Das OLG Hamm hat mit Urteil vom 23.05.2013 – I-21 U 64/12I den Süßwarenhersteller Haribo zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld verurteilt, nachdem der Kläger sich an einem Fruchtgummi (Cola-Flasche) einen Zahn ausgebrochen hatte. Der Fall bietet sich auch aufgrund seiner Resonanz in der Tagespresse insbesondere als Einstieg in den zivilrechtlichen Teil einer mündlichen Prüfung im Bereich des Deliktsrechts an. Dort könnten dann Fragen losgelöst vom konkreten Fall zur Produkthaftung und Produzentenhaftung folgen. Auch könnten weitere Gefährdungstatbestände abgefragt werden, vgl. die aktuellen Fälle zur Tierhalterhaftung nach § 833 BGB. Hier, hier hier, hier und hier.
Sachverhalt
„Nach den heutigen Feststellungen des Senats hatte der Kläger ein von der verklagten Firma in Form einer Colaflasche hergestelltes Fruchtgummi gekaut und dabei auf in der Masse befindliche Fremdkörper, Partikel aus Putz-materialien,gebissen. Diese waren bei der Herstellung in das Fruchtgummi gelangt. Durch den Biss auf einen der Fremdkörper hatte der Kläger an zwei seiner Zähne Schäden erlitten, so dass sie überkront werden mussten“
Nun machte der Kläger Schadensersatz für die Heilbehandlungskosten sowie ein angemessenes Schmerzensgeld geltend.
Rechtliche Beurteilung
Da unmittelbar keine vertragliche Beziehungen zwischen Haribo und dem Kläger bestanden, kam zunächst ein Anspruch aus § 1 Abs. 1 ProdHaftG in Betracht.
- § 1 ProdHaftG regelt einen Fall der sog. Gefährdungshaftung. Grundsätzlich knüpft das deutsche Schadensersatzrecht immer an ein Verschulden des Schädigers an, vgl. § 280 I 2 BGB oder § 823 Abs. 1. Bei Gefährdungstatbeständen wird nicht an ein konkretes Verschulden des Schädigers angeknüpft, sondern allein an ein bestimmtes Verhalten (Schaffen einer Gefahr, zB KfZ-Halter, § 7 StVG; Tierhalter, § 833 BGB; Betreiben eines Zuges, § 1 HaftPflG). Auch spielt die Widerrechtlichkeit keine Rolle, vielmehr handelt es sich, trotz ihrer Gefährlichkeit, gerade um sozial erwünschte Verhaltensweisen (Inverkehrbringen von Produkten, KfZ-Haltung). Als wichtigste Einschränkung für alle Gefährdungstatbestände gilt jedoch, dass der Schaden gerade auf der konkreten Gefahr beruhen muss (zB Tiergefahr bei § 833; Betriebsgefahr bei § 7 StVG). Auf Tatbestandsseite haben die Gefährdungstatbestände damit deutlich weniger Voraussetzungen als Verschuldenstatbestände. Die tatbestandliche Ausdehnung wird dann aber auf Rechtsfolgenseite durch Haftungshöchstgrenzen und Selbstbeteiligungsregelungen eingeschränkt, um Haftungsrisiken vorhersehbar zu halten.
Als abstraktes Prüfungsschema für alle Gefährdungstatbestände bietet sich daher an:
- a) Vorliegen einer gesetzlich definierten Gefahr – Inverkehrbringen eines Produktes/ KfZ-Halter
- b) Rechtsgutsverletzung beruht gerade auf dieser Gefahr – § 1 Abs. 2 ProdHaftG/ „bei Betrieb“/ „Tiergefahr“
- c) Haftungsausschluss – § 7 Abs. 2, Abs. 3, § 8 StVG
- d) Einschränkung auf Rechtsfolgenseite – Haftungsobergrenzen – § 10 ProdHaftG/ § 12 StVG und Mitverschulden
Ein solches abstraktes Prüfungsschema und das Verständnis des Grundes der Gefährdungshaftung kann die Prüfung „exotischer“ und damit im Zweifel nicht auswendig gelernter Gefährdungsnormen sehr erleichtern, bspw. von § 1 HaftPflG. Auch werden die grundlegenden (dogmatischen) Unterschiede zwischen Verschuldens- und Gefährdungstatbeständen in mündlichen Prüfungen immer wieder abgefragt.
In der Haribo Colaflasche befand sich ein Partikel aus Putzmaterialien, weshalb das vom Hersteller (§ 4 ProdHaftG) Haribo in Verkehr gebrachte Produkt (§ 3 ProdHaftG) einen Fehler (§ 2 ProdHaftG) hatte, der zu einer Rechtsgutsverletzung führte, § 1 ProdHaftG.
- Umstritten war in tatsächlicher Hinsicht, ob es sich überhaupt um eine Haribo Colaflasche handelte und, ob der Partikel sich tatsächlich schon beim Inverkehrbringen in dem Fruchtgummi befunden hatte. Insoweit wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt, was als Beweismittel den Fehler nach § 2 ProdHaftG belegte. Im Rahmen des ProdHaftG ist der Anspruchssteller wie im Gerichtsverfahren üblich beweisbelastet, § 1 Abs. 4 S. 1 ProdHaftG. Dieser Beweis konnte durch das Gutachten zur Überzeugung des Gerichtes geführt werden.
Ein Haftungsausschluss kam nicht in Betracht. Somit wurde dem Kläger ein Anspruch auf Schadensersatz wegen der Zahnbehandlungskosten sowie ein Schmerzensgeld in Höhe von 2000€ zugesprochen, §§ 1, 8 ProdHaftG.
Vom Gericht offenbar nicht geprüft wurde ein Anspruch aus Produzentenhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB. In einem Gutachten sollte diese Anspruchsgrundlage jedoch keineswegs fehlen.
Ans Herz gelegt sei an dieser Stelle die Lektüre der bekannten BGH-Klassiker Hühnerpest (VI ZR 212/66), Milupa (VI ZR 7/91) und Mineralwasserflaschenfall (VI ZR 24/92). Vgl. hierzu auch den demnächst bei uns erscheinenden Artikel zur Produzentenhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB.