Das Staatshaftungsrecht gehört vermutlich zu den Materien, die viele Studierende auch in der Examensvorbereitung noch recht stiefmütterlich behandeln. Auch wenn das Rechtsgebiet zugegebenermaßen selten den Schwerpunkt der Klausur bilden wird (auch das kann aber – wie in Ö II im September 2017 in NRW – der Fall sein!), eignet sich seine Einbettung hervorragend, um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen. So wird eine polizeirechtliche Klausur regelmäßig um eine staatshaftungsrechtliche Zusatzfrage erweitert. Solide Kenntnisse sind mithin Grundvoraussetzung, um in die oberen Notenbereiche vorzudringen – insbesondere sollte man wissen, wenn der BGH eine seit 1956 ständig vertretene Rechtsprechung aufgibt, wie es bei dem hier zu besprechenden Urteil vom 7.9.2017 (Az.: III ZR 71/71) der Fall ist: Der allgemeine Aufopferungsanspruch umfasst nun entgegen früherer BGH-Rechtsprechung auch nichtvermögensrechtliche Nachteile des Betroffenen.
A. Sachverhalt (vereinfacht und abgewandelt)
Aus einem fahrenden Pkw wurden Schüsse auf ein Restaurant abgegeben. Im Zuge der darauf eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen finden die Polizeibeamten die mutmaßlichen Täter A und B auf einem nahegelegenen Parkplatz in einem Auto sitzend vor. Weil die Täterbeschreibung auf A und B zutraf, gingen die Polizeibeamten davon aus, dass die beiden Schusswaffen mit sich führten, wovon auch ein besonnener Amtsträger ausgegangen wäre. Die Polizeibeamten forderten A und B auf, die Hände zu heben. Sodann brachten sie die mutmaßlichen Täter zu Boden und legten ihnen Handschellen an, was auch von § 163b Abs. 1 StPO gedeckt war. Dabei erlitt der A eine schwere Schulterverletzung, die langfristig zu Schmerzen und Einschränkungen in der Bewegung führte. Es stellte sich aber heraus, dass A und B unschuldig sind.
A verlangt nun – neben Ersatz des aufgrund der Verletzung erlittenen Vermögensschadens, auf den mangels Problematik nicht eingegangen wird – insbesondere Schmerzensgeld.
Anmerkung: Es ist davon auszugehen, dass keine spezialgesetzliche Anspruchsgrundlage im Landesgesetz besteht. Eine solche wäre freilich ansonsten zuerst zu prüfen.
B. Lösung
I. Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 BGB iVm Art. 34 GG
Zunächst kommt ein Anspruch aus § 839 BGB iVm Art. 34 GG in Betracht. Zwar handelten die Polizeibeamten in Ausübung eines öffentlichen Amtes; allerdings liegt hier aufgrund des rechtmäßigen Handelns keine Amtspflichtverletzung vor.
Zur Erinnerung: § 839 BGB und Art. 34 GG bilden eine einheitliche Rechtsgrundlage. Dabei ergibt sich der Anspruch aus § 839 BGB und Art. 34 GG fungiert als verfassungsrechtlich verbürgte befreiende Schuldübernahme, indem die Haftung, sofern der Amtsträger hoheitlich handelt, auf den Hoheitsträger übergeleitet wird, s. auch unser Schema hierzu.
II. Aufopferungsanspruch
Rechtsgrundlage könnte aber der gewohnheitsrechtlich anerkannte allgemeine Aufopferungsanspruch sein, der auf den §§ 74, 75 der Einleitung des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 beruht.
1. Eingriff in ein nichtvermögenswertes Recht
Zunächst müsste hierfür ein Eingriff in ein nichtvermögenswertes Recht vorliegen. Hierunter fallen jedenfalls die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 GG. Vorliegend handelt es sich bei der Schulterverletzung des A durch die Maßnahme der Polizeibeamten um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, sodass diese Voraussetzung gegeben ist.
2. Gemeinwohlbezogenheit und Unmittelbarkeit des Eingriffs
Ferner müsste auch unmittelbar eingegriffen worden sein. Daran fehlt es etwa im Falle eines Unterlassens staatlicher Stellen oder bei einem überwiegend freiwilligen Verhalten der betroffenen Person (BeckOK-GG/Grzeszick, 38. Edt., Stand: 15.8.2018, Art. 34 Rn. 52). Vorliegend wurde die körperliche Unversehrtheit des A gerade durch das Anlegen der Handschellen beeinträchtigt, geschah mithin unmittelbar durch die hoheitliche Maßnahme. Indem es sich um eine Maßnahme der Strafverfolgung handelte, diente sie ihrer Intention auch dem Wohl der Allgemeinheit.
3. Vorliegen eines Sonderopfers
Des Weiteren müsste der Eingriff bei dem A zu einem Sonderopfer geführt haben. Hierbei indiziert die Rechtswidrigkeit des staatlichen Handelns regelmäßig das Vorliegen eines Sonderopfers (BeckOK-GG/Grzeszick, 38. Edt., Stand: 15.8.2018, Art. 34 Rn. 53). Im konkreten Fall handelten die Polizeibeamten aber rechtmäßig, sodass es einer positiven Begründung bedarf. Ein Sonderopfer ist dann nicht gegeben, „wenn das Gesetz für alle Bürger oder einen unbestimmten Kreis von ihnen eine gleiche Pflichtenlage geschaffen habe und von ihnen in gleicher Weise ein Tun, Dulden oder Unterlassen verlange, mithin dem einzelnen ein von den übrigen nicht gefordertes Opfer nicht auferlege“ (BGH v. 29.5.1962 – I ZR 137/61, NJW 1962, 1505). Mit anderen Worten: Die Beeinträchtigung des Betroffenen muss das übersteigen, das allen bzw. einer Gruppe von Personen ohnehin zuzumuten ist. Ob das Anlegen von Handschellen den A bereits in besonderer Weise belastet, erscheint fraglich; jedenfalls ist aber zu berücksichtigen, dass die Verletzung langfristig zu Schmerzen und Einschränkungen in der Bewegung führte. Folglich ist vom Vorliegen eines Sonderopfers auszugehen.
Der Tatbestand ist demnach gegeben.
4. Rechtsfolge
Nach bisheriger BGH-Rechtsprechung bestand nur ein Anspruch auf Ausgleich des eingetretenen Vermögensnachteils, nicht dagegen Ersatz immaterieller Schäden (seit BGH, Urteil v. 13.2.1956 – III ZR 175/54, NJW 1956, 629). Hierfür führte der BGH die folgenden Argumente an:
• § 253 I BGB enthalte die gesetzgeberische Wertung, dass ein Ausgleich in Geld nur für Vermögensschäden verlangt werden kann.
• Sofern der Gesetzgeber ausnahmsweise auch bei Nichtvermögensschäden einen Ausgleich in Geld vorgesehen habe, handele es sich hierbei um Tatbestände, bei denen ein Drittem durch ein vermeidbares schuldhaftes Handeln Schaden zugefügt worden sei, was den Genugtuungsgedanken ausdrückt.
• Auch wenn im Rahmen der §§ 74, 75 EinlALR der Schutz verfassungsgemäßer Rechte genannt wird, könne die klare Wertung, von der der Gesetzgeber in § 253 I BGB ausgegangen sei, nicht übergangen werden.
Im Urteil vom 7.9.2017 gab der BGH diese Rechtsprechung nun ausdrücklich aus, was wie folgt begründet wird:
„Die im Urteil vom 13.2.1956 dargestellte Gesetzeslage hat sich zwischenzeitlich grundlegend geändert. Von einem Willen des Gesetzgebers, die Ersatzpflicht im Schadensersatz- und Entschädigungsrecht bei Eingriffen in immaterielle Rechtsgüter wie Leben, Freiheit oder körperliche Unversehrtheit grundsätzlich auf Vermögensschäden zu beschränken, kann nicht mehr ausgegangen werden.“
Durch die Einführung des § 253 II BGB im Jahre 2002 wurde
„ein allgemeiner Anspruch auf Schmerzensgeld eingeführt, der über die bereits erfasste außervertragliche Verschuldenshaftung hinaus auch die Gefährdungshaftung und die Vertragshaftung mit einbezieht. […] Durch diese Neuregelung hat der Gesetzgeber den bisher in § 253 BGB normierten Grundsatz, auf den der Senat sein Urteil vom 13.2.1956 wesentlich gestützt hat, verlassen. Nunmehr kann im Schadensersatzrecht bei Verletzungen des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schmerzensgeld verlangt werden. Auch soweit der Senat in diesem Zusammenhang auf die Verschuldenshaftung und den Gedanken der Genugtuung abgestellt hatte, ist dieser Argumentation nach der Einbeziehung der Gefährdungshaftung in die Änderung des Schadensersatzrechts die Grundlage entzogen, abgesehen davon, dass der Gedanke der Genugtuung regelmäßig nur bei besonderen Fallgestaltungen eine Rolle spielt, während für die Bemessung des Schmerzensgeldes der Entschädigungs- oder Ausgleichsgedanke im Vordergrund steht.“
Zudem habe der Bundes- und Landesgesetzgeber zwischenzeitlich in vielen Bereichen Haftungen für immaterielle Schäden eingeführt.
Dass Schmerzensgeld ausgenommen sei, ergebe sich auch nicht aus der Natur des öffentlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs:
„Bei einem hoheitlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit besteht das Sonderopfer aber nicht nur in den daraus folgenden materiellen, sondern auch in den daraus folgenden immateriellen Nachteilen. […] Ein Ausschluss des Schmerzensgeldes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass der allgemeine Aufopferungsanspruch kein Schadensersatzanspruch iSd §§ 249 ff. BGB ist. Der Anspruch aus Aufopferung geht auf Leistung eines angemessenen bzw. billigen Ausgleichs für das dem Betroffenen hoheitlich auferlegte Sonderopfer […]. Der Anspruch auf Entschädigung kann insoweit – wie in der Senatsrechtsprechung verschiedentlich im Zusammenhang mit Vermögensschäden ausgeführt worden ist […] – zwar im Einzelfall darin bestehen, dem Geschädigten vollen Schadensersatz zuzubilligen, aber die Kriterien der Angemessenheit und Billigkeit können auch Einschränkungen rechtfertigen. Insoweit ist der Aufopferungsanspruch – anders als grundsätzlich der Anspruch auf Schadensersatz – nicht seiner Natur nach auf restlosen Ersatz gerichtet. Dieser Unterschied, auf den im Übrigen der Senat in seinem Urteil vom 13.2.1956 auch nicht abgestellt hat, hat jedoch keinen inhaltlichen Bezug zu der Frage, ob die Aufopferungsentschädigung auf vermögenswerte Nachteile beschränkt ist. Die für den Umfang der Entschädigung maßgebliche Angemessenheit und Billigkeit besagt nichts darüber, welche Arten von Schäden von dem Anspruch erfasst sind.“
Überdies komme ein Ausschluss nicht mit dem Argument in Betracht, dass
„der allgemeine Aufopferungsanspruch für hoheitliche Eingriffe in nichtvermögenswerte Rechtsgüter kein Schadensersatzanspruch sei. [Denn es gehe] nicht um die Frage einer analogen Anwendung des § 253 II BGB, sondern darum […], ob die billige und angemessene Entschädigung für ein im Zusammenhang mit einem hoheitlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit erbrachtes Sonderopfer von vorneherein nur materielle und keine immateriellen Nachteile erfasst.“, was im konkreten Fall zu verneinen sei.
5. Ergebnis
Nach neuerer BGH-Rechtsprechung kann A also auch Schmerzensgeld verlangen.
C. Fazit
Die Entscheidung des BGH, die Gewährung von Schmerzensgeld auch im Rahmen des allgemeinen Aufopferungsanspruchs zu ermöglichen, ist im Ergebnis überzeugend; die Begründung hinkt allerdings stellenweise, indem etwa aus speziellen einfachgesetzlich geregelten Aufopferungsansprüchen, die ausnahmsweise Schmerzensgeld gewähren, eine allgemeine Regel abgeleitet wird (kritisch auch Singbartl/Zintl, NJW 2017, 3384, 3387). Zu hoffen bleibt, dass sich irgendwann der Gesetzgeber einer umfassenden Kodifikation des Staatshaftungsrechts annehmen wird.