht ausdrücklich vorsieht, ist auch dann anwendbar, wenn zwar der Normalstrafrahmen des anzuwendenden Straftatbestands eine erhöhte Mindeststrafe vorsieht, dieser Strafrahmen im Einzelfall aber durch einen vertypten Milderungsgrund (hier: wegen Beihilfe gemäß § 27 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB) so abgesenkt wird, dass er im Ergebnis bei der gesetzlichen Mindeststrafe beginnt (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
III. BGH, Beschluss vom 9. April 2015 – 2 StR 424/14
Bedroht der Täter das Opfer mit einer Spielzeugpistole, um die Aushändigung von Bargeld zu erreichen, und schlägt er ihm im Anschluss mit dem Knauf der Pistole auf den Kopf, so dass das Opfer eine blutende Platzwunde davonträgt, liegt nicht nur eine schwere Erpressung nach §§ 255 Abs. 1, 250 Abs. 1 Nr. 1 StGB, sondern eine besonders schwere räuberische Erpressung nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB vor, da der Täter ein anderes gefährliches Werkzeug „bei der Tat“ verwendet hat. Eine solche Verwendung bei der Tat ist auch nach Vollendung der räuberischen Erpressung (durch Übergabe des Bargeldes) noch möglich, solange die Tat noch nicht beendet ist.
IV. BGH, Urteil vom 23. April 2015 – 4 StR 607/14
Für einen räuberischen Angriff auf einen Kraftfahrer (§ 316a StGB) ist erforderlich, aber auch ausreichend eine gegen die Entschlussfreiheit gerichtete Handlung, sofern das Opfer jedenfalls deren objektiven Nötigungscharakter wahrnimmt; die feindliche Willensrichtung des Täters muss das Opfer nicht erkannt haben. Daher ist auch eine vorgetäuschte Polizeikontrolle, bei der das Opfer mittels Haltezeichen durch einen Scheinpolizisten zum Anhalten gebracht wird, ein solcher Angriff. Von reinem Vorgehen mit List (etwa: Vortäuschen einer Anhaltersituation), was nicht tatbestandsmäßig wäre, unterscheidet sich die Konstellation der vorgetäuschten Polizeikontrolle dadurch, dass dem Kraftfahrzeugführer bei der Einwirkung durch das Haltezeichen eines Polizeibeamten kein Ermessen eingeräumt ist; er ist vielmehr bei Androhung von Geldbuße (§49 Abs. 3 Nr. 1 StVO) verpflichtet, Haltezeichen Folge zu leisten.
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Zuletzt noch eine strafprozessuale Entscheidung, die sich mit den Vorschriften über die Verständigung befasst:
V. BGH, Urteil vom 14. April 2015 – 5 StR 20/15
Weder dem gesetzlichen Schutzkonzept zur Verständigung noch übergeordneten Grundsätzen lässt sich ein an Gericht oder Staatsanwaltschaft gerichtetes Verbot entnehmen, in einem gegen mehrere Angeklagte gerichteten Strafverfahren nur an einer „Gesamtverständigung“ mitzuwirken. Ein subjektives Recht eines Angeklagten auf Verständigung existiert nicht. Gerade in Umfangsverfahren kann eine Verständigung mit nur einzelnen Angeklagten unter dem Aspekt der Verfahrensökonomie im Wesentlichen wertlos sein, im Gegenteil sogar gewisse Gefahren für den Bestand des Urteils in sich bergen, zumal dann, wenn die Tatbeiträge der Angeklagten –wie im vorliegenden Fall – in besonderer Weise miteinander verwoben sind.
Im Folgenden eine Übersicht über im März veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Urteil vom 7. Januar 2015 – 2 StR 163/14
Es ist für die Annahme des Raubtatbestandes (§ 249 StGB) nicht erforderlich, dass die eingesetzten Nötigungsmittel objektiv erforderlich, ursächlich oder förderlich gewesen sind; genügend ist es, wenn der Täter nach seiner Vorstellung Raubmittel anwendet, um dadurch eine Wegnahme zu ermöglichen, ohne dass es objektiv darauf ankäme, ob dies tatsächlich der Fall ist (st. Rspr.). Daher kommt es nicht darauf an, ob das Opfer das Verschließen der eigenen Wohnungstür durch den Täters bemerkt und sich dadurch genötigt gefühlt hat, die Wegnahme der Tatbeute zu dulden.
II. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2015 – 2 StR 204/14
Eine Strafbarkeit wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in der Tatvariante der Gewaltanwendung (§ 113 Abs. 1 StGB) setzt voraus, dass die Gewalt gegen den Amtsträger gerichtet und für ihn – unmittelbar oder mittelbar über Sachen – körperlich spürbar ist. Bloße Flucht vor dem Zugriff der Polizei durch Rückwärtsfahren mit einem Pkw ist kein (gewaltsamer) Widerstand, auch wenn dadurch gegebenenfalls Dritte gefährdet oder unvorsätzlich verletzt werden.
III. BGH, Urteil vom 22. Januar 2015 – 3 StR 233/14
Bei Anwendung des § 228 StGB (Ausschluss einer Einwilligung bei Sittenwidrigkeit der Körperverletzung) auf eine einverständliche Schlägerei, bei der nicht lediglich Bagatellverletzungen zu erwarten sind, ist auch darauf abzustellen, ob die Beteiligten den Tatbestand des § 231 Abs. 1 StGB (Beteiligung an einer Schlägerei) erfüllen. Denn in diesem Fall liegt eine Missachtung der gesetzgeberischen Wertung des § 231 StGB vor, die das Sittenwidrigkeitsurteil unabhängig davon begründet, ob der sich hieraus ergebenden gesteigerten Gefahr für Leib und Leben durch Vorkehrungen, mit denen eine Eskalation der Auseinandersetzung verhindert werden soll, entgegengewirkt werden könnte. Die Annahme von Straflosigkeit infolge der Einwilligung in etwaige Körperverletzungen würde darüber hinaus in der gegebenen Konstellation zu unauflösbaren Widersprüchen führen, weil ein und dasselbe Täterverhalten einerseits ausdrücklich verboten, andererseits aber infolge der erteilten Einwilligung erlaubt wäre. Vorstehendes gilt dabei unabhängig davon, ob in der konkreten Schlägerei auch die schwere Folge des § 231 Abs. 1 StGB eingetreten ist, da es sich hierbei lediglich um eine objektive Strafbarkeitsbedingung handelt (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
IV. BGH, Beschluss vom 3. Februar 2015 – 3 StR 541/14
Ein bereits mit bedingtem Tötungsvorsatz geführter Angriff kann nur dann Grundlage eines Verdeckungsmordes (§ 211 Abs. 1, 2 Fallgruppe 3 Alt. 1 StGB) durch die spätere Tötung des Tatopfers sein, wenn zwischen beiden Tathandlungen eine deutliche zeitliche Zäsur liegt; ein zäsurloser Übergang vom bedingten zum unbedingten Tötungsvorsatz lässt die zeitlich davorliegenden Teile einer einheitlichen Tötungshandlung hingegen nicht als eine andere Straftat erscheinen. Die Annahme eines Verdeckungsmordes, der sich darauf stützt, dass sich bei einer bereits zuvor vorgenommenen Verletzungshandlung nicht mit der erforderlichen Sicherheit ein zumindest bedingter Vorsatz feststellen lasse, stellt eine fehlerhafte Anwendung des In-dubio-pro-reo-Satzes dar.
V. BGH, Urteil vom 11. Februar 2015 – 2 StR 210/14
Die einen Diebstahl (§ 242 StGB) begründende Tathandlung der Wegnahme als Bruch fremden Gewahrsams ist auch dann gegeben, wenn der Angestellte einer DB-Verkaufsstelle ihm ohne weiteres zugängliche Blanko-Bahnscheine zur Herstellung von Falsifikaten an Dritte weitergibt, ohne dass durch seinen Arbeitgeber eine Kontrolle über den Bestand der Fahrkarten bzw. die Anzahl von Bestellungen und Verkäufen vorgenommen wird. Denn der Ladeninhaber besitzt hinsichtlich der in seinem Ladengeschäft befindlichen Waren im Hinblick auf seine jederzeitige Zugriffsmöglichkeit zumindest (Mit-)Gewahrsam, ohne dass es im Einzelnen darauf ankäme, ob er Kontrollen über den Bestand der Waren vornimmt oder überhaupt weiß, ob und wie viele der einzelnen zum Verkauf angebotenen Gegenstände sich in der Gewahrsamssphäre des Ladens befinden.
Im Folgenden eine Übersicht über im Februar veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (insbesondere materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2014 – 1 StR 496/14
Für das Mordmerkmal der Heimtücke (§ 211 Abs. 2, Fallgruppe 2, Var. 1 StGB) ist es ausreichend, wenn eine Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bei der ersten, missglückten Tötungshandlung besteht, auch wenn das Opfer daraufhin seine Arglosigkeit verliert, sich (zunächst erfolgreich) wehrt und erst mit einer späteren, jedoch im zeitlichen Zusammenhang stehenden Handlung getötet wird.
II. BGH, Beschluss vom 29. Dezember 2014 – 2 StR 29/14
Der Gehilfenvorsatz eines Beteiligten an der Untreue (§ 266 StGB) eines anderen umfasst alle Merkmale des Untreuetatbestandes, insbesondere auch das Vorliegen eines Nachteils. Es reicht daher nicht aus, wenn der Gehilfe lediglich einen Eventualvorsatz im Hinblick auf die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens des Haupttäters hat, da dieses Merkmal nicht mit dem Merkmal des Nachteils „verschleift“ werden darf.
III. BGH, Urteil vom 13. Januar 2015 – 1 StR 454/14
Für den Gehilfenvorsatz ist nicht erforderlich, dass der Gehilfe alle Einzelheiten der Haupttat kennt. Vielmehr ist entscheidend, dass der Gehilfe die Dimension des Unrechts der ins Auge gefassten Tat erfassen kann. Der Gehilfenvorsatz unterscheidet sich insofern vom Anstiftervorsatz, da der Anstifter eine konkrete Tat vor Augen haben muss, während der Gehilfe einen von der Haupttat losgelösten Beitrag erbringt. Daher ist für die Verurteilung wegen Beihilfe zum Betrug in mehreren Fällen nicht entscheidend, ob der Gehilfe die konkrete Anzahl der Geschädigten im Detail kennt.
IV. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2015 – 4 StR 532/14
Der Qualifikation eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes als Mord in der Variante der Ermöglichungsabsicht (§ 211 Abs. 2, Fallgruppe 3, Alt. 1 StGB) steht das Bestehen von Tateinheit zwischen der vorsätzlichen Tötung und dem nachfolgenden Delikt, welches ermöglicht werden soll (hier: Schwangerschaftsabbruch, § 218 StGB), nicht entgegen.
V. BGH, Urteil vom 21. Januar 2015 – 2 StR 247/14
Raub kann auch dann vorliegen, wenn zwar zwischen der der Wegnahme vorangehenden Gewaltanwendung (hier: Schläge und Tritte) und der anschließenden, auf einem neuen Tatentschluss beruhenden Wegnahme eines Rucksacks des Opfers kein Finalzusammenhang besteht, die Wegnahme des Tatobjekts jedoch durch ein „Entreißen“ des Rucksacks verwirklicht wird und also selbst als Gewalt zu qualifizieren ist. Dies ist dann der Fall, wenn die dazu aufgewendete Kraft nicht völlig unerheblich ist und jedenfalls auch dazu dient, einen erwarteten oder geleisteten Widerstand des Opfers zu überwinden.
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Zum Schluss noch vier prozessuale Entscheidungen.
Dem ersten Beschluss liegt die Revisionsrüge des § 338 Nr. 6 StPO (Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens) zugrunde:
VI. BGH, Beschluss vom 27. November 2014 – 3 StR 437/14
Beteiligter im Sinne des § 174 Abs. 1 Satz 1 GVG, der verlangen kann, dass über die Ausschließung der Öffentlichkeit in nichtöffentlicher Sitzung verhandelt wird, kann auch ein Zeuge sein. Der Begriff des Beteiligten nach der vorgenannten Vorschrift ist nämlich nicht so eng zu verstehen, dass nur die Verfahrensbeteiligten im engeren Sinne hierunter subsumiert werden könnten, im Strafverfahren also der Angeklagte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft. Vielmehr kann „Beteiligter“ nach § 174 Abs. 1 Satz 1 GVG jeder sein, dessen Interessen mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit geschützt werden sollen (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
Die zweite Entscheidung befasst sich mit der Frage, ab wann einer Person „konkludent“ die Rolle als Beschuldigter eines Ermittlungsverfahrens – mit entsprechenden Belehrungspflichten nach § 136 Abs. 1 StPO – zusteht.
VII. BGH, Urteil vom 30. Dezember 2014 – 2 StR 439/13
Auch ohne förmliche Verfahrenseröffnung gegen eine Person ist die konkludente Zuweisung der Rolle als Beschuldigter möglich. Das Strafverfahren ist eingeleitet, sobald die Ermittlungsbehörde Maßnahmen trifft, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild darauf abzielen, gegen jemanden strafrechtlich vorzugehen. Ist eine Ermittlungshandlung darauf gerichtet, den Vernommenen als Täter einer Straftat zu überführen, kommt es daher nicht mehr darauf an, wie der Ermittlungsbeamte selbst sein Verhalten rechtlich bewertet. Besteht danach wegen fehlender Belehrung nach § 163a Abs. 4 in Verbindung mit § 136 Abs. 1 StPO ein prozessualer Verstoß, wird dieser auch nicht durch eine statt dessen erfolgte Belehrung nach § 55 Abs. 2 StPO kompensiert; denn diese Belehrung entspricht nicht dem Hinweis auf ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht als Beschuldigter und dessen Recht auf Verteidigerbeistand.
Zuletzt noch die Antworten des 1. und 5. Strafsenats auf die Anfrage des 2. Senats zur Frage des Erfordernisses einer qualifizierten Belehrung von zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen bei Vernehmung durch einen Ermittlungsrichter und der späterer Verwertung ihrer Aussagen durch Vernehmung dieses Ermittlungsrichters (= Frage der Reichweite des § 252 StPO):
VIII. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2015 – 1 ARs 21/14
Auf die Anfrage des 2. Strafsenats nach § 132 Abs. 3 Satz 2 GVG teilt der 1. Strafsenat mit, dass er an der bisherigen Rechtsprechung festhält, wonach die Möglichkeit der Vernehmung des ursprünglichen Ermittlungsrichters als Zeugen in der Hauptverhandlung nicht davon abhängt, dass der unmittelbare Zeuge bei seiner ursprünglichen Vernehmung über die spätere Verwertbarkeit seiner Aussage qualifiziert belehrt wurde. Eine solche qualifzierte Belehrung sei weder vorgeschrieben noch zur sachgerechten Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts erforderlich. Generell fraglich könne jedoch sein, ob die Vernehmung einer früheren richterlichen Verhörsperson in der Hauptverhandlung im Hinblick auf den Schutz des Zeugnisverweigerungsrechts überhaupt zulässig sei.
IV. BGH, Beschluss vom 27. Januar 2015 – 5 ARs 64/14
Auch der 5. Strafsenat ist der Auffassung, dass die Vernehmung des Ermittlungsrichters als Zeugen in der Hauptverhandlung nicht von einer qualifizierten Belehrung des unmittelbaren Zeugen bei seiner ursprünglichen Vernehmung abhänge. Es bedürfe angesichts der bestehenden Unterschiede zwischen der richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmung (§§ 251 Abs. 2, 168c Abs. 2, 161a Abs. 1 Satz 2 StPO) keines weitergehenden Hinweises an den Zeugen zur späteren Verwertbarkeit seiner Aussage.
Im Folgenden eine Übersicht über im Januar veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 23. September 2014 – 4 StR 92/14
Ein Fahrlehrer, der als Beifahrer während einer Ausbildungsfahrt einen Fahrschüler begleitet, dessen fortgeschrittener Ausbildungsstand zu einem Eingreifen in der konkreten Situation keinen Anlass gibt, ist nicht Führer des Kraftfahrzeugs im Sinne des § 23 Abs. 1a Satz 1 StVO (Leitsatz des Gerichts; zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
II. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 2014 – 1 StR 31/14
Die falsche Eintragung von Privatpersonen in die Kfz-Zulassungsbescheinigung Teil I und II als letzte Fahrzeughalter trotz fehlender Haltereigenschaft und Verfügungsberechtigung stellt (ebenso wie beim Vorgängerdokument der Zulassungsbescheinigung Teil II, dem Fahrzeugbrief) keine Falschbeurkundung im Amt dar. Denn diese beiden Umstände stellen nicht solche Tatsachen dar, auf die sich der öffentliche Glaube des Dokuments, d.h. die volle Beweiswirkung für und gegen jedermann, erstreckt (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
III. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2014 – 4 StR 213/14
Der vertypte Strafmilderungsgrund des § 46a Nr. 1 StGB (Täter-Opfer-Ausgleich) ist auf den vorsätzlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) nicht anwendbar, da § 46a StGB in der ersten Variante einen kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer erfordert. Dieser ist bei dem Gefährdungsdelikt des § 315b StGB nicht möglich, da es sich hierbei um ein „opferloses“ Delikt handelt, welches dem Schutz des öffentlichen Straßenverkehrs dient, während die in der Norm aufgezählten Individualrechtsgüter (Leben, Gesundheit und bedeutende Sachwerte der durch den Eingriff betroffenen Verkehrsteilnehmer) lediglich faktisch mitgeschützt werden (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
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Zum Schluss noch eine prozessuale Entscheidung zum examensrelevanten Umfang des Verwertungsverbots nach § 252 StPO:
IV. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2014 – 4 ARs 21/14
Der 4. Senat hält auf den gegenteiligen Anfragebeschluss des 2. Strafsenats (§ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG) an seiner Rechtsprechung fest, wonach die Einführung und Verwertung von Angaben eines früher richterlich vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 StPO Gebrauch gemacht hat, durch Vernehmung der richterlichen Vernehmungsperson auch ohne vorherige qualifizierte Belehrung des Zeugen über die spätere Möglichkeit der Einführung und Verwertung seiner Aussage zulässig ist. Eine solche qualifizierte Belehrung sei in den Vorschriften über die Vernehmung von Zeugen nicht vorgesehen und es fehle auch an einer gesetzlichen Regelungslücke. Die Vorschrift des § 252 StPO, die der strittigen Rechtsfrage zugrunde liege, bezwecke nicht den Schutz des Angeklagten, sondern des Zeugen. Einem Zeugen sei jedoch jedenfalls bei einer richterlichen Vernehmung im Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen einen Angehörigen hinreichend bewusst , dass eine – nach Belehrung gemäß § 52 Abs.3 StPO und in freier Entscheidung – getätigte Aussage für das weitere Verfahren und die Frage, ob der Angeklagte auch aufgrund dieser Aussage verurteilt werden kann, Bedeutung erlangen kann.
Im Folgenden eine Übersicht über im Dezember veröffentlichte interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 4. September 2014 – 1 StR 75/14
Die im Rahmen der vertraglichen Übertragung eines Erbteils erfolgte, täuschungsbedingte Herbeiführung einer Grundbuchberichtigung mittels eines gutgläubigen Notars ist keine Vermögensverfügung im Sinne des § 263 StGB zu Lasten des bisher eingetragenen Erbberechtigten, wenn die beabsichtigte Berichtigung der durch die Übertragung eingetretenen dinglichen Rechtslage entspricht. Dies gilt auch dann, wenn die Berichtigung durch den Notar von den Parteien vertraglich von der (vorliegend tatsächlich nicht erfolgten) Zahlung des vollständigen Kaufpreises für den Erbteil abhängig gemacht worden war. Soweit dadurch nach dem Willen der Vertragsparteien im Sinne eines Zurückbehaltungsrechts die Durchsetzbarkeit des Kaufpreisanspruchs gesichert werden sollte, mangelte es dieser Sicherheit jedenfalls an einer Werthaltigkeit. Denn eine solche Verknüpfung hindert den Erwerber nicht, den Nachweis der Unrichtigkeit des Grundbuchs auf andere Weise direkt gegenüber dem Grundbuchamt zu erbringen.
II. BGH, Beschluss vom 30. September 2014 – 3 ARs 13/14
Auf den Vorlagebeschluss des 2. Strafsenats (§ 132 Abs. 3 GVG), der eine wahlweise Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls und gewerbsmäßiger Hehlerei als unvereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG ansieht, teilt der 3. Strafsenat mit, dass er an diesem Rechtsinstitut festhält. Ob die vorgenannte Entscheidungsregel neben prozessualen Elementen, die von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst würden, auch materielle Elemente enthalte, könne dahinstehen, da hierdurch weder die Reichweite der in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Gewährleistung verändert noch dessen Anwendungsbereich ohne Weiteres eröffnet werde. Das Rechtsinstitut der ungleichartigen Wahlfeststellung wirke nicht strafbarkeitsbegründend und berühre damit nicht den Grundsatz „nullum crimen sine lege“, da die Voraussetzungen, unter denen das Verhalten eines Angeklagten als strafbar zu qualifizieren sei, weiterhin aus den alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen folge. Die richterlich entwickelte Einschränkung der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit der alternativen Straftatbestände wirke ebenfalls nicht strafbarkeitsbegründend, sondern schränke den Anwendungsbereich der Rechtsfigur, die gemessen an Art. 103 Abs. 2 GG auch unbeschränkt zulässig wäre, lediglich ein.
III. BGH, Beschluss vom 4. November 2014 – 4 StR 200/14
Fährt der Täter mit einem Pkw auf einen anderen Verkehrsteilnehmer zu, ist der innere Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB nur dann erfüllt, wenn er sich dabei wenigstens mit der Möglichkeit abgefunden hat, dass die betroffene Person angefahren oder überfahren wird und unmittelbar hierdurch eine Körperverletzung erleidet. Rechnet der Täter dagegen nur mit Verletzungen infolge von Ausweichbewegungen oder einem Sturz, scheidet die Annahme einer versuchten gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB aus.
IV. BGH, Beschluss vom 6. November 2014 – 4 StR 416/14
Ein Heimtückemord (§ 211 Abs. 1, 2, Fallgruppe 2 Var. 1 StGB) setzt grundsätzlich eine Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bei Beginn der Tatausführung voraus. Auch in dem von dieser Grundregel abweichenden Ausnahmefall, dass der Täter das Opfer planmäßig in einen Hinterhalt lockt, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen und die entsprechenden Vorkehrungen und Maßnahmen bei Ausführung der Tat noch fortwirken, ist vorausgesetzt, dass bereits das Locken in den Hinterhalt mit Tötungsvorsatz erfolgt ist. Lässt sich ein Tötungsvorsatz zu diesem Zeitpunkt hingegen noch nicht feststellen, scheidet ein Heimtückemord aus.
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Zuletzt noch eine verfahrensrechtliche Entscheidung, die sich mit dem absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO (Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit einer gesetzlich vorgeschriebenen Person) beschäftigt:
V. BGH, Beschluss vom 5. November 2014 – 4 StR 385/14
Bei einem Ausschluss des Angeklagten für die Dauer einer Vernehmung nach § 247 Satz 2 StPO wird gegen dessen Anwesenheitsrecht verstoßen, wenn er bereits bei Verkündung des Ausschließungsbeschlusses nicht mehr anwesend ist. Dass er mit seinem Ausschluss einverstanden war, ist unerheblich, da das Recht des Angeklagten auf Teilnahme an der Hauptverhandlung unverzichtbar ist und nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen eingeschränkt werden darf.
Auch das letzte Quartal des Jahres 2014 hat nunmehr ein Ende gefunden und so wünschen wir euch an dieser Stelle schon einmal ein frohes neues Jahr. Das vergangene Jahr hielt zuletzt noch einige bedeutsame Entscheidungen und nicht nur ein verändertes Design der Webpräsenz des Bundesverfassungsgerichtes bereit. Somit stellen wir euch mit diesem Rechtsprechungsüberblick wieder eine Reihe dieser Entscheidungen vor, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten drei Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten. Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Dargestellt wird in diesem Beitrag insofern anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen aus den Gründen eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, welche ihr nachschlagen solltet.
Beschluss vom 03. September 2014 – 1 BvR 3353/13 (siehe auch die Pressemitteilung)
Der Beschwerdeführer, welcher an der Universität Konstanz zum Doktor der Naturwissenschaft promovierte, hat sich mit dieser von ihm erhobenen Verfassungsbeschwerde gegen die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, welche den Entzug seines Doktorgrades wegen Unwürdigkeit aufgrund späteren Verhaltens bestätigt hatten, und mittelbar gegen § 35 Abs. 7 des baden-württembergischen Landeshochschulgesetzes (inzwischen unverändert übernommen in § 36 Abs. 7)gewendet. Aberkannt wurde dem Physiker der Doktortitel wegen manipulierter Forschungsergebnisse.
Zwar hat das BVerfG die Sache nicht zur Entscheidung angenommen, womit die Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg blieb, doch eignet sich dieser Sachverhalt wohlmöglich zumindest für eine Anfängerklausur. Das BVerfG führte bedeutsam aus, dass der Entzug des Doktorgrades wegen „Unwürdigkeit“ nur bei wissenschaftsbezogenen Verfehlungen in Betracht komme. Eine Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „Unwürdigkeit“, welche sich auf die Besonderheiten der Wissenschaft und die Bedeutung akademischer Titel beziehe, sei mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bestimmtheitsgebots vereinbar. Im Übrigen seien die Eingriffe in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) und die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) des Beschwerdeführers verhältnismäßig.
Beschluss vom 24. September 2014 – 2 BvR 2782/10 (siehe auch die Pressemitteilung)
Mit diesem Beschluss hat das BVerfG eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg aufgehoben und im Wesentlichen dazu ausgeführt, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes eine Ausschöpfung sämtlicher erfolgversprechender Erkenntnisquellen im Rehabilitierungsverfahren verlange.
Der Beschwerdeführer beantragte im Dezember 2006 seine Rehabilitierung wegen der Unterbringung in Kinderheimen der ehemaligen DDR in den Jahren 1961 bis 1966 sowie 1967 bis 1970. Das LG Magdeburg wies diesen Antrag mit Beschluss vom 21. Dezember 2007 jedoch zurück, denn es sei nicht ersichtlich, dass die Einweisung des Beschwerdeführers in ein Kinderheim unter Zugrundelegung des Standes der pädagogischen Wissenschaften im Jahr 1961 mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen sei. Die darauf folgende und bestätigende Entscheidung des OLG Naumburg hob das BVerfG schließlich auf. Das OLG sei seiner Amtsermittlungspflicht nicht ausreichend nachgekommen und habe somit das Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz verletzt. Außerdem habe das OLG seiner Entscheidung eine willkürliche Auslegung des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes zugrunde gelegt, die eine Anwendung des Gesetzes auf die Heimunterbringung von Kindern im Ergebnis ausschließe. Der Beschluss des OLG verstoße daher gegen Art. 3 I GG sowie gegen Art. 2 I i.V.m. Art. 20 III GG.
Urteil vom 07. Oktober 2014 – 2 BvR 1641/11
Leitsätze des BVerfG:
Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat mit Art. 91e GG für das Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende eine umfassende Sonderregelung geschaffen. In seinem Anwendungsbereich verdrängt Art. 91e GG sowohl die Art. 83 ff. GG als auch Art. 104a GG.
1. Art. 91e GG begründet eine unmittelbare Finanzbeziehung zwischen dem Bund und den Optionskommunen und ermöglicht eine Finanzkontrolle, die sich von der staatlichen Aufsicht wie auch von der Finanzkontrolle durch den Bundesrechnungshof unterscheidet.
2. Art. 91e Abs. 2 GG räumt den Gemeinden und Gemeindeverbänden eine Chance ein, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als kommunale Träger alleinverantwortlich wahrzunehmen. Die gesetzliche Ausgestaltung dieser Chance muss willkürfrei erfolgen. Ihre Wahrnehmung fällt in den Schutzbereich der Garantie kommunaler Selbstverwaltung.
3. Art. 91e Abs. 3 GG enthält einen umfassenden und weit zu verstehenden Gesetzgebungsauftrag zugunsten des Bundes. Der Bund verfügt insoweit über die Gesetzgebungskompetenz, die mit der Zulassung als kommunaler Träger zusammenhängenden Rechtsverhältnisse zu regeln. Auf die Art und Weise der internen Willensbildung der Kommunen erstreckt sich seine Regelungskompetenz jedoch nicht.
Beschluss vom 10. Oktober 2014 – 1 BvR 856/13
Der Beschwerdeführer ist sehbehindert und hat sich mit der eingelegten Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung eines Antrags auf Zugänglichmachung von Prozessunterlagen gewendet, da er in einem zivilgerichtlichen Berufungsverfahren beantragt hatte, die Prozessunterlagen auch in Blindenschrift zu erhalten. Das Landgericht wies diesen Antrag allerdings zurück. Auch die zugelassene Rechtsbeschwerde vor dem BGH blieb mit folgender Begründung ohne Erfolg: Eine blinde oder sehbehinderte Person habe keinen wie vorgetragenen Anspruch auf Zugänglichmachung der Dokumente des gerichtlichen Verfahrens in einer für sie wahrnehmbaren Form aus § 191a GVG in der bis zum 30. Juni 2014 gültigen Fassung in Verbindung mit § 4 Abs. 1 der Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (ZMV), wenn sie in dem Verfahren – wie hier der Beschwerdeführer – durch einen Rechtsanwalt vertreten werde und der Streitstoff so übersichtlich sei, dass er ihr durch den Rechtsanwalt gut vermittelt werden könne. Mit der hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 I i.V.m. Art. 20 III sowie von Art. 3 III 2, Art. 19 IV und Art. 103 I GG.
Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen. Das BVerfG führte dazu jedoch aus, und dies sollte man sich merken, dass Prozessunterlagen nur dann nicht in Blindenschrift zugänglich gemacht werden müssten, wenn die Vermittlung durch den Rechtsanwalt gleichwertig ist.
Urteil vom 21. Oktober 2014 – 2 BvE 5/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Leitsätze des BVerfG:
1. Aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgt ein Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung, dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung korrespondiert. Die Rüstungsexportkontrolle ist nicht wegen der außenpolitischen Bedeutung dieses Teilbereichs des Regierungshandelns von vornherein jeglicher parlamentarischen Kontrolle entzogen. Auch die Zuständigkeitszuweisung des Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG schafft für sich genommen keinen der parlamentarischen Verantwortung grundsätzlich entzogenen Raum gubernativen Entscheidens.
2. Der Informationsanspruch des Bundestages und der einzelnen Abgeordneten besteht gleichwohl nicht grenzenlos. Er wird begrenzt durch das Gewaltenteilungsprinzip, das Staatswohl und Grundrechte Dritter.
3. Die Beratung und Beschlussfassung im Bundessicherheitsrat unterfallen dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung. Die Bundesregierung ist daher nur verpflichtet, Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf entsprechende Anfragen hin mitzuteilen, dass der Bundessicherheitsrat ein bestimmtes, das heißt hinsichtlich des Rüstungsguts, des Auftragsvolumens und des Empfängerlandes konkretisiertes Kriegswaffenexportgeschäft genehmigt hat oder dass eine Genehmigung für ein wie in der Anfrage beschriebenes Geschäft nicht erteilt worden ist. Darüber hinaus gehende Angaben sind verfassungsrechtlich nicht geboten.
4. Die Antwort auf Fragen zu noch nicht beschiedenen Anträgen auf Erteilung einer Genehmigung für die Ausfuhr von Kriegswaffen kann die Bundesregierung, ebenso wie die Auskunft über Voranfragen von Rüstungsunternehmen auch aus Gründen des Staatswohls verweigern. Entsprechendes gilt für die Tatsache, dass ein Genehmigungsantrag abgelehnt wurde. Auch bei durch den Bundessicherheitsrat bereits gebilligten Anträgen auf Erteilung einer Genehmigung kann die Verweigerung der Antwort aus diesen Gründen gerechtfertigt sein.
5. Der mit einer Offenlegung von Informationen zu beabsichtigten Rüstungsexportgeschäften verbundene Eingriff in die Berufsfreiheit der Unternehmen der deutschen Rüstungsindustrie ist generell insoweit gerechtfertigt, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort Auskunft darüber gibt, dass der Bundessicherheitsrat die Genehmigung für ein konkretes Kriegswaffenausfuhrgeschäft erteilt hat und in diesem Rahmen Angaben über Art und Anzahl der Kriegswaffen, über das Empfängerland, über die beteiligten deutschen Unternehmen und über das Gesamtvolumen des Geschäfts macht. Darüber hinausgehende Angaben würden grundsätzlich in unverhältnismäßiger Weise in die Berufsfreiheit der Unternehmen eingreifen.
6. Eine Begründungspflicht besteht insoweit, wie die Bundesregierung die Auskunft über eine erteilte Genehmigung oder über die in diesem Rahmen mitzuteilenden Generalia des Exportgeschäfts verweigern will.
Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 (siehe auch unseren Artikel vom 21. November 2014)
Leitsätze des BVerfG:
1. Soweit sich die Schutzbereiche der Glaubensfreiheit und der inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung überlagern, geht Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV als speziellere Norm Art. 4 Abs. 1 und 2 GG insoweit vor, als er das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften der Schranke des für alle geltenden Gesetzes unterwirft (sog. Schrankenspezialität). Bei der Anwendung des für alle geltenden Gesetzes durch die staatlichen Gerichte ist bei Ausgleich gegenläufiger Interessen aber dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die korporative Religionsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet und insofern dem Selbstbestimmungsrecht und dem Selbstverständnis der Religionsgesellschaften besonderes Gewicht zuzumessen ist.
2. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht umfasst alle Maßnahmen, die der Sicherstellung der religiösen Dimension des Wirkens im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum kirchlichen Grundauftrag dienen. Die Formulierung des kirchlichen Proprium obliegt allein den Kirchen und ist als elementarer Bestandteil der korporativen Religionsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verfassungsrechtlich geschützt.
3. Die staatlichen Gerichte haben im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der verfassten Kirche zu überprüfen, ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt. Sie haben sodann unter dem Gesichtspunkt der Schranken des „für alle geltenden Gesetzes“ eine Gesamtabwägung vorzunehmen, in der die – im Lichte des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen verstandenen – kirchlichen Belange und die korporative Religionsfreiheit mit den Grundrechten der betroffenen Arbeitnehmer und deren in den allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen enthaltenen Interessen auszugleichen sind. Die widerstreitenden Rechtspositionen sind dabei jeweils in möglichst hohem Maße zu verwirklichen.
Urteil vom 05. November 2014 – 1 BvF 3/11 (siehe auch die Pressemitteilung)
Leitsätze des BVerfG:
1. Die Luftverkehrsteuer ist eine sonstige auf motorisierte Verkehrsmittel bezogene Verkehrsteuer nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 3 GG.
2. Bei der Auswahl des Steuergegenstandes wird der Gleichheitssatz bereits eingehalten, wenn der Gesetzgeber einen Sachgrund für seine Wahl des Steuergegenstandes vorbringen kann, die Berücksichtigung sachwidriger, willkürlicher Erwägungen ausgeschlossen ist und die konkrete Belastungsentscheidung nicht mit anderen Verfassungsnormen in Konflikt gerät.
Beschluss vom 19. November 2014 – 2 BvL 2/13
Leitsätze des BVerfG:
1. Die Trägerschaft für Grund- und Hauptschulen, die in der Vergangenheit regelmäßig als eigenständige „Volksschulen“ organisiert waren, ist als historisch gewachsene Gemeindeaufgabe eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft.
2. Zu den mit der Schulträgerschaft verbundenen Aufgaben gehört namentlich die – in der Regel unter Mitwirkung des Staates zu treffende – Entscheidung, ob eine Schule eingerichtet oder geschlossen werden soll.
3. Eine Schulnetzplanung auf Kreisebene für die Grund- und Hauptschulen erfordert nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ein wirksames Mitentscheidungsrecht der kreisangehörigen Gemeinden.
Beschluss vom 04. Dezember 2014 – 2 BvE 3/14
Der Antrag im Organstreitverfahren betrifft die Pflicht zur Unterstützung eines Untersuchungsausschusses gemäß Art. 44 GG hinsichtlich der Vernehmung des Zeugen Edward Snowden in Berlin. Die Anträge wurden allerdings als unzulässig verworfen.
Urteil vom 16. Dezember 2014 – 2 BvE 2/14 (siehe auch die Pressemitteilung)
Leitsätze des BVerfG:
1. Die Maßstäbe, die für Äußerungen des Bundespräsidenten in Bezug auf politische Parteien und die Überprüfung dieser Äußerungen durch das Bundesverfassungsgericht gelten (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 10. Juni 2014 2 BvE 4/13 , juris), sind auf die Mitglieder der Bundesregierung nicht übertragbar.
2. Soweit der Inhaber eines Regierungsamtes am politischen Meinungskampf teilnimmt, muss sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten unterbleibt. Nimmt das Regierungsmitglied für sein Handeln die Autorität des Amtes oder die damit verbundenen Ressourcen in spezifischer Weise in Anspruch, ist es dem Neutralitätsgebot unterworfen.
Urteil vom 17. Dezember 2014 – 1 BvL 21/12
Leitsätze des BVerfG:
1. Art. 3 Abs. 1 GG verleiht Steuerpflichtigen keinen Anspruch auf verfassungsrechtliche Kontrolle steuerrechtlicher Regelungen, die Dritte gleichheitswidrig begünstigen, das eigene Steuerrechtsverhältnis aber nicht betreffen. Anderes gilt jedoch, wenn Steuervergünstigungen die gleichheitsgerechte Belastung durch die Steuer insgesamt in Frage stellen.
2. Im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG ist eine bundesgesetzliche Regelung nicht erst dann, wenn sie unerlässlich für die Rechts- oder Wirtschaftseinheit ist. Es genügt vielmehr, dass der Bundesgesetzgeber problematische Entwicklungen für die Rechts- und Wirtschaftseinheit erwarten darf. Ob die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG gegeben sind, prüft das Bundesverfassungsgericht, wobei dem Gesetzgeber im Hinblick auf die zulässigen Zwecke einer bundesgesetzlichen Regelung und deren Erforderlichkeit im gesamtstaatlichen Interesse eine Einschätzungsprärogative zusteht.
3. Der Gleichheitssatz belässt dem Gesetzgeber im Steuerrecht einen weitreichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstands als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes. Abweichungen von der einmal getroffenen Belastungsentscheidung müssen sich ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands). Sie bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes. Dabei steigen die Anforderungen an die Rechtfertigung mit Umfang und Ausmaß der Abweichung.
4. Die Verschonung von Erbschaftsteuer beim Übergang betrieblichen Vermögens in §§ 13a und 13b ErbStG ist angesichts ihres Ausmaßes und der eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.
a. Es liegt allerdings im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers kleine und mittelständische Unternehmen, die in personaler Verantwortung geführt werden, zur Sicherung ihres Bestands und damit auch zur Erhaltung der Arbeitsplätze von der Erbschaftsteuer weitgehend oder vollständig freizustellen. Für jedes Maß der Steuerverschonung benötigt der Gesetzgeber allerdings tragfähige Rechtfertigungsgründe.
b. Die Privilegierung des unentgeltlichen Erwerbs betrieblichen Vermögens ist jedoch unverhältnismäßig, soweit die Verschonung über den Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen hinausgreift, ohne eine Bedürfnisprüfung vorzusehen.
c. Die Lohnsummenregelung ist im Grundsatz verfassungsgemäß; die Freistellung von der Mindestlohnsumme privilegiert aber den Erwerb von Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten unverhältnismäßig.
d. Die Regelung über das Verwaltungsvermögen ist nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, weil sie den Erwerb von begünstigtem Vermögen selbst dann uneingeschränkt verschont, wenn es bis zu 50 % aus Verwaltungsvermögen besteht, ohne dass hierfür ein tragfähiger Rechtfertigungsgrund vorliegt.
5. Ein Steuergesetz ist verfassungswidrig, wenn es Gestaltungen zulässt, mit denen Steuerentlastungen erzielt werden können, die es nicht bezweckt und die gleichheitsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind.
Im Folgenden eine Übersicht über im November veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht):
I. BGH, Beschluss vom 7. August 2014 – 3 StR 105/14
An einem unmittelbaren Ansetzen im Sinne des § 22 StGB kann es ausnahmsweise – trotz der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals – fehlen, wenn der Täter damit noch nicht zu der die Strafbarkeit begründenden eigentlichen Rechtsverletzung ansetzt. Dies kann bei einem bandenmäßigen Einbrechen in einen Geschäftsraum zum Stehlen (schwerer Diebstahl nach § 244a Abs. 1 StGB) etwa dann der Fall sein, wenn der Täter nicht gleichzeitig mit seiner Handlung zur Verwirklichung des Grunddeliktes ansetzt, weil er nach dem Einbruch eine planmäßige Pause einlegt, um später zurückzukehren, um den in den Räumlichkeiten befindlichen Tresor aufzubrechen.
II. BGH, Beschluss vom 11. September 2014 – 4 ARs 12/14
Der 4. Strafsenat des BGH hält auf den Anfragebeschluss des 2. Senats vom 28. Januar 2014 – 2 StR 495/12 – (vgl. § 132 Abs. 3 S. 1 GVG) daran fest, dass eine Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei zulässig ist. Die Wahlfeststellung verstößt danach nicht gegen das Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 Abs. 2 GG. Denn der Umstand, dass bei einer Verurteilung auf der Grundlage einer sog. echten Wahlfeststellung nicht feststeht, welcher der alternativ in Betracht kommenden Straftatbestände verletzt worden ist, ändere nichts daran, dass die maßgeblichen strafbewehrten Verbote für den Normadressaten in Tragweite und Anwendungsbereich erkennbar waren. Zudem darf ein Angeklagter im Fall einer echten Wahlfeststellung nur verurteilt werden, wenn die nach der Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten alternativ in Betracht kommenden Sachverhalte jeweils einen (anderen) Straftatbestand vollständig erfüllen und andere Sachverhaltsalternativen sicher ausscheiden, sodass auch gewährleistet bleibe, dass nur der Gesetzgeber über die Strafbarkeit entscheidet.
III. BGH, Beschluss vom 16. September 2014 – 3 StR 373/14
Der Täter, der einer weiteren Person dabei hilft, den Gewahrsam an einem allein von dieser durch das Einstecken in einen Jutebeutel erlangten Notebook gegen den Eigentümer durch Schläge zu verteidigen, begeht nicht selbst einen räuberischen Diebstahl, wenn er nicht Mittäter der vorherigen Tat gewesen ist und daher nicht die von der Vorschrift des § 252 StGB verlangte Besitzerhaltungsabsicht hat.
IV. BGH, Beschluss vom 17. September 2014 – 1 StR 387/14
Eine Entziehung oder Vorenthaltung Minderjähriger durch Drohung mit einem empfindlichen Übel (§ 235 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 StGB) liegt nicht nur dann vor, wenn das Kind mit dem vorgenannten Nötigungsmittel räumlich von einem Elternteil getrennt wird, sondern auch, wenn der geschädigte Elternteil durch ebendieses Nötigungsmittel (hier: Drohung mit dem Tode) von seinem Kind ferngehalten wird. Der vorgenannte Tatbestand kann jedenfalls dann tateinheitlich mit einer Nötigung (§ 240 StGB) zusammentreffen, die nicht im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurücktritt, wenn der Täter ein über die Kindesentziehung hinausgehenden Zweck verfolgt (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
V. BGH, Urteil vom 8. Oktober 2014 – 5 StR 395/14
Ein nicht beendeter Diebstahl im Rahmen eines räuberischen Diebstahls gemäß § 252 StGB liegt solange vor, wie der Täter seinen Gewahrsam noch nicht gefestigt und gesichert hat. Dies betrifft auch die Situation, dass der Täter den unmittelbaren Herrschaftsbereich des Bestohlenen (hier: einen Supermarkt) zwar bereits verlassen hat, sich aber immer noch in Sichtweite des ihn alsbald verfolgenden Inhabers (hier: an einer Bushaltestelle) befindet, da dann noch das Risiko besteht, die Beute infolge der Nacheile wieder herausgeben zu müssen.
VI. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2014 – 4 StR 208/14
Eine „gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben“ im Sinne des Erpressungstatbestandes (§§ 253, 255 StGB) liegt auch bei einer Dauergefahr vor, d.h. einer solchen, die jederzeit – unmittelbar, alsbald oder auch später – in einen Schaden umschlagen kann. Daher ist in einem Fall, in dem der Täter das ihm bekannte Opfer mit einem Messer bedroht, nicht entscheidend, ob er damit rechnet, sofort die von ihm verlangte Geldzahlung zu erhalten.
VII. BGH, Urteil vom 20. Oktober 2014 – 5 StR 380/14
Sonstige niedrige Beweggründe im Sinne des Mordtatbestandes (§ 211 Abs. 2, 1. Fallgruppe, Var. 4 StGB) können auch bei einem außergewöhnlich brutalen, eklatant menschenverachtenden äußeren Tatbild der Tötung vorliegen. Aus diesem muss ersichtlich werden, dass der Adressat des Angriffs nicht einmal mehr ansatzweise als Person, sondern nur noch wie ein beliebiges Objekt, mit dem man nach hemmungslosem Gutdünken verfahren kann, behandelt wurde, wobei ein Handeln des Täters mit dolus eventualis hinsichtlich der Tötung seines Opfers ausreichend ist (Einzelheiten des Geschehens s. Urteil).
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Zuletzt noch zwei strafprozessuale Entscheidungen des BGH, zum einen zur Pflicht der staatlichen Behörden, bereits im Ermittlungsverfahren dem Beschuldigten einen Verteidiger zu bestellen, zum anderen zum Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots nach § 136a StPO:
VIII. BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2014 – 5 StR 176/14
Es besteht ohne Besonderheiten des Einzelfalls keine Pflicht dem Beschuldigten stets bereits frühzeitig im Ermittlungsverfahren, etwa beginnend mit dem Verdacht eines (auch schweren) Verbrechens, einen Verteidiger zu bestellen, was auch dann gilt, wenn ein Haftbefehl besteht. Denn der Gesetzgeber hat den Zeitpunkt der rechtlich zwingenden Bestellung eines Pflichtverteidigers in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO in Kenntnis der bestehenden Rechtsprechung bewusst (erst) auf den Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft festgelegt (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
IX. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 – 5 StR 296/14
Eine die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten beeinträchtigende Ermüdung im Sinne des § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO liegt regelmäßig dann vor, wenn dieser mindestens 38 Stunden nicht geschlafen hatte und anschließend einer konfrontativen Befragung durch die Polizei ausgesetzt wird (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
Im Folgenden eine Übersicht über im Oktober veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht):
I. BGH, Urteil vom 20. August 2014 – 2 StR 605/13
Ob im Rahmen der Frage eines Heimtückemordes (§ 211 StGB) die Arglosigkeit des Opfers auch dann ausgeschlossen ist, wenn die Kontrahenten ausdrücklich oder zumindest konkludent einen Faustkampf ohne Waffen verabredet haben, aber der Täter abredewidrig und überraschend mit Tötungsvorsatz eine Waffe einsetzt, kann offen gelassen werden, wenn dem Täter aufgrund einer Persönlichkeitsstörung sowie drogen- und alkoholbedingter Enthemmung jedenfalls nicht bewusst gewesen ist, einen durch Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen.
II. BGH, Beschluss vom 21. August 2014 – 3 StR 203/14
Fährt die Täterin den Mitangeklagten nach vorheriger Ankündigung, dieser werde ihren Vater töten, mit ihrem Auto zum Tatort und unternimmt sie dann nichts, um den Mitangeklagten von seinem Tatplan abzuhalten, liegt ein Töten durch Unterlassen vor, bei dem die Garantenstellung aufgrund eines vorangehenden, gefahrerhöhenden Vorverhaltens besteht.
III. BGH, Urteil vom 4. September 2014 – 4 StR 473/13
1. Hat es der hierfür verantwortliche Polizeibeamte unterlassen nach einer ohne richterliche Entscheidung erfolgten Ingewahrsamnahme oder Festnahme, an der er selbst nicht beteiligt war, die für die Fortdauer der Freiheitsentziehung erforderliche unverzügliche Vorführung beim Richter vorzunehmen bzw. die für sie gebotene richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen, ist dies geeignet den Vorwurf der Freiheitsberaubung durch Unterlassen zu begründen.
2. Jedoch entfällt die Kausalität eines solchen Unterlassens jedenfalls dann, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der zuständige Richter bei unverzüglicher Vorführung und rechtmäßiger Entscheidung – unter Ausschöpfung ihm zustehender Beurteilungsspielräume zugunsten des Angeklagten – die Fortdauer der Freiheitsentziehung angeordnet hätte (Fall „Oury Jalloh“; Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung, jedoch nicht wegen Freiheitsberaubung mit Todesfolge [§ 239 Abs. 4 StGB]; Leitsätze des Gerichts; zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
IV. BGH, Urteil vom 25. September 2014 – 4 StR 586/13
§ 4a Abs. 2 Nr. 1 RVG begründet kraft Gesetzes eine Garantenstellung des Rechtsanwalts, der vor Abschluss einer Erfolgshonorarvereinbarung seinen Mandanten über die voraussichtliche gesetzliche Vergütung – als verlässlicher und transparenter Vergleichsmaßstab – aufzuklären hat. Unterlässt er dies, macht er sich gemäß §§ 263 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB wegen Betruges durch Unterlassen strafbar, wenn der Mandant daraufhin irrig annimmt, es gäbe zu der aufgezeigten Möglichkeit der Abrechnung keine Alternative (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
– – –
Zum Schluss noch eine prozessuale Entscheidung zur Reichweite der Mitteilungspflicht im Hinblick auf Verständigungsgespräche nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO:
V. BGH, Beschluss vom 29. Juli 2014 – 4 StR 126/14
An der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO über Verständigungserörterungen im Sinne des §§ 202a, 212 StPO im Zwischenverfahren ändert sich auch durch die zwischen dem Vorgespräch und der Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgte vollständige Neubesetzung der Strafkammer nichts. Schon aus dem Wortlaut des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO ergeben sich keine Hinweise darauf, dass Verständigungsgespräche, die mit dem Gericht in anderer Besetzung geführt worden sind, nicht von der Mitteilungspflicht erfasst wären. Ein Wechsel der Gerichtsbesetzung im Zeitraum zwischen Eingang der Anklage und Eröffnung des Hauptverfahrens ist gesetzlich zulässig und insbesondere bei länger andauernden Zwischenverfahren keine Seltenheit. Schon im Hinblick auf die Regelung des § 76 Abs. 2 Satz 4 GVG (reduzierte Besetzung der Strafkammern) und im Hinblick auf die fehlende Beteiligung der Schöffen bei Vorgängen außerhalb der Hauptverhandlung (§76 Abs. 1 Satz 2 GVG) besteht zwischen der Besetzung der Kammer im Zwischenverfahren einerseits und im Hauptverfahren andererseits regelmäßig keine Identität.
Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag von Lars Stegemann veröffentlichen zu können. Der folgende Beitrag fasst die bisher in diesem Jahr zum Kaufrecht ergangenen examensrelevanten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zusammen und weist auf die jeweilige Prüfungsrelevanz hin. Der zweite Teil dieses Beitrages folgt in Kürze an dieser Stelle.
Beweislastumkehr für Mangelursache beim Verbrauchsgüterkauf
BGH Urteil vom 15.1.2014, VIII ZR 70/13, NJW 2014, 1086
Leitsätze:
Zur Beweislastumkehr hinsichtlich eines latenten Mangels beim Verbrauchsgüterkauf (hier: Vorschädigung der Sehnen eines Pferdes als Ursache einer akuten Verletzung).
Entscheidungsinhalt:
Der Bundesgerichtshof bestätigt in dieser Entscheidung seine Rechtsprechung[1] zur Beweislastumkehr im Rahmen des Verbrauchsgüterkaufes nach § 476 BGB. Danach wird grundsätzlich vermutet, sofern sich innerhalb von sechs Monaten nach Gefahrenübergang ein Sachmangel zeigt, dass die Sache bereits bei Gefahrenübergang mangelhaft war. Die Parteien stritten in dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Rechtsstreit über die Mangelhaftigkeit eines verkauften Pferdes (§§ 433, 434, 474 I, 90a BGB).
Der der Entscheidung zu Grunde liegende Streit dürfte bekannt sein. Der Bundesgerichtshof geht davon aus, dass die Vermutung des § 476 BGB nur in zeitlicher Hinsicht wirkt – es wird also nur vermutet, dass der konkret sich zeigende Mangel bei Gefahrenübergang vorhanden war. So führt er in der Entscheidung aus: „Beruft sich der Käufer […] darauf, dass der nach Gefahrübergang sichtbar gewordene – akute – Mangel auf einer Ursache beruhe, die ihrerseits einen vertragswidrigen Zustand darstelle, so muss er dies beweisen. […]; ob hinsichtlich einer solchen Ursache ein Sachmangel vorliegt, hat […] der Kläger zu beweisen […]. Beweist der Käufer, dass der sichtbar gewordene Mangel auf einem – latenten – Mangel beruht, so greift zu Gunsten des Käufers auch insoweit die Vermutung des § 476 BGB ein, dass dieser – latente – Mangel bereits bei Gefahrenübergang bestand […].“[2]
Demgegenüber entnimmt die wohl herrschende Lehre der Norm eine weitergehende Wirkung. Danach wird über diese zeitliche Komponente hinaus vermutet, dass ein sich nach Gefahrenübergang zeigender Sachmangel auf einem schon bei Gefahrenübergang vorhandenen „Grundmangel“ beruht.[3] Dafür spricht nicht nur der Wortlaut des § 476 BGB, sondern auch der Zweck der Vorschrift. Vor allem bei technischen Geräten würde der § 476 BGB dem Verbraucher sonst in den allermeisten Fällen nicht helfen.[4]
Im vorliegenden Fall gelang dem Käufer aber auch der Nachweis des Grundmangels, sodass § 476 BGB insofern eingriff. Der BGH nahm auch zu dem Streit nicht weiter Stellung,[5] ebenso wenig zieht er auch weiterhin eine Vorlage an den BGH in Erwägung.[6]
Interessant sind auch die kurzen Ausführungen des Senats zu Beginn der Entscheidung, der § 446 BGB (und damit wohl auch § 447 BGB) auch im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufes für abdingbar erklärt.[7] Im vorliegenden Fall hatten die Parteien den Gefahrenübergang auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorverlegt.
Prüfungsrelevanz:
Der Streit um die Reichweite der Vermutung des § 476 BGB ist prüfungsrelevant, die Entscheidung bietet somit Anlass, sich erneut mit ihm zu beschäftigen, auch wenn der BGH nur in aller Kürze seine Rechtsprechung bestätigt. Prüfungsstandort hierfür ist die Mangelhaftigkeit der Kaufsache, die für die in § 437 BGB genannten Rechtsbehelfe des Gewährleistungsrechts nötig ist. Lässt sich nicht aufklären, ob die Kaufsache bereits bei Gefahrenübergang[8] mangelhaft war, ist auf § 476 BGB einzugehen, sofern ein Verbrauchsgüterkauf vorliegt (zu denken ist hier auch stets an § 478 Abs. 3 BGB). Insofern enthält die Norm eine Abweichung von der Grundregel des § 363 BGB. Im Rahmen dessen sollte man nun auch bei entsprechenden Hinweisen im Sachverhalt an die Abdingbarkeit des § 446 BGB denken.
Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung und deren Auswirkungen auf den Schadensersatz statt der Leistung
BGH Urteil vom 14.4.2014, V ZR 275/12, BeckRS 2014, 12422
Leitsätze:
- Stellen sich die zur Mängelbeseitigung erforderlichen Kosten als unverhältnismäßig dar, so kann der Käufer von dem Verkäufer nur Ersatz des mangelbedingten Minderwerts der Sache verlangen.
- Ob die Kosten unverhältnismäßig sind, ist aufgrund einer umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der in § 439 Abs. 3 BGB genannten Kriterien festzustellen.
- Bei Grundstückskaufverträgen kann als erster Anhaltspunkt davon ausgegangen werden, dass die Kosten der Mängelbeseitigung unverhältnismäßig sind, wenn sie entweder den Verkehrswert des Grundstücks in mangelfreiem Zustand oder 200% des mangelbedingten Minderwerts übersteigen.
- Für die Beurteilung der Unverhältnismäßigkeit der Kosten kommt es auf den Beginn der Mängelbeseitigung durch den Käufer an. Stellt sich während deren Ausführung heraus, dass die Kosten höher als erwartet sind, steht dies einer Ersatzpflicht nur entgegen, wenn ein wirtschaftlich denkender Käufer die Arbeiten auch unter Berücksichtigung der bereits angefallenen Kosten nicht fortführen würde bzw. fortgeführt hätte.
Entscheidungsinhalt:
Der BGH überträgt die Grundsätze einer im vorletzten Jahr zum Werkvertragsrecht ergangenen Entscheidung auf das Kaufrecht.[9] Dabei geht es im Schwerpunkt um die Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung und deren Auswirkungen auf den Schadensersatz statt der Leistung. Da es sich nicht um einen Verbrauchsgüterkauf handelte (schon keine bewegliche Sache im Sinne des § 474 Abs. 1 BGB, sondern ein Grundstückskauf), konnte der BGH vorliegend eine absolute Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung gem. § 439 Abs. 3 BGB annehmen und gelangte so zu den zu erörternden Problemen.[10] Die prozessrechtlichen Ausführungen zu Beginn der Entscheidung werden hier nicht weiter vertieft, ebenso bleiben die Ausführungen zur Kausalität außer Betracht.[11]
Nach kurzen Ausführungen zur Vorteilsausgleichung und zum Abzug „neu für alt“ – also Ausführungen zum Schadensumfang – geht der Senat auf den eigentlichen Schwerpunkt des Urteils ein, nämlich die Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung und die Folgen für den Umfang des Schadensersatzes. Während die Nacherfüllung in Form der Nachlieferung im vorliegenden Fall unmöglich war,[12] kam für die Nachbesserung eine absolute Unverhältnismäßigkeit nach § 439 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 BGB in Betracht. Hier ist zu begrüßen, dass der Senat, obwohl er wiederum die Relevanz der jeweiligen Umstände des Einzelfalls betont, zumindest sachlich beschränkt auf Grundstückskaufverträge feste Prozentgrenzen als Anhaltspunkt nennt. Entsprechend dem Wortlaut des § 439 Abs. 3 S. 2 BGB wird ausgeführt, dass § 439 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 BGB eingreift, wenn die Kosten „entweder den Verkehrswert des Grundstücks in mangelfreiem Zustand oder 200% des mangelbedingten Minderwerts übersteigen“[13]. Es bleibt angesichts der Vielfalt der hierzu vertretenen Prozentgrenzen zu hoffen, dass der BGH diese Richtwerte auch auf andere Fälle überträgt.
Sofern der Verkäufer die mögliche Art der Nacherfüllung zu Recht gem. § 439 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 BGB verweigert, steht dem Käufer ohne weitere Fristsetzung ein Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung zu. Das ergibt sich zwar nicht direkt, aber aus dem Sinn und Zweck des § 440 S. 1 Var. 2 BGB, die in solchen Fällen sinnlose Nachfristsetzung für entbehrlich zu erklären.[14] Der Senat geht in der Entscheidung ohne Diskussion von der Anspruchsgrundlage der §§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1, 281 Abs. 1 S. 1 BGB aus, wie es auch § 440 S. 1 Var. 2 BGB offensichtlich vorsieht.[15] Dennoch bestehen Bedenken hinsichtlich dieser Anspruchsgrundlage und auch ob dies im Sinne des Gesetzgebers ist,[16] doch ist angesichts des geringen Echos auf diesen Punkt der Entscheidung hier die weitere Diskussion abzuwarten.[17]
Neues bringt die Entscheidung insofern auch hier erst wieder bei den Ausführungen zum Umfang des Schadensersatzes statt der Leistung. Grundsätzlich kann im Falle des kleinen Schadensersatzes statt der Leistung der Käufer zwischen dem Ausgleich des mangelbedingten Minderwerts und dem Ersatz der Mängelbeseitigungskosten wählen.[18] Verweigert der Verkäufer allerdings die Nachbesserung wegen Unverhältnismäßigkeit der Kosten, so würde es dem Schutzzweck des § 439 Abs. 3 BGB widersprechen, wenn der Käufer nun über den Umweg des Schadensersatzes diese Kosten dennoch vom Verkäufer ersetzt verlangen könnte. Ein eventuelles Vertretenmüssen hat insofern nur Auswirkungen auf die im Rahmen des § 439 Abs. 3 BGB relevante Grenze dessen, was dem Verkäufer zumutbar ist.[19] Der BGH stützt dies auf eine analoge Anwendung des § 251 Abs. 2 S. 1 BGB und zieht im Rahmen dessen die Werte zu § 439 Abs. 3 BGB heran.[20] Einer Analogie bedarf es deshalb, weil nach herrschender, aber nicht unbestrittener Auffassung beim Schadensersatz statt der Leistung die Naturalrestitution ausscheidet – diese bestünde gerade in der Nacherfüllung. Stattdessen ist stets Schadensersatz in Geld zu leisten, die Wiederherstellung kann entsprechend nicht unverhältnismäßig im Sinne des § 251 Abs. 2 S. 1 BGB sein.[21]
Prüfungsrelevanz:
Würde man die Entscheidung in eine Klausur übersetzen, würde der Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung im Zentrum stehen. Der BGH hat sich hier für die §§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1, 281 Abs. 1 S. 1 BGB entschieden; das sollte man angesichts von § 440 S. 1 Var. 2 BGB vorbehaltlich weiterer Diskussionen in der Literatur auch ohne größere Erörterungen tun. Die Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung, die der BGH erst im Rahmen des Schadens anspricht, wären hier bereits im Rahmen der Fristsetzung zu erläutern, sofern eine solche nicht ohnehin gesetzt wurde und verstrichen ist. Im Rahmen des Schadens bzw. der Schadensberechnung ist dann auf die analoge Anwendung des § 251 Abs. 2 S. 1 BGB einzugehen.
Erheblicher Mangel bei Mangelbeseitigungskosten von mehr als fünf Prozent des Kaufpreises
BGH Urteil vom 28.5.2014, VIII ZR 94/13, BeckRS 2014, 11378
Leitsätze:
- Die Beurteilung der Frage, ob eine Pflichtverletzung unerheblich im Sinne des § 323 Abs. 5 S. 2 BGB ist, erfordert eine umfassende Interessenabwägung auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls (Bestätigung der Senatsurteile vom 17. Februar 2010 – VIII ZR 70/07, NJW-RR 2010, 1289 Rn. 23; vom 6. Februar 2013 – VIII ZR 374/11, NJW 2013, 1365 Rn. 16).
- Bei einem behebbaren Mangel ist im Rahmen dieser Interessenabwägung von einer Geringfügigkeit des Mangels und damit von einer Unerheblichkeit der Pflichtverletzung gem. § 323 Abs. 5 S. 2 BGB jedenfalls in der Regel nicht mehr auszugehen, wenn der Mangelbeseitigungsaufwand einen Betrag von fünf Prozent des Kaufpreises übersteigt.
Entscheidungsinhalt:
In dieser Entscheidung setzt sich der BGH damit auseinander, wann eine Pflichtverletzung im Rahmen der §§ 437 Nr. 2, 323 Abs. 5 S. 2 BGB und §§ 437 Nr. 3, 281 Abs. 1 S. 3 BGB unerheblich ist, sodass Rücktritt und Schadensersatz statt der ganzen Leistung nicht in Betracht kommen. Zum ersten Mal äußert sich der BGH zu einer konkreten Prozent-Grenze, ab der bei einem behebbaren Mangel im Regelfall von einer Erheblichkeit ausgegangen werden kann. Zuvor hatte er nur entschieden, dass jedenfalls bei Mangelbeseitigungskosten von unter 1 % des Kaufpreises von einer Unerheblichkeit auszugehen ist und diese Grenze auch auf einen merkantilen Minderwert übertragen.[22]
Der Senat setzt sich ausführlich mit den zahlreichen in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansichten zu Prozent-Grenzen auseinander, bezieht in seine Auslegung die Gesetzesbegründung und rechtsvergleichend auch die entsprechende Regelung im CISG mit ein. Diese Ausführungen können in einer Prüfung regelmäßig nicht erwartet werden. Nur einige Punkte aus der Entscheidung verdienen eine genauere Betrachtung. So betont der BGH auch hier wieder die Einzelfallentscheidung und erklärt eine umfassende Interessenabwägung für maßgeblich. Insgesamt kommt er zu dem Schluss, „[…] dass bei einem behebbaren Mangel im Rahmen der nach den Umständen des Einzelfalls vorzunehmenden Interessenabwägung von einer Unerheblichkeit der Pflichtverletzung gem. § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB in der Regel dann nicht mehr auszugehen ist, wenn der Mängelbeseitigungsaufwand mehr als fünf Prozent des Kaufpreises beträgt.“[23]
Der BGH hält damit einerseits an seiner vorherigen Rechtsprechung fest, bei behebbaren Mängeln nicht auf die Funktionsbeeinträchtigung, sondern nur auf den Mängelbeseitigungsaufwand abzustellen.[24] Andererseits stellt er ausdrücklich nur auf „die in der Mangelhaftigkeit der Kaufsache liegende Pflichtverletzung“[25] ab, wobei fraglich ist, ob dies wirklich als Abkehr von seiner umstrittenen Rechtsprechung anzusehen ist, hier auch eine vorvertragliche Pflichtverletzung in Gestalt einer arglistigen Täuschung einzubeziehen.[26] Der BGH begründet diese Grenze wie folgt: „Bei behebbaren Sachmängeln unterhalb der genannten Schwelle wird es dem Käufer in der Regel zuzumuten sein, am Vertrag festzuhalten und sich – nach erfolglosem Nachbesserungsverlangen – mit einer Minderung des Kaufpreises oder mit der Geltendmachung des kleinen Schadensersatzes zu begnügen. Den Verkäufer wiederum vermag diese Lösung in ausreichendem Maße vor den für ihn wirtschaftlich meist nachteiligen Folgen eines Rücktritts des Käufers wegen geringfügiger Mängel zu schützen […]“.[27]
Prüfungsrelevanz
Das vorliegende Problem kann sowohl im Rahmen eines Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung (§§ 281 Abs. 1 S. 3, 283 S. 2, 311a Abs. 2 S. 3 BGB) als auch im Rahmen eines Rücktritts (§§ 323 Abs. 5 S. 2, 326 Abs. 5 Hs. 2 BGB) bzw. der daraus resultierenden Ansprüche begegnen. Es bietet sich an, in problematischen Fällen kurz darzustellen, dass diesen Vorschriften eine Abwägung zwischen den Interessen des Käufers und Verkäufers zu Grunde liegt, die nur im konkreten Einzelfall entschieden werden kann, um dann gegebenenfalls auf die vom BGH aufgestellte Grenze zurückzukommen. Bekannt sein sollte, dass eine Beschaffenheitsvereinbarung und erst recht eine übernommene Garantie für eine bestimmte Beschaffenheit ebenfalls die Erheblichkeit indizieren.[28] Ein wenig versteckt kann einem das Problem im Rahmen der Frage begegnen, ob der Käufer eine mangelhafte Sache zurückweisen durfte, da der BGH dieses Recht dem Käufer zumindest bei einem erheblichen Mangel im Sinne der genannten Vorschriften und einem damit einhergehendem Rücktrittsrecht zugesteht.[29]
[1] BGH, NJW 2004, 2299; BGH, NJW 2005, 3490; BGH, NJW 2006, 434.
[2] BGH, NJW 2014, 1086 (1087); das Berufungsgericht wollte die Reichweite der Vermutung gar auf den akuten Mangel beschränkt sehen, § 476 BGB also nicht einmal in zeitlicher Hinsicht auf den latenten Mangel anwenden.
[3] Siehe nur S. Lorenz in: MüKo BGB, 6. Auflage 2012, § 476 Rn. 25; ausführlich auch Huber/Bach, SchuldR BT I, 4. Auflage 2013, Rn. 278; Gsell, JuS 2005, 967 (970 ff.).
[4] So auch Faust in: BeckOK BGB, 32. Edition 2014, § 476 Rn. 8 ff.
[5] Eine kurze Auseinandersetzung mit der Gegenansicht findet sich in BGH, NJW 2006, 434.
[6] Kritisch dazu Faust in: BeckOK BGB, § 476 Rn. 12.
[7] BGH, NJW 2014, 1086 (1086); so wohl auch die h.L., dazu S. Lorenz in: MüKo BGB, § 475, Rn. 5 m.w.N.: § 446 BGB ist in der Norm nicht genannt, zudem enthält die RL keine entsprechenden Vorgaben, auf deren Rahmen der Gesetzgeber aber die zwingenden Regelungen beschränken wollte.
[8] Dies ist nach ganz h.M. der für die Mangelhaftigkeit der Kaufsache relevante Zeitpunkt und der Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs des Gewährleistungsrechts, siehe ausführlich Huber/Bach, SchuldR BT I, Rn. 62 f., 85 ff.
[9] BGH, NJW 2013, 370.
[10] Die hierzu ergangene Rechtsprechung sollte unbedingt bekannt sein, siehe dazu unseren Beitrag https://www.juraexamen.info/eugh-ausbau-mangelhafter-und-neu-einbau-mangelfreier-fliesen-von-nacherfullung-erfasst/.
[11] Siehe dazu die Rn. 7-18 und 27-30 der Entscheidung.
[12] Es handelte sich ganz offensichtlich um eine Stückschuld, siehe zu den Voraussetzungen, unter denen dennoch eine Nachlieferung in Betracht kommt, BGH, NJW 2006, 2839.
[13] BGH, BeckRS 2014, 12422 Rn. 41 ff., wobei der BGH die Verkehrswert-Grenze mit der Rechtsprechung zu § 251 II 1 BGB bei Grundstücken begründet; offengelassen noch in BGH, NJW 2009, 1660 (1661); eine Übersicht zu den verschiedenen Ansichten liefert Faust in: BeckOK BGB, § 439 Rn. 49 f.
[14] Der Wortlaut erfasst dies streng genommen nicht, siehe aber nur H. P. Westermann in: MüKo BGB, § 440 Rn. 6.
[15] BGH, BeckRS 2014, 12422 Rn. 35; so auch Pammler in: jurisPK BGB, 6. Auflage 2012, § 440 Rn. 65; unklar Weidenkaff in: Palandt, 70. Auflage 2011, § 439 Rn. 21.
[16] Siehe zu den Bedenken und der Gesetzesbegründung ausführlich Jaensch, NJW 2013, 1121, bezogen auf die zuvor zum Werkvertragsrecht ergangene Entscheidung; ebenso bereits Jaensch, JURA 2005, 649 (652 f.); das hat zahlreiche Auswirkungen, insbesondere auf den Bezugspunkt des Vertretenmüssens sowie den relevanten Zeitpunkt, ab dem die Schäden dem Schadensersatz statt der Leistung zuzurechnen sind.
[17] Vorsichtig die Anmerkung von S. Lorenz hierzu unter https://lorenz.userweb.mwn.de/urteile/viizr179_11.htm#8, Abruf vom 29.09.2014.
[18] BGH, BeckRS 2014, 12422, Rn. 33.
[19] Zu den umstrittenen Kriterien im Rahmen des § 439 Abs. 3 BGB Faust in: BeckOK BGB, § 439 Rn. 49 m.w.N.
[20] BGH, BeckRS 2014, 12422, Rn. 36, 43 ff.
[21] Ausführlich Riehm, JuS 2014, 833 (834).
[22] BGH, NJW 2008, 1517 (1519): In Abweichung von einer vorherigen Entscheidung sind unbehebbare Mängel nicht stets als erheblich anzusehen; BGH, NJW 2011, 2872 (2874): 1 %-Grenze und alleiniges Abstellen auf Beseitigungsaufwand, außer der Mangel ist nicht oder nur mit hohen Kosten behebbar.
[23] BGH, BeckRS 2014, 11378, Rn. 30.
[24] Sehr deutlich bereits BGH, NJW 2011, 2872 (2874).
[25] BGH, BeckRS 2014, 11378, Rn. 16.
[26] Grundlegend BGH, NJW 2006, 1960 (1961); zu recht kritisch Lorenz, NJW 2006, 1925 (1926); zustimmend hingegen Faust in: BeckOK BGB, § 437 Rn. 27 m.w.N.
[27] BGH, BeckRS 2014, 11378, Rn. 38. Lesenswert auch die Ausführungen in den Rn 31, 33, 37, ebenso Rn. 44 mit Bezug zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.
[28] BGH, NJW-RR 2010, 1289 (1291); Huber/Bach, SchuldR BT I, Rn. 157.
[29] BGH, NJW-RR 2010, 1289 (1291); ebenso BGH, NJW 2013, 1365 (1366); in beiden Entscheidungen für Fälle ohne Rücktrittsrecht wegen Unerheblichkeit offen gelassen; ausführlich dazu Jud, JuS 2004, 841.
Zum Ende des 3. Quartals des Jahres 2014 stellen wir Euch mit diesem Rechtsprechungsüberblick wieder eine Reihe von bislang veröffentlichten Entscheidungen vor, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten drei Monaten getroffen hat und die Anlass zum aufmerksamen Studieren geben sollten. Insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung zur Mündlichen Prüfung ist ein aktueller Kenntnisstand der Rechtsprechung – nicht nur der des Verfassungsgerichtes – unerlässlich. Daneben fließen Entscheidungen dieses hohen Gerichtes regelmäßig in Anfangssemester- oder Examensklausuren ein.
Daher wird in diesem Beitrag, anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen oder kurzen Ausführungen, eine überblicksartige Auswahl aktueller Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dargestellt, welche Ihr nachschlagen solltet.
BVerfG v. 20.06.2014 – 1 BvR 980/13
Mit diesem Beschluss wurde der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers stattgegeben, die sich gegen die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einem Bußgeld von 150 € wegen Verstoßes gegen eine Friedhofssatzung und Belästigung der Allgemeinheit richtet. Die betreffende Entscheidung des Amtsgerichts verkenne den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit. Insbesondere sei nicht berücksichtigt worden, dass der Schutzbereich nicht von einer Anmeldung oder Genehmigung der Versammlung abhängig sei und dass auf dem Friedhof wegen der Gedenkveranstaltung zu dieser Zeit ein über privates Gedenken hinausgehender kommunikativer Verkehr eröffnet war. Zudem fehle es an der verfassungsrechtlich notwendigen Abwägung, ob eine Verurteilung des Beschwerdeführers mit Blick auf die Versammlungsfreiheit gerechtfertigt sei (vgl. Pressemitteilung).
BVerfG v. 24.06.2014 – 1 BvR 2926/13
Gegenstand dieser Verfassungsbeschwerde war die Frage, inwieweit Großeltern in ihrem Interesse geschützt sind zum Vormund bzw. Ergänzungspfleger ihres Enkelkindes bestellt zu werden (siehe auch die Pressemitteilung). Dazu folgende Leitsätze:
1. Der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG schließt familiäre Bindungen zwischen nahen Verwandten ein, insbesondere zwischen Großeltern und ihrem Enkelkind.
2. Der grundrechtliche Schutz umfasst das Recht naher Verwandter, bei der Entscheidung über die Auswahl eines Vormunds oder Ergänzungspflegers in Betracht gezogen zu werden. Ihnen kommt der Vorrang gegenüber nicht verwandten Personen zu, sofern nicht im Einzelfall konkrete Erkenntnisse darüber bestehen, dass dem Wohl des Kindes durch die Auswahl einer dritten Person besser gedient ist.
3. Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Auswahlentscheidung nach § 1779 BGB entsprechend allgemeinen Grundsätzen darauf, ob sie Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Grundrechts naher Verwandter beruhen.
BVerfG v. 26.06.2014 – 1 BvR 2135/09
Auch dieser Beschluss betraf die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer Geldbuße wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Dazu sei auf die Pressemitteilung verwiesen:
Für einen Aufzug am 1. Mai hatte die Versammlungsbehörde die Benutzung von Lautsprechern nur für Ansprachen im Zusammenhang mit dem Versammlungsthema sowie für Ordnungsdurchsagen zugelassen. Die Beschwerdeführerin benutzte einen Lautsprecher für die Durchsagen „Bullen raus aus der Versammlung!“ und „Zivile Bullen raus aus der Versammlung – und zwar sofort!“. Das Urteil des Amtsgerichts, mit dem ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen die versammlungsrechtliche Auflage verhängt wurde, verkennt den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit. Dieser umfasst auch die Äußerung des versammlungsbezogenen Anliegens, dass nur die Versammlung unterstützende Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des Aufzugs bewegen sollen.
Zum Versammlungsrecht solltet ihr euch zudem den Artikel vom 08.08.2014 ansehen.
BVerfG v. 27.06.2014 – 2 BvR 429/12 u.a.
Mit diesem Beschluss führte das BVerfG aus, dass der Straftatbestand des § 353d Nr. 3 StGB, der es u.a. verbietet eine Anklageschrift im Wortlaut öffentlich mitzuteilen, bevor diese in der öffentlichen Verhandlung erörtert wurde, mit dem GG vereinbar sei (vgl. Pressemitteilung).
BVerfG v. 30.06.2014 – 2 BvR 792/11
Der Beschwerdeführer wandte sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Verwerfung einer strafprozessualen Revision durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO und rügte, dass die Entscheidung ohne Durchführung einer Revisionshauptverhandlung ergangen sei und keine Begründung aufweise. Hierdurch sah er sein Recht auf öffentliche Verhandlung, sein Recht sich selbst zu verteidigen, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, seinen Anspruch auf prozessuale Waffengleichheit und die Pflicht zur Begründung gerichtlicher Entscheidungen verletzt (Art. 2 II 2 i.V.m. Art. 104 I GG, Art. 20 III und Art. 1 GG). Als Maßstab für die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes sei insoweit Art. 6 EMRK mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR heranzuziehen (siehe auch die Pressemitteilung).
BVerfG v. 15.07.2014 – 2 BvE 2/14
Die Antragstellerin sah sich durch die folgende Äußerung der Antragsgegnerin im Vorfeld der Landtagswahl in Thüringen vom 14.09.2014 in ihrem Recht auf Chancengleichheit im Wettbewerb der politischen Parteien (Art. 21 I GG) verletzt: „Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun, dass es erst gar nicht so weit kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer eins muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt.“ Das BVerfG lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung jedoch ab (siehe auch die Pressemitteilung).
BVerfG v. 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 u.a.
Die konkreten Normenkontrollverfahren betrafen die Frage, ob das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (BGBl I S. 453) den Anforderungen aus Art. 1 I i.V.m. Art. 20 I GG auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gerecht werde. Im Blickpunkt stehen die Leistungen für den Regelbedarf für Alleinstehende, für zusammenlebende Volljährige sowie für Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren und für Kinder bis zu sechs Jahren. Neben der Pressemitteilung siehe dazu folgende Leitsätze:
1. Zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) dürfen die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden und muss die Höhe existenzsichernder Leistungen insgesamt tragfähig begründbar sein.
2. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der grundsätzlich zulässigen statistischen Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen nachträglich in Orientierung am Warenkorbmodell einzelne Positionen herauszunehmen. Der existenzsichernde Regelbedarf muss jedoch entweder insgesamt so bemessen sein, dass Unterdeckungen intern ausgeglichen oder durch Ansparen gedeckt werden können, oder ist durch zusätzliche Leistungsansprüche zu sichern.
BVerfG v. 15.08.2014 – 2 BvR 969/14
Die Verfassungsbeschwerde des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy gegen Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts Hannover nahm das BVerfG mit diesem Beschluss nicht zur Entscheidung an. Die angegriffenen Beschlüsse betrafen wiederum ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Besitzes kinderpornografischer Schriften und haben u.a. die Durchsuchung der Wohnungen, des Abgeordnetenbüros und weiterer Büroräume des Beschwerdeführers sowie die Beschlagnahme seiner Bundestags-E-Mail-Postfächer, der unter seiner Bundestagskennung gespeicherten Daten und zweier privater E-Mail-Postfächer zum Gegenstand (vgl. Pressemitteilung).
BVerfG v. 25.08.2014 – 2 BvR 2048/13
Mit diesem Beschluss führte das BVerfG aus, dass die gesetzlich vorgeschriebene Belehrung des Angeklagten im Rahmen einer Verständigung nicht nur vor seinem Geständnis, sondern bereits vor seiner Zustimmung zu der Verständigung erfolgen müsse. Dies folge aus dem Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass jede Person über ihre Mitwirkung im Strafverfahren frei entscheiden kann. Wird der Angeklagte erst nach seiner Zustimmung zu der Verständigung belehrt, beruhe sein Geständnis und das Strafurteil im Regelfall auf dieser Grundrechtsverletzung. Für eine anderweitige Beurteilung im Einzelfall müsse das Revisionsgericht konkrete Feststellungen treffen (vgl. Pressemitteilung).
BVerfG v. 26.08.2014 – 2 BvR 2400/13 u.a.
Dieser Beschluss des BVerfG betrifft ebenfalls die Verständigung innerhalb einer Verhandlung. Die 2. Kammer des Zweiten Senats führte dazu aus, dass das Gericht im Strafverfahren zu Beginn der Hauptverhandlung mitzuteilen habe, ob Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung stattgefunden haben. Auch eine Negativmitteilung, dass keine solchen Gespräche stattgefunden haben, sei diesbzgl. erforderlich (vgl. Pressemitteilung).
Im Folgenden eine Übersicht über im August veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2014 – 3 StR 60/14
Ein Habgiermord setzt nicht voraus, dass bei dem Täter ein unmittelbarer Vermögensvorteil eintritt. Daher ist dieses Mordmerkmal auch dann erfüllt, wenn der Täter seine Schwiegermutter umbringt, damit der Ehegatte das Erbe antreten kann, sofern er sich dadurch eine finanzielle Besserstellung der gesamten Familie verspricht.
II. BGH, Urteil vom 28. Mai 2014 – 2 StR 437/13
Eine Täuschungshandlung im Sinne des Betrugstatbestandes kann auch bei wahren Erklärungen vorliegen, wen der Täter die Unwahrheit zwar nicht expressis verbis zum Ausdruck bringt, sie aber durch sein Verhalten konkludent miterklärt. Ein solches Verhalten wird dann zur tatbestandlichen Täuschung, wenn der Täter die Eignung einer – inhaltlich richtigen – Erklärung, einen Irrtum hervorzurufen, planmäßig einsetzt und damit unter dem Anschein äußerlich verkehrsgerechten Verhaltens gezielt die Schädigung des Adressaten verfolgt, wenn also die Irrtumserregung nicht die bloße Folge, sondern Zweck der Handlung ist (vorliegend: schriftliches Angebot zur Aufnahme eines Unternehmens in eine Internet-Datenbank, welches nach der äußeren Form und Aufmachung indes den Eindruck erweckte, als handele es sich um eine Rechnung für die kurz vorher erfolgte Eintragung des betreffenden Unternehmens in das Handelsregister).
III. BGH, Beschluss vom 2. Juli 2014 – 5 StR 182/14
Einen Notar trifft als uanbhängigen Träger eines öffentlichen Amtes eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des Untreuetatbestandes. Er hat als unparteiischer Betreuer der an dem zu beurkundenden Rechtsgeschäft Beteiligten (§14 Abs. 1 Satz 2 BNotO) die Pflicht, deren Vermögensinteressen wahrzunehmen. Zwar erstreckt sich die Belehrungspflicht des Notars in der Regel nicht auf die wirtschaftlichen Folgen des zu beurkundenden Geschäftes. Jedoch besteht eine entsprechende Belehrungspflicht des Notars dann, wenn es nach den besonderen Umständen des Einzelfalles naheliegt, dass eine Schädigung eines Beteiligten eintreten kann, und der Notar nicht mit Sicherheit annehmen kann, dass sich der Gefährdete dieser Lage bewusst ist oder dass er dieses Risiko auch bei einer Belehrung auf sich nehmen würde (Einzelfall, in dem der beurkundende Notar aufgrund wiederholter Anfechtungs- und Widerrufsschreiben aus früheren Immobilienverträgen erkannt hatte, dass die Vermittler einer ihn stets beauftragenden Vertriebsgesellschaft eine unseriöse Überrumpelungstatktik anwandten und ihre Verkaufsmethoden betrügerisch ausgestaltet hatten).
IV. BGH, Beschluss vom 16. Juli 2014 – 5 ARs 39/14 sowie Beschluss vom 24. Juni 2014 – 1 ARs 14/14
Sowohl der 1. wie auch der 5. Senat halten an ihrer bisherigen Rechtsprechung zur Vereinbarkeit der unechten Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei mit Art. 103 Abs. 2 GG – keine Strafe ohne Gesetz – fest (vgl. hierzu die Anfrage des 2. Strafsenates vom 28. Januar 2014 gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG – 2 StR 495/12 –; Rechtsprechungsüberblick vom Juni 2014). Der Grundsatz „nulla poena sine lege“ werde nicht berührt oder gar verletzt, da durch die ungleichartige Wahlfeststellung weder gesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen abgeschwächt, noch ein neuer Tatbestand konstruiert werde. Auch auf wahldeutiger Grundlage erfolge die Verurteilung nur nach den vom Gesetzgeber bei der Begehung der Tat vorgesehenen Straftatbeständen, den in ihnen enthaltenen Merkmalen und Strafandrohungen. Für den Normadressaten sei damit jederzeit vorhersehbar, welches Verhalten strafbar ist und welches nicht.
V. BGH, Beschluss vom 22. Juli 2014 – 3 StR 314/14
Einem vollendeten Inverkehrbringen von Falschgeld nach § 147 StGB steht nicht entgegen, dass der Adressat des Falschgeldes dieses als solches erkennt und zurückweist. Denn der Begriff des Inverkehrbringens verlangt nur, dass der Täter das Falschgeld derart aus seiner eigenen Verfügungsgewalt entlässt, dass ein unbeteiligter Dritter tatsächlich in die Lage versetzt wird, sich dessen zu bemächtigen.
VI. BGH, Urteil vom 31. Juli 2014 – 4 StR 147/14
Es ist nicht widersprüchlich, wenn das Tatgericht bei einem Suizidversuch, bei dem der Täter mit seinem Pkw mit 90 km/h gegen einen Baum fährt, so dass die auf dem Beifahrersitz befindliche Ehefrau stirbt, zwar einen dolus eventualis im Hinblick auf den Tod der Ehefrau annimmt, aber einen Heimtückemord mangels Ausnutzens der Arglosigkeit des Opfers verneint. Denn es ist möglich, dass der Täter zu Wahrnehmungen zwar fähig war und er aufgrund dieser eine Entscheidung (billigendes Inkaufnehmen des Todes der Ehefrau) traf, ihm eine darüber hinausgehende „Bedeutungskenntnis“ aber gefehlt hat und er sich infolgedessen nicht bewusst gewesen ist, die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers auszunutzen.
– – –
Zum Schluss noch eine verfahrensrechtliche Entscheidung zur Mitteilung von Erörterungen zu einer Verständigung („Deal“) nach § 257c StPO:
VII. BGH, Urteil vom 5. Juni 2014 – 2 StR 381/13
Die Rüge eines Verstoßes gegen die Mitteilungs- und Dokumentationspflichten gemäß § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO setzt nicht voraus, dass der Verteidiger zuvor von dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht hat (Leitsatz des Gerichts; zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
Das AG München hat mit rechtskräftigem Urteil vom 26. Juni 2013 entscheiden, dass der Rücktritt von einem Mietvertrag über eine Ferienwohnung nur möglich ist, wenn zuvor eine Nachfrist zur Mängelbehebung gesetzt wurde (AZ 413 C 8060/13).
Die nachfolgenden Überlegungen des AG München bieten Gelegenheit dazu, die Systematik des Schuld- bzw. Mietrechts anhand einer neuartigen Fallkonstellation nachzuvollziehen.
Sachverhalt
Einer Münchenerin gehört ein Ferienhaus in Italien. Dieses vermietet sie über das Internet. Das Mietobjekt wird dort beschrieben als „romantisches Landhaus voller Atmosphäre in einem Naturparadies mit Meerblick“. Der Kläger mietet das Ferienhaus über die besagte Internetseite zu einem Mietpreis i. H. v. 1070 Euro für zwei Wochen an. Der Kläger ist jedoch bei Betreten des Ferienhauses mit dessen Zustand nicht einverstanden und teilt dies der Beklagten mit. Beschreibung und tatsächlicher Zustand des Mietobjektes würden wesentlich voneinander abweichen. Das Grundstück sei verwahrlost, während die Einrichtung teils veraltet und teils defekt sei. Die Münchenerin entgegnete, sie sei mit dem Saubermachen des Objektes noch nicht fertig und benötige noch etwas Zeit. Daraufhin kündigte der Kläger mündlich den Vertrag und reiste ab. Die bereits bezahlte Miete forderte er zurück.
Die Beklagte bestreitet im Nachhinein etwaige Abweichungen von Beschreibung und tatsächlichem Zustand des Hauses. Zudem sei ein gepflegtes Grundstück, welches das Haus umgibt, nicht vertraglich zugesichert worden. Bzgl. des inneren Zustandes des Objektes wiederholte sie ihre Äußerung, dass sie die Räumlichkeiten in kürzester Zeit hätte wieder in Ordnung bringen können.
Entscheidung
Das AG München wies die Klage auf Rückerstattung der bereits bezahlten Miete aus folgenden Gründen ab.
- Nach der Rechtsauffassung des Gerichts sei das Mietverhältnis nicht wirksam beendet worden, denn die mündliche Kündigung des Klägers sei unwirksam. Der Kläger hätte, um das Formerfordernis des § 568 Abs. 1 BGB zu wahren, die Kündigung schriftlich einreichen müssen.
- Es bestehe zwar grundsätzlich auch die Möglichkeit, mündlich von einem solchen Mietvertrag zurückzutreten. Dafür müsse dem Vermieter aber zunächst eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt werden.Es sei dem Kläger zumutbar gewesen, zuerst eine Nachfrist zur Nacherfüllung zu setzen, bevor der Rücktritt vom Vertrag erklärt wird. So wäre es der Vermieterin möglich gewesen, entweder den Zustand des Mietobjektes zu verbessern oder dem Beklagten eine andere Unterkunft anzubieten. Gerade weil eine Verbesserung der Gesamtsituation für den Mieter hier problemlos und ohne lange Wartezeiten hätte erfolgen können, nahm das Gericht die Zumutbarkeit der Fristsetzung an.
- Letztlich lehnt das Gericht auch die Möglichkeit einer Mietminderung im Sinne des § 536 BGB ab. Die Gebrauchsmöglichkeiten der Wohnung seinen nicht in erheblicher Weise eingeschränkt gewesen, außerdem sei bei dem Gestaltungsrecht der Minderung der ohnehin niedrige Mietpreis des Domizils zu berücksichtigen. Des Weiteren müsse in südlichen Ländern grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass einerseits der Qualitätsstandard der Wohnungseinrichtung nicht dem des Inlandes entspreche und andererseits Ferienhäuser durch häufig wechselnde Mieter ohnehin einer stärkeren Abnutzung unterlägen als andere Mietobjekte.
Im Folgenden eine Übersicht über im Juli veröffentlichte, interessante Entscheidungen des BGH in Strafsachen (materielles Recht).
I. BGH, Urteil vom 5. März 2014 – 2 StR 616/12
Bejahung eines (versuchten) Betruges durch irreführende Gestaltung einer Website mit kostenpflichtigem Inhalt (hier: Routenplanung), bei der der Hinweis auf die Kostenpflichtigkeit des Angebots lediglich ohne Hervorhebung in den allgemeinen Geschäftsbedingungen auf der dritten Bildschirmseite benannt sowie durch einem Fußnotentext auf der Angebotsseite ersichtlich wurde, der jedoch so gestaltet war, dass selbiger bei der statistisch am häufigsten verwendeten Auflösung und Bildschirmgröße erst durch Scrollen der Seite wahrgenommen werden konnte.
II. BGH, Beschluss vom 15. April 2014 – 3 StR 92/14
Eine wahlweise Verurteilung zwischen einem versuchten (schweren) Raub und einer versuchten (schweren) räuberischen Erpressung, die dem Umstand geschuldet ist, dass das Vorstellungsbild des Täters unklar geblieben und es nicht zur finalen Ausführungshandlung gekommen ist, ist nicht möglich. Denn in jedem Raub ist eine räuberische Erpressung enthalten, da die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache im Sinne des § 249 StGB auch die Nötigung eines anderen zur Duldung der Wegnahme im Sinne der §§ 253, 255 StGB einschließt. Es ist daher wegen versuchter räuberischer Erpressung zu bestrafen.
III. BGH, Urteil vom 16. April 2014 – 2 StR 608/13
Bei tateinheitlicher Verwirklichung eines Totschlags gemäß § 212 StGB mit einer schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen nach § 225 Abs. 3 Nr. 1 StGB (Gefahr des Todes des Opfers durch die Tat) tritt letzterer Tatbestand nicht hinter dem Totschlag zurück. Dies gebietet bereits die Klarstellungsfunktion einer Verurteilung in Tateinheit, da die Vorschrift des § 225 StGB auch die psychische Integrität des Opfers schützt.
IV. BGH, Beschluss vom 15. Mai 2014 – 2 StR 581/13
Mehrfache Anwendung des In-dubio-pro-reo-Satzes, der keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel ist: Sofern im Rahmen einer versuchten räuberischen Erpressung mangels Aufklärbarkeit des relevanten Sachverhaltes das Tatsachengericht zugunsten des Täters davon ausgeht, dass seine Schreckschusspistole nicht geladen gewesen ist, muss es in dem Fall, dass der Täter später von der Bedrohung seines Opfers ablässt, bei der weiteren Prüfung – wiederum zugunsten des Täters (!) – davon ausgehen, dass die Pistole doch geladen war, so dass das Gericht einen freiwilligen Rücktritt nicht mit der Begründung ablehnen darf, eine weitere Intensivierung der Drohung mit einer ungeladenen Waffe sei nicht mehr möglich gewesen.
V. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2014 – 2 StR 606/13
Es liegt keine Geiselnahme gem. § 239b StGB im Zwei-Personen-Verhältnis vor, wenn der Täter dem Opfer, unmittelbar nachdem er es in die Wohnung gelockt und die Tür verschlossen hat, am Hals die Luft abdrückt, um es zu sexuellen Gefälligkeiten zu zwingen. Denn die qualifizierte Drohung – hier die mit dem Zudrücken des Halses einhergehende konkludente Drohung mit dem Tod – dient dann zugleich dazu, sich des Opfers zu bemächtigen und es in unmittelbarem Zusammenhang damit zu weitergehenden Handlungen zu nötigen. Die abgenötigten Handlungen werden dann ausschließlich durch diese Drohung durchgesetzt, ohne dass der Bemächtigungssituation die in §239b StGB vorausgesetzte, eigenständige Bedeutung zukommt.
VI. BGH, Beschluss vom 17. Juni 2014 – 5 StR 216/14
Eine vollendete räuberische Erpressung liegt bei Abnötigung der Herausgabe einer EC-Karte nur dann vor, wenn der Täter – im Sinne eines Gefährdungsschadens – eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den Auszahlungsanspruch des berechtigten Kontoinhabers gegen die die EC-Karte akzeptierende Bank hat. Dies ist dann nicht der Fall, wenn dem Täter durch das Opfer eine unzutreffende Geheimzahl genannt worden ist.
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Zum Schluss noch eine verfahrensrechtliche Entscheidung zur Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Sachverständigen:
VII. BGH, Beschluss vom 26. März 2014 – 2 StR 274/13
Es ist rechtsfehlerhaft, einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens mit Hinweis auf genügende eigene Sachkunde des Gerichts abzulehnen, wenn sich das Tatgericht diese Sachkunde zuvor gezielt durch Befragung eines Sachverständigen im Freibeweisverfahren verschafft hat, um einen – entsprechend erwarteten – Beweisantrag ablehnen zu können. Ein Vorgehen des Gerichts, sich auf „Vorrat“eine auf den Angeklagten bezogene „eigene Sachkunde“ zu verschaffen, zielt letztlich darauf, die im Falle eines Beweisantrags gebotene förmliche Vernehmung eines Sachverständigen zu verhindern. Damit wird die an sich gebotene Beweisaufnahme im Strengbeweisverfahren durch das Freibeweisverfahren umgangen.