Anm. zu LG Tübingen, Urteil v. 18.7. 2012 – 24 Ns 13 Js 10523/11 (= NStZ-RR 2013, 10)
1. Um was geht es?
Dem Angeklagten wurde u.a. vorgeworfen, im Rahmen einer Blutentnahme in den Diensträumlichkeiten eines Polizeireviers in Gegenwart des Arztes die anwesenden Polizisten als „Homosexuelle“ bezeichnet zu haben, um diesen gegenüber seine Missachtung auszudrücken. Die Staatsanwaltschaft hatte hierin eine strafbare Beleidigung (§ 185 StGB) erblickt.
2. Was sagt das Gericht?
Das LG Tübingen hat angenommen, dass in dem geschilderten Geschehen kein Beleidigungsdelikt i.S.d. §§ 185ff. StGB gegenüber den im Revier anwesenden Polizisten liege und den Angeklagten daher – jedenfalls insofern – freigesprochen.
a) Es umschreibt hierbei zunächst das Rechtsgut der Ehrdelikte, um einen Maßstab für die im konkreten Fall vorgenommene Wertung zu erhalten:
Personales Rechtsgut der §§ 185 ff. StGB ist die Ehre als verdienter Achtungsanspruch jedes Individuums. Nach dem normativ-faktischen Ehrbegriff geht es um den auf die Personenwürde gegründeten, jedem Menschen von Verfassungs wegen zustehenden Geltungswert und den daraus folgenden Anspruch, nicht unverdient herabgesetzt zu werden. Dieser Ehrenstatus reflektiert auf den Aspekt personaler Würde als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG) und auf die Geltung der Person in der Gesellschaft. Demzufolge impliziert eine Beleidigung im strafrechtlichen Sinne die Kundgabe der Missachtung bzw. Nichtachtung und somit eine Aussage mit wertminderndem Gehalt. Hierbei ist der Äußerungsinhalt unter Berücksichtigung der Begleitumstände zu ermitteln. Der Ehrbegriff ist „normativ“, weil es dabei nicht primär auf einen bloßen Beleidigungswillen des Äußernden oder auf die subjektiv empfundene Kränkung des Erklärungsempfängers ankommt. Vielmehr muss die Bedeutung der Äußerung objektiv unter Beachtung der Wertungen der Rechtsordnung gewürdigt werden. Keine Beleidigung stellen daher wertneutrale Äußerungen dar, die von der erklärenden Person nach ihrer eigenen Wertung als „beleidigend“ gemeint sind (s. zum Ganzen, Fischer, a.a.O., § 185, Rn. 3 ff.).
b) Sodann wendet die Kammer diese Grundsätze auf den konkreten Sachverhalt an und stellt zunächst fest, dass bereits rein tatsächlich in der Äußerung des Angeklagten kaum objektiv eine Missachtung liegen könne:
Schon rein empirisch ist zweifelhaft, ob die Bezeichnung als „homosexuell“ eine Herabwürdigung enthält. Das mag in der Vergangenheit anders gewesen sein. Der gesellschaftliche Wandel in der Einstellung zur Homosexualität äußert sich etwa darin, dass sich führende Politiker oder Prominente als Homosexuelle offenbaren. Auch innerhalb der Polizei gibt es ein „Netzwerk für Lesben und Schwule“, das sich für mehr Toleranz einsetzt (s. www.velspol.de).
Diese tatsächlichen Feststellungen sichert das Gericht im Anschluss auch normativ ab, indem es auf verschiedene Werteentscheidungen der deutschen Rechtsordnung verweist:
Diese Bewertung folgt aus Art. 3 GG und der einfachgesetzlichen Konkretisierung des Gleichheitsgrundsatzes durch § 1 des Antidiskriminierungsgesetzes (ADG). Demzufolge sind „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“. Niemand darf also wegen seiner sexuellen Identität diskriminiert werden. (…) Entscheidend ist aber, dass sich das Strafrecht in einen Widerspruch zu dem verfassungsrechtlich begründeten Antidiskriminierungsansatz begeben würde, wenn die Bezeichnung als „homosexuell“ als ehrmindernd und herabsetzend bewertet würde. Darin käme gerade die Diskriminierung zum Ausdruck, die von Rechts wegen nicht mehr sein soll. (…) Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass hier uniformierte Polizeibeamte als „homosexuell“ tituliert wurden. Ein Sonderrecht für Polizeibeamte in Uniform – schärfer: eine Ausnahme vom verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbot – ist nicht anzuerkennen.
c) Schlussendlich betont das Gericht, dass bei einer abwertenden Bezeichnungen für Homosexuelle die Sachlage wieder anders liegen würde:
Anders beurteilen sich Äußerungen, die sich nicht auf die Bezeichnung „homosexuell“ beschränken, sondern zusätzlich eine Herabwürdigung ausdrücken wie z.B. „dreckige Schwanzlutscher“ oder „Schwuchteln“. Solche Äußerungen hat das Amtsgericht ebenfalls festgestellt (s. II. 3.) und völlig zu Recht als Beleidigungen gewertet.
3. Warum ist die Entscheidung interessant?
Das Urteil des LG Tübingen führt lehrreich vor, wie die aufgrund ihres generalklauselartigen Rechtsguts in der Klausur nicht gerade einfach zu handhabenden Tatbestände der Ehrdelikte in sinnvoller Weise ausgelegt und für den jeweiligen Sachverhalt konkretisiert werden können.
a) Dabei ist zunächst – was das LG Tübingen in seiner pauschalen Bezugnahmen auf eine „Strafbarkeit nach den §§ 185 ff. StGB“ unterlassen hat – eine Einordnung des Begriffs „Homosexueller“ vorzunehmen, also zu fragen, ob es sich hierbei um eine Tatsachenbehauptung oder ein Werturteil handelt: Im ersteren Fall ständen nämlich nicht allein das Delikt der Beleidigung, sondern auch die Straftatbestände der §§ 186 ff. StGB im Raum, welche bei Drittbeteiligung – der im Revier anwesende Arzt hört vorliegend mit – der Anwendung des § 185 StGB vorgehen. Insofern ist festzustellen, dass die Eigenschaft als „Homosexueller“ zwar durchaus dem Beweis zugänglich und mithin grundsätzlich als Tatsache zu werten ist; vorliegend geht es dem Angeklagten aber offensichtlich nicht darum, die tatsächliche sexuelle Präferenz der anwesenden Polizisten mitzuteilen, vielmehr möchte er ihnen mit der vordergründigen Tatsachenbehauptung wohl eher negativ-wertende Assoziationen (namentlich als unmännlich, verweichlicht) zuschreiben, so dass i.E. von einem Werturteil auszugehen ist. Dabei ist überhaupt zu beachten, dass die Rechtsprechung bei lediglich pauschalen Begriffen oftmals die Einordnung als Tatsachenbehauptung ablehnt und eher eine wertende Stellungnahme präferiert. So ordnet das KG in einer neueren Entscheidung (Beschluss v. 30.4.2012 – [4] 161 Ss 80/12 [104/12] = NStZ-RR 2013, 8 ff.) die über das Internet verbreitete, pauschale Bezeichnung von politischen Gegnern als „Alkoholiker“ im konkreten Fall ebenfalls als bloßes Werturteil ein, da sie so substanzarm sei, dass der erkennbare Tatsachenkern gegenüber der subjektiven Wertung völlig in den Hintergrund trete. Zudem verweist das KG in der genannten Entscheidung darauf, dass die Einordnung einer Äußerung als Werturteil oder Tatsache nicht nur für den einschlägigen Straftatbestand, sondern auch für die Rechtfertigungsebene Bedeutung erlangt: Während nämlich Werturteile voll umfänglich durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt werden, gilt dies im Tatsachenbereich nur für wahre Tatsachen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 13.4.1994 – 1 BvR 23/94 = BVerfGE 90, 241 ff.), was im Rahmen einer Abwägung nach § 193 StGB relevant werden kann.
b) Des Weiteren wird durch das LG Tübingen in überzeugender Weise dargelegt, dass die Bezeichnung als „Homosexueller“ nach den heutigen sozialen Standards objektiv nicht als Ausdruck der Miss- oder Nichtachtung eingeordnet werden kann. Wichtig ist hierbei insbesondere der Hinweis des Gerichts darauf, dass den Maßstab für diese Einordnung weder das Empfinden des Täters noch des Opfers selbst, sondern allein die objektive Bedeutung der Äußerung unter Beachtung der Wertungen der Rechtsordnung liefert. Handelt es sich bei dem Opfer einer Äußerung also etwa um einen besonders empfindlichen Zeitgenossen, führt dies nicht dazu, dass dieser eher beleidigt werden könnte als ein abgehärteter Typus. Exemplarisch hierfür ist auch eine Entscheidung des AG Berlin-Tiergarten (Beschluss v. 26. 5. 2008 – [412 Ds] 2 JuJs 186-08 [74/08] = NJW 2008, 3233), wonach die Anrede eines Polizisten als „Oberförster“ zwar von diesem subjektiv als Angriff auf seine Ehre als Polizeibeamter und Mensch empfunden werden mag, was jedoch nichts daran ändere, dass ein „verständiger Dritter“ hiermit nicht den Achtungsanspruch des Betroffenen in Gefahr sehen würde. Fraglich kann bei dieser Betrachtung allerdings sein, ob im umgekehrten Fall, wenn also eine tatsächlich erniedrigende Äußerung vom Opfer als nicht beleidigend empfunden wird, diese bei einem objektiven Maßstab nicht dennoch den Tatbeständen der Ehrdelikte unterfällt – was freilich deshalb, weil ohnehin grundsätzlich ein Strafantragserfordernis des Verletzten gem. § 194 Abs. 1 StGB gilt, nicht sonderlich ins Gewicht fallen würde. Geht man schließlich davon aus, dass der Täter bei einer objektiv nicht ehrenrührigen Äußerung eine solche Wirkung zumindest intendiert hat, wie dies der oben wiedergegebene Sachverhalt mit seiner Beschreibung des subjektiven Ziels des Angeklagten nahe legt, könnte immerhin an einen „untauglichen Versuch“ zu denken sein. Dieser würde allerdings, da die Beleidigungsdelikte keine Verbrechen darstellen und auch keine ausdrückliche Anordnung der Versuchsstrafbarkeit enthalten, für den Täter stets folgenlos bleiben.