Das OVG Münster hat mit Beschluss vom gestrigen Tage entschieden (OVG Münster, Beschluss vom 16.10.2012, Az. 16 A 591/11), dass die Klage gegen die Versuchsreihen am CERN in Genf ohne Erfolg bleibt.
Hintergrund und Verfahrensgang
Die Bezeichnung CERN leitet sich aus dem Französischen ab – Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, also die Europäische Organisation für Kernforschung. Diese betreibt in Genf mehrere Teilchenbeschleuniger, die zur Erforschung der Materie dienen. Diese Teilchen (z.B. Atomkerne) werden hier auf hohe Geschwindigkeiten beschleunigt. Dabei werden auch im Rahmen von Versuchsreihen Teilchen auf einander geschossen, um damit den sog. Urknall zu simulieren. Die jetzige Klägerin, die deutsche Staatsangehörige ist, aber in Zürich wohnt, will diese Art der physikalischen Grundlagenforschung verhindern. Sie befürchtet, dass es dabei zu so genannten schwarzen Löchern kommen könne, die das gesamte irdische Leben zerstören könnten. Bereits im Jahr 2008 hat die Klägerin sich mit diesem Begehren im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes an das VG Köln gewandt. Die Beschwerde gegen das ablehnende Urteil wies das OVG Münster seiner Zeit zurück, die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen. Mit der erhobenen Klage in der Hauptsache verfolgte die Klägerin die Sache vor dem VG Köln weiter, das aber mit Urteil vom 27.01.2011 (Az. 13 K 5693/08) die Klage zurückgewiesen hat. Mit dem gestrigen Beschluss und der Nichtzulassung der Berufung hat nunmehr das OVG Münster dem Verfahren ein vorläufiges Ende gesetzt.
Rechtliche Würdigung durch das VG Köln
Neben dem skurrilen Klägerbegehren und der für einfachen Juristen kaum zu durchdringenden Materie der Kernforschung, ist die Sache aber auch rechtlich durchaus interessant, vor allem im Hinblick auf die Zulässigkeit der Klage. Betrachten wir daher zu Anfang den Hauptantrag der Klägerin:
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, die von ihr in den Rat der Europäischen Kernforschungsorganisation CERN entsandten Delegierten sofort anzuweisen, im Rat des CERN eine sofortige Beschlussfassung darüber zu initiieren und auf eine dahingehende sofortige Beschlussfassung hinzuwirken, dass der Protonenbeschleuniger LHC in Genf/Schweiz höchstens auf einer Gesamtenergie von 2 Billionen Elektronenvolt betrieben wird.
Es geht der Klägerin damit nicht um ein direktes Vorgehen gegen das CERN selbst (hiermit war sie bereits in der Schweiz gescheitert), sondern um ein Einwirken der Bundesrepublik auf die entsandten Mitglieder.
Das VG Köln hat die Klage für zulässig erachtet.
Die Sache ist justiziabel. Das VG Köln hält fest, dass auch die Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf zwischenstaatliche Einrichtungen justiziabel sei. Das gelte dann erst recht im vorliegenden Fall, da hier keine Übertragung von Hoheitsrechten vorläge, sondern bloß ein Fall staatlich geförderter Wissenschaft. Der Art. 19 Abs. 4 GG sehe in einem solchen Fall keine Entbindung von der staatlichen Schutzpflicht vor (VG Köln, Urteil vom 27.01.2011, Az. 13 K 5693/08, Rn. 37 ff.).
Der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 VwGO ist eröffnet. Insbesondere liegt eine öffentlich rechtliche Streitigkeit vor. Vorliegend will die Klägerin einen Anspruch gegen die BRD geltend machen. Streitentscheidende Norm muss hier also eine Anspruchsgrundlage sein. Diese ergibt sich vorliegend aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der staatlichen Schutzpflicht. Diese Norm verpflichtet in dieser spezifischen Ausprägung den Staat, also einen Hoheitsträger. Das VG Köln hält hier bemerkenswert ausführlich fest, dass keine verfassungsrechtliche Streitigkeit vorliegt (VG Köln, Urteil vom 27.01.2011, Az. 13 K 5693/08, Rn. 49). Ein Abweichen von der allgemein bekannten Definition der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit sei hier gerade nicht angezeigt.
Von dieser allgemeinen Rechtsauffassung abzuweichen, sieht das Gericht bei der vorliegenden Konstellation keinen Anlass, zumal neben den rechtlichen Fragen auch tatsächliche Aspekte eine wesentliche Rolle spielen und es daher der dem Grundgesetz zu Grunde liegenden Vorstellung über die Verteilung der Aufgaben von Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes entspricht, das Verfahren zunächst als ein verwaltungsgerichtliches zu führen. Damit soll erreicht werden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen trifft.
Statthaft ist vorliegend die allgemeine Leistungsklage. Da die Klägerin vorliegend etwas begehrt, käme allenfalls noch die Verpflichtungsklage gem. § 42 VwGO in Betracht. Dann müsste die Anweisung an die deutschen Mitglieder einen VA darstellen. Dies kann vorliegend damit verneint werden, dass hier die Außenwirkung fehlt. Denn solche Weisungen wären als „Dienstanweisungen“ zu sehen, die die jeweiligen Mitglieder nicht in ihrem grundrechtssensiblen Bereich treffen, sondern nur ihre beruflichen Eigenschaften betreffen.
Im Hinblick auf die Klagebefugnis argumentiert das VG Köln mit der Möglichkeitstheorie und hält fest, dass das Eingreifen der staatlichen Schutzpflicht im vorliegenden Fall jedenfalls nicht von vorneherein abzulehnen sei. Auch fordere die Klägerin nichts objektiv Unmögliches von der Beklagten ein. Die BRD hatte vorgebracht, dass es nicht allein in der Hand ihrer Abgesandten läge, Entscheidungen im CERN zu treffen. Das VG Köln argumentiert hier überzeugend dahingehend, dass es die Schutzpflicht aus Art. 2 GG jedenfalls erfordere, die gebotenen Anstrengungen zu unternehmen, auch wenn diese einen Erfolg nicht garantierten (VG Köln, Urteil vom 27.01.2011, Az. 13 K 5693/08, Rn. 55).
Schlussendlich scheitert das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin nicht daran, dass sie vorher keinen „Antrag“ bei der Beklagten gestellt habe. Das VG Köln argumentiert, dass die Beklagte im Vorfeld und im einstweiligen Rechtsschutz mehrfach deutlich gemacht habe, dass es ihrem Ansinnen nicht nachkommen werde (VG Köln, Urteil vom 27.01.2011, Az. 13 K 5693/08, Rn. 56).
Im Rahmen der Begründetheit stellt das VG Köln unter Bezugnahme auf den ablehnenden Beschluss des BVerfG die Einzelheiten der staatlichen Schutzpflichten dar (VG Köln, Urteil vom 27.01.2011, Az. 13 K 5693/08, Rn. 62 f.).
Sie gebiete dem Staat, sich schützend und fördernd vor gefährdetes menschliches Leben zu stellen, es insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren. Eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht könne aber nur unter der Voraussetzung festgestellt werden, dass die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen habe oder die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien, das gebotene Schutzziel zu erreichen oder erheblich dahinter zurückblieben. Die staatliche Schutzpflicht verlange bei komplexen Sachverhalten, über die noch keine verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen würden, auch von den Gerichten nicht, ungesicherten wissenschaftlichen Theorien zur Durchsetzung zu verhelfen; im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten obliege aber allen Stellen, die öffentliche Gewalt ausübten, eine gesteigerte Verantwortung, wenn sie Entscheidungen treffen würden, die auf ungewissen Folgenabschätzungen beruhten. Werde wissenschaftlich und praktisch noch unerschlossenes Neuland betreten, hätten sich alle diese Stellen eine möglichst breite Informationsgrundlage für eine möglichst rationale Risikoabschätzung zu verschaffen, wobei die unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten im Rahmen eines gewaltenteiligen Systems berücksichtigt werden müssten.
Auch im Hinblick auf die Darlegungspflichten liefert das VG Köln detaillierte Formulierungen (VG Köln, Urteil vom 27.01.2011, Az. 13 K 5693/08, Rn. 62 f.):
Gehe es um die Vernachlässigung einer Schutzpflicht, sei der klagende Bürger nicht nur gehalten, schlüssig darzutun, dass die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen habe oder dass offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien, das Schutzziel zu erreichen. Vielmehr sei vorweg darzulegen, dass überhaupt eine Gefahr existiere. Dieses Schlüssigkeitserfordernis gelte auch, soweit eine Verantwortung staatlicher Stellen zur empirischen Widerlegung von Warnungen vor Schadensereignissen in Rede stehe. Der bloße Hinweis auf vereinzelt bleibende Warnungen genüge nicht, um eine gesteigerte staatliche Untersuchungs- oder gar Widerlegungspflicht anzunehmen. Soweit experimentelle Forschungsansätze betroffen seien, die im Wesentlichen auf theoretischen Erwägungen zu zentralen Grundfragen der modernen Physik aufbauten, seien jedenfalls solche Behauptungen unzureichend substantiiert, die lediglich eine Verantwortung staatlicher Stellen zur vorherigen, empirischen Widerlegung sämtlicher in der Öffentlichkeit diskutierter Warnungen vor (Groß-)Schadensereignissen einforderten. Die Substantiierung einer Verletzung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten verlange für Warnungen, die weitreichende Schutzpflichten auslösen sollen, die Einhaltung gewisser Mindeststandards, jedenfalls die Beachtung des Schlüssigkeitserfordernisses. Ansonsten sei es für staatliche Stellen unmöglich, relevante Warnungen, denen sie prinzipiell nachzugehen haben, von irrelevanten hypothetischen Prophezeiungen zu unterscheiden.
Gleichwohl dürfte der Staat Restrisiken in Kauf nehmen.
Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG herzuleitende Schutzpflicht hindere die öffentliche Gewalt nicht, mit der Förderung wissenschaftlicher Forschungstätigkeit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) insofern unentrinnbare Restrisiken in Kauf zu nehmen. Ansonsten wäre großexperimentelle Grundlagenforschung kaum möglich, weil sich im zu erforschenden Grenzbereich überraschende physikalische Wirkungen auslösende Ergebnisse nicht völlig ausschließen ließen. Allerdings treffe die Träger öffentlicher Gewalt eine Pflicht, Erkenntnisquellen auszuschöpfen und eine Risikoanalyse mit fachlicher Bewertung vorzunehmen. Diese Anforderungen dürften aber nicht zu Lasten der Forschungsfreiheit überspannt werden; sie dienten vielmehr dazu, den wissenschaftlichen Diskurs offen zu halten und seine Erkenntnisse nachzuvollziehen. Soweit die dafür zuständigen Verfassungsorgane oder entsprechende Stellen öffentlicher Verwaltung die fachlichen Abschätzungen verantwortlich vorgenommen hätten, fehle es den Gerichten an Maßstäben, ihre eigene Beurteilung jenseits praktischer Vernunfterwägungen an die Stelle des legislativen oder exekutiven Sachverstandes zu setzen.
Insbesondere hält das VG Köln fest, dass es nicht Sache der Gerichte sei, über fachwissenschaftliche Streitigkeiten zu entscheiden bzw. diese zu bewerten (VG Köln, Urteil vom 27.01.2011, Az. 13 K 5693/08, Rn. 81):
Von einer Grundrechtsgefährdung und erst recht einem Grundrechtseingriff kann nach dem gesamten Sachstand nicht ausgegangen werden. Dabei ist im Ausgangspunkt zum einen zu berücksichtigen, dass nach dem von der Klägerin beschworenen Gefahrszenario nur niedrige Anforderungen an die plausible Darlegung und Feststellung möglicher Gefahrenlagen zu stellen sind. Zum anderen ist hier aber in den Blick zu nehmen, dass die gesamte Diskussion um Voraussetzungen und Folgen der hier in Rede stehenden Experimente im LHC mit 2 TeV übersteigenden Energien weitgehend durch eine theoretische Auseinandersetzung ohne gesicherte experimentelle Basis geführt wird. Wissenschaftliche Streitfragen zu entscheiden, ist nicht Aufgabe der Gerichte.
In der Folge entscheidet das VG Köln dann über die einzelnen Gefahren, deren Wahrscheinlichkeiten und den jeweiligen Forschungsstand. Das dürfte für die juristische Prüfung eher zweit- und drittrangig sein.
Examensrelevanz: Niemand wird erwarten, dass sich der Examenskandidat vertieft mit der Problematik schwarzer Löcher auseinandersetzt. Gleichzeitig aber kann dieser skurrile Sachverhalt durchaus den ein oder anderen Prüfer dazu motivieren, mal wieder die Zulässigkeit einer verwaltungsrechtlichen Klage im Detail und versehen mit einigen Sonderproblemen abzufragen. Materiell ist vor allem die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 GG examensrelevant. Ein aktueller Bezug ist auch mit dem Atommoratorium gegeben (dazu hier und hier). Besonders interessant sind hier die Äußerungen des VG zu den Darlegungspflichten (nicht formelle Beweislast) und dem Hinweis, dass bloße wissenschaftliche Uneinigkeiten nicht zur einer belastbaren Gefahrprognose führen können und dass es nicht Sache der Gerichte, sondern vielmehr der Exekutive sei, derartige Unstimmigkeiten aufzulösen bzw. zu bewerten. Das VG nimmt also eine Art „Beurteilungsspielraum“ an. Die Exekutive bzw. Legislative muss den Sachverhalt und die entsprechenden wissenschaftlichen Stimmen auswerten, darf aber durchaus Restrisiken eingehen und muss hier auch nicht auf jede einzelne Stimme in Wissenschaft und Öffentlichkeit eingehen und diese in ihre Bewertung einbeziehen.