Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sofiane Benamor, LL.B. veröffentlichen zu können. Der Autor wird demnächst im Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern tätig sein und beginnt ab kommendem Wintersemester ein Studium der Rechtswissenschaften an der Fernuniversität Hagen.
Die Störer- bzw. Verantwortlichkeitskategorien gehören zu den zentralen Begriffen des Polizei- und Ordnungsrechtes. Sie behandeln die Personen, gegen die sich die Ordnungs- und Polizeibehörden zur Gefahrenabwehr wenden können (vgl. §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 PolG NRW, §§ 13 f. ASOG Bln, explizit § 68 Abs. 1 SOG M-V). Die Verantwortlichkeit als normative Voraussetzung der Inanspruchnahme ist wesentliches Element rechtsstaatlichen Polizei- und Ordnungsrechtes. Es stellt sicher, dass nur derjenige, dem eine Gefahr zuzurechnen ist, auch in Anspruch genommen wird. Zwar ist das Gefahrenabwehrrecht typisches Landesrecht, sodass sich bundeslandspezifische Unterschiede ergeben können, wesentliche gesetzgeberische Entscheidungen sind jedoch weitestgehend bundeseinheitlich. Im Wesentlichen finden sich zwei bzw. drei Kategorien in den Polizeigesetzen:
I. Verhaltens- bzw. Handlungsstörer
II. Zustandsstörer
III. Nichtstörer
Diese sollen folgend skizziert und ihre wesentlichen Merkmale und praxis- bzw. fallrelevanten Gesichtspunkte dargestellt werden. Abschließend soll unter IV. ein kurzer Abriss der Problematik um die Auswahl bei Störermehrheit gegeben werden.
I. Verhaltens- bzw. Handlungsstörer
Bei dieser Störerkategorie ist, wie der Name bereits sagt, das Verhalten der Person maßgeblich. Dieses Verhalten kann zum einen im positiven, eigenen Tun liegen, also der aktiven Verursachung einer Gefahrenlage (z. B. dem Erzeugen nächtlichen Lärms durch Brüllen). Die Verhaltensverantwortlichkeit besteht verschuldensunabhängig, kann also einerseits Einsichtsunfähige und Betrunkene (z. B. den Betrunkenen, der nachts durch sein Liegen auf der Straße den Verkehr gefährdet) andererseits aber auch Kinder treffen. Bei Kindern und Jugendlichen unter 14 (§ 17 Abs. 2 BPolG; § 4 Abs. 2 PolG NRW; § 68 Abs. 2 SOG M-V; § 13 Abs. 2 ASOG Bln) bzw. unter 16 Jahren (§ 6 Abs. 2 PolG BW) besteht daneben auch eine Zusatzverantwortlichkeit für den bzw. die Aufsichtspflichtigen. Eine solche kann auch für den Betreuer einer behinderten Person oder für den Geschäftsherrn eines Verrichtungsgehilfen bestehen (§ 69 Abs. 3 SOG M-V, § 6 Abs. 3 HSOG, § 17 Abs. 3 BPolG). Dieser Zusatzverantwortliche tritt neben den Hauptverantwortlichen, sodass beide je nach Zweckmäßigkeit in Anspruch genommen werden können.
Die Verhaltensverantwortlichkeit kann auch aus einem Unterlassen resultieren (OVG Münster, DVBl. 1979, 735; Kingreen/Poscher, POR, § 9 Rn.6). Voraussetzung hierfür sind gesetzlich normierte Handlungspflichten aus dem öffentlichen Recht (z. B. Pflicht der Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken; Straßenreinigungspflicht aus Landesrecht; vgl. auch § 10 KrWG, § 26 WHG), bzw. Pflichten aus öffentlich-rechtlichem Vertrag, Verwaltungsakt oder auch Garantenstellung. Ob zivilrechtliche Handlungspflichten ausreichen, ist umstritten und jedenfalls hinsichtlich der Pflicht zur Haltung einer Sache im ordnungsgemäßen Zustand eher abzulehnen, da ansonsten die normative Distinktion zwischen Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit unterlaufen würde (Thiel, POR, Rn. 228). Daran ändert auch die verfassungsrechtliche Sozialbindung des Eigentums aus Art. 14 Abs. 2 GG nichts.
Regelmäßige Probleme bereiten Fälle, in denen der Gefahrzusammenhang bzw. die Gefahrverursachung des (vermeintlich) Verhaltensverantwortlichen nicht zweifellos feststeht. Zur Abgrenzung verwendet die h. M. die sog. Theorie der unmittelbaren Verursachung (Selmer, JuS 1992, 97 <98>). Danach ist das Verhalten maßgeblich, welches nach den Umständen des Einzelfalles die Gefahrengrenze überschreitet. Abzustellen ist mithin auf das letzte Glied der Kausalkette, mittelbare Verursacher scheiden damit aus. Die Gefahrenschwelle überschreitet eine Handlung, wenn sie nicht mehr denjenigen Anforderungen entspricht, die von der Rechtsordnung im Interesse eines störungsfreien Gemeinschaftslebens verlangt werden (OVG Münster, NVwZ 1985, 355 <356>). Es erfolgt also keine objektive naturwissenschaftliche, sondern eine normativ wertende Gesamtbetrachtung.
Als Korrektiv dieser Theorie wurde die Figur des Zweckveranlassers entwickelt. Hierunter ist die Person zu verstehen, welche „zwar die Gefahrengrenze überschreitet, aber nicht die zeitlich letzte Handlung vor dem Schadenseintritt vornimmt“ (Gusy, POR, Rn. 336). Er veranlasst eine Situation, in welcher durch das Verhalten anderer eine Gefahr entwickelt wird, er „fordert“ den unmittelbaren Störer „heraus“ (Schmidt, POR, Rn. 776). Die enge sachliche Nähe von Veranlassung und dem die Gefahr herbeiführenden Verhalten soll hier die Verantwortlichkeit begründen. Historisch entwickelt wurde die Figur im Schaufensterpuppenfall des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes (PrOVGE 40, 216 <217>). Der Eigentümer eines Ladens stellte diverse bewegliche Puppen in sein Schaufenster. Diese lockten viele schaulustige Passanten an, die dann Ansammlungen bildeten und mithin den Verkehr behinderten. Andere Fälle sind etwa die Vermietung von Wohnungen in Sperrbezirken gem. Art. 297 EGStGB an Prostituierte (VGH Kassel, NVwZ 1992, 1111), die Anmeldung einer potenziell unfriedlichen Demonstration (OVG Weimar, NVwZ-RR 1997, 287) oder die Einladung zu einer Facebook-Party (Klas/Bauer, K&R 2011, 533).
An dieser Rechtsfigur gibt es zahlreiche Kritik (vgl. exemplarisch Erbel, JuS 1985, 257), deren Bearbeitung jedoch den Rahmen dieses Beitrages erheblich übersteigen würde.
II. Zustandsstörer bzw. -verantwortlichkeit
Die Zustandsverantwortlichkeit als Ausfluss der Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG stellt im Gegensatz dazu auf die tatsächliche Sachherrschaft oder Eigentum an einer Sache, die wiederum Gefahren verursacht, ab (§ 18 BPolG; § 70 SOG M-V; § 7 PolG BW; § 5 PolG NRW; § 14 ASOG Bln). Es kommt hier also nicht darauf an, ob der Eigentümer oder Inhaber der tatsächlichen Gewalt etwas für den Gefahrenzustand der betreffenden Sache kann oder diesen (schuldhaft oder unschuldhaft) verursacht hat, sondern nur auf die objektiven Gefahren, die von der Sache ausgehen. Klassische Anwendungsfälle für die Zustandsverantwortlichkeit sind der Baum auf einem Privatgrundstück, der auf die Straße (und damit auf Passanten) zu fallen droht oder der um sich beißende Hund.
Die Eigentümereigenschaft ist akzessorisch zu den Wertungen des bürgerlichen Rechts (Götz, POR, § 9 Rn. 55). Eigentümer ist somit, wer nach den Vorschriften des BGB Eigentum an einer Sache hat. Bei gemeinschaftlichem Miteigentum ist jeder Eigentümer eigenständig verantwortlich. Die Verantwortlichkeit des Eigentümers entfällt allerdings, wenn der Inhaber der tatsächlichen Welt diese ohne den Willen des Eigentümers oder des Nutzungsberechtigten ausübt (§ 18 Abs. 2 S. 2 BPolG, § 5 Abs. 2 S. 2 PolG NRW, § 14 Abs. 2 S. 2 ASOG Bln, § 7 Abs. 2 S. 2 HSOG). Dies kann durch typische Fallkonstellationen wie Diebstahl und Unterschlagung, aber auch durch hoheitliche Beschlagnahme (z. B. Pfändung) geschehen.
Nicht beendet wird die Zustandsverantwortlichkeit des Eigentümers jedoch durch Dereliktion gem. §§ 928, 959 BGB. Hier regeln die Polizeigesetze explizit, dass diese auch nach der Dereliktion weiterhin besteht (vgl. § 18 Abs. 3 PolG BW; 5 Abs. 3 PolG NRW; § 14 Abs. 4 ASOG Bln; § 6 Abs. 3 BremPolG; § 70 Abs. 3 SOG M-V). Der Derelinquierende soll sich seiner Verantwortung nicht einfach durch Eigentumsaufgabe entziehen können.
Die andere Form der Zustandsverantwortlichkeit ist die des Inhabers der tatsächlichen Gewalt, also der tatsächlichen Sachherrschaft. Die tatsächliche Gewalt bzw. Sachherrschaft ist ein polizeirechtseigener Begriff, der zwar ähnlich, aber nicht völlig deckungsgleich mit dem zivilrechtlichen Besitzbegriff ist (Götz, § 9 Rn. 51), da er keinen Besitzbegründungswillen erfordert und nach der Verkehrsauffassung zu bestimmen ist. Er wird jedoch in aller Regel zum selben Ergebnis führen. Beispiele für diese Kategorie sind Mieter, Pächter und Verwahrer, aber auch Insolvenz- und Konkursverwalter.
III. Inanspruchnahme des Nichtstörers
Unter gewissen, sehr engen Voraussetzungen können auch Personen, die weder Verhaltens- noch Zustandsstörer bzw. Verantwortliche sind, in Anspruch genommen werden (§ 71 SOG M-V; § 20 BPolG, § 6 PolG NRW; § 9 PolG BW; § 16 ASOG Bln; § 7 BremPolG). Man spricht in diesem Zusammenhang vom polizeilichen Notstand. (Pieroth/Schlink/Kniesel, § 9 Rn. 74). Erforderlich ist hier eine Gefahr, die gegenwärtig und zumeist auch erheblich sein muss. Weiterhin ist die Inanspruchnahme des nichtverantwortlichen Dritten subsidiär zu anderen Möglichkeiten der Gefahrenabwehr. Das bedeutet sowohl, dass die Gefahr weder durch Inanspruchnahme des Verhaltens- noch Zustandsstörer, noch durch die Behörde selbst gebannt werden kann. Die Inanspruchnahme des Nichtverantwortlichen ist insoweit „doppelt subsidiär“ (Gusy, Rn. 384). Bei der Wahl und Ausprägung der Maßnahme muss die Behörde zudem darauf achten, dass diese sich auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt und so wenig invasiv wie möglich ist. Außerdem steht dem Nichtstörer ein öffentlich-rechtlicher Ausgleichsanspruch zu (§ 59 Abs. 1 Nr. 1 ASOG Bln; § 56 Abs. 1 Satz 1 BremPolG; § 72 Abs. 1 SOG M-V; § 67 PolG NRW; § 55 Abs. 1 PolG BW).
Klassische Beispiele für diese Konstellation sind die sog. Obdachlosenfälle, in denen die Ordnungsbehörde eingreift, um drohende Obdachlosigkeit zu verhindern oder bestehende Obdachlosigkeit (auch nur temporär) zu beenden (vgl. OVG Berlin, NVwZ 1991, 692; VGH München, BayVBl. 1991, 114). Hier wird der Eigentümer der bereits bewohnten oder einer unbewohnten Wohnung als Nichtstörer in Anspruch genommen, da eine Inanspruchnahme des tatsächlichen Störers – hier des Obdachlosen – nicht erfolgsversprechend ist. Da allerdings auch hier die Nachrangigkeit der Inanspruchnahme des Nichtstörers gilt, muss sich die Ordnungsbehörde zunächst bemühen, andere Unterkünfte für den (potenziell) Obdachlosen zu finden (Schmidt, Rn. 837).
Weiterhin in der Praxis bedeutsam sind Fälle auf dem Gebiet des Versammlungsrechtes, in denen die Teilnehmer einer Demonstration zwar friedlich agieren, eine Gefahr jedoch von der Gegendemonstration zu erwarten ist. Hier ist das Verhältnis der potenziellen Maßnahmen zueinander jedoch komplexer, da die Notstandsverantwortung z. B. durch Auflagen oder ggf. auch ein Totalverbot der gefährlichen Demonstration (vgl. § 15 Abs. 1 VersG) teilweise vermieden werden kann (BVerfG, NVwZ 2000, 1406). Hier ist auch zu prüfen, ob der Demonstrationsanmelder nicht bereits als Zweckveranlasser in Anspruch genommen werden kann.
IV. Polizei- und ordnungsbehördliche Störerauswahl
In vielen Fällen wird es nicht nur einen, sondern mehrere Verantwortliche geben, die zur Abwehr der Gefahr in Anspruch genommen werden können. Gerade die aufgezeigten Zusatzverantwortlichkeiten bei der Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit oder die sog. Doppelstörer, die sowohl verhaltens- als auch zustandsverantwortlich sind, geben den zuständigen Behörden zur Gefahrenabwehr die Möglichkeit der individuellen Auswahl. Diese Entscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde (vgl. § 12 ASOG Bln, § 14 SOG M-V, § 3 PolG NRW; § 3 PolG BW; § 4 Abs. 1 BremPolG; § 16 BPolG). Sie hat dabei Entschließungs- und Auswahlermessen. Bei „besonders hoher Intensität der Störung oder Gefährdung“ (BVerwGE 11, 95 <97>) oder „besonders schweren Gefahrenfällen“
(BVerwG, DÖV 1969, 465) kann dieser Ermessensspielraum eingeschränkt sein. Zentrales und entscheidendes Kriterium bei der Störerauswahl ist der gefahrenabwehrrechtliche Grundsatz der Effektivität der Gefahrenabwehr, dass sich die Behörde also an denjenigen wendet, der die Gefahr am schnellsten und effektivsten beseitigen kann (Schmidt, Rn. 816). So ist im Verhältnis Mieter (als Inhaber der tatsächlichen Gewalt) und Eigentümer der Mieter als Anwesender, sofort Handlungsfähiger eher in der Lage, einen losen Ziegelstein vom Dach des Hauses zu entfernen als der entfernt wohnende Eigentümer. Andersherum wird sich die Behörde an den Eigentümer wenden, wenn es um bestimmte Handlungen geht, die dem Mieter aus mietvertraglichen bzw. eigentumsrechtlichen Gründen verboten sind, er dazu also rechtlich nicht in der Lage ist. In der Literatur finden sich darüber hinaus vermehrt Faustformeln für die Inanspruchnahme, etwa „Verhaltensverantwortlicher/Handlungsstörer vor Zustandsstörer“ oder „Doppelstörer vor einfachem Störer“ (Thiel, Rn. 305). Die Tauglichkeit solcher Faustformeln ist umstritten (Vgl. Schoch, JURA 2012, 685 <688>). Es wird hier zu raten sein, eine wertende Gesamtbetrachtung der jeweiligen Umstände des konkreten Einzelfalls vorzunehmen.
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Alle Jahre wieder Cranger Kirmes – alle Jahre wieder Kuttenverbot für Rocker. Die Examensrelevanz braucht nicht betont zu werden, lief der Sachverhalt doch schon im Dezember 2014 im 1. Staatsexamen in NRW. Wie im letzten Jahr bestätigte das VG Gelsenkirchen das ordnungsbehördliche Kuttenverbot der Stadt Herne (s. unseren ausführlichen Artikel). Im diesjährigen Urteil des VG Gelsenkirchen vom 3.8.2015 – 16 L 1495/15 werden die Unterschiede zwischen Strafrecht und Ordnungsrecht am Beispiel der Kutten tragenden Rocker schulbuchmäßig aufgezeigt. Weniger die Entscheidung selbst, als deren juristische Grundlagen sollten gerade in einer mündlichen Prüfung bekannt sein.
Die Stadt Herne verbot durch Ordnungsverfügung vom 07.07.2015, wie auch schon im vergangenen Jahr, allgemein das Tragen von Bekleidungsstücken mit Abzeichen und Schriftzügen von bestimmten Motorradgruppierungen (u.a. „Bandidos MC“, „Hells Angels MC“, „Satudarah MC“, „Gremium MC“, „Freeway Riders MC“) sowie mit bestimmten allgemeinen Schriftzügen und Parolen, sog. „Kutten“, in der Öffentlichkeit im Bereich der Cranger Kirmes. Der Antragsteller ist Mitglied des Clubs „Freeway Riders MC“ und macht zur Begründung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz geltend, die Verbotsverfügung verletze ihn in seinem Freiheitsrecht und seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (aus beck-aktuell entnommen).
In einem Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz entschied das VG Gelsenkirchen nun, dass diese Verbotsverfügung nicht offensichtlich rechtswidrig ist. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung nahm das VG zugunsten der Rocker an, dass kein generelles Verbot des Tragens der Kutten bestehe. Allerdings drohe im Zusammenhang mit der Cranger Kirmes, auf der unterschiedliche Rockergruppen aufeinandertreffen könnten, durch das Tragen der Kutten eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Form der zu erwartenden tätlichen Auseinandersetzungen (ausführlicher unser letztjähriger Artikel mit verschiedenen Argumentationswegen).
Spannend ist nun die Auseinandersetzung mit dem Urteil des BGH v. 09.07.2015 – 3 StR 33/15. Der BGH hatte entschieden:
Aus dem jeweiligen Ortszusatz ergebe sich eindeutig, dass die Angeklagten den „Bandidos“-Schriftzug und den „Fat Mexican“ nicht als Kennzeichen des verbotenen „Chapters“, sondern als solche ihrer jeweiligen, nicht mit einer Verbotsverfügung belegten Ortsgruppen getragen hätten und damit gerade nicht gegen den Schutzzweck des – auf die jeweiligen Ortsgruppen beschränkten – Vereinsverbots verstießen. (Pressemitteilung des BGH Nr. 113/2015 v. 09.07.2015)
Kurz gesagt: Das Tragen eines Symbols eines erlaubten Chapters ist nicht deswegen strafbar, weil ein anderes Chapter mit ähnlicher Symbolik verboten ist und das Tragen dieser Symbolik folglich strafbar wäre.
Hier handelte es sich um erlaubte Chapter, sodass das Tragen der vereinseigenen Symbole nicht strafrechtlich verboten ist. Allerdings ändert dies nichts daran, dass hiervon eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehen kann. Dies hatte auch bereits der BGH in seiner Entscheidung vom 9.7.2015 angesprochen:
Dies bedeute, dass das Tragen einer Kutte mit den von allen „Chaptern“ der „Bandidos“ benutzten Kennzeichen („Bandidos“-Schriftzug und „Fat Mexican“) zusammen mit dem Ortszusatz eines nicht verbotenen „Chapters“ unter den Voraussetzungen des § 9 Abs. 3 VereinsG nach derzeitiger Rechtslage zwar polizeirechtlich verboten sein könne, nicht aber strafbar sei.
Deutlich wird: Aus der fehlenden Strafbarkeit eines Handelns folgt nicht zwangsläufig dessen ordnungsrechtliche Zulässigkeit. Vielmehr ist je nach Rechtsgebiet eine eigenständige Auslegung bzw. Abwägung vorzunehmen.
Das VG Düsseldorf entschied vor Kurzem einen Sachverhalt, der ideal zur Diskussion im Rahmen eines mündlichen Prüfungsgesprächs gestellt werden kann (Az. 6 K 254/11). Die Entscheidung eignet sich deshalb besonders gut, da hiermit losgelöst vom einschlägigen Rechtsrahmen ganz abstrakt die Zulässigkeit der Übertragung von originären Aufgaben des Staates auf Private diskutiert werden kann.
Die Entscheidung
In der Sache ging es um die Verpflichtung einer Hafengesellschaft bei bestimmten Terrorwarnstufen die öffentlichen Straßen, die durch das Hafengebiet verlaufen, mit eigenen Sicherheitskräften und auf eigene Kosten zu kontrollieren. Das VG Düsseldorf entschied, dass an das Hafengelände angrenzende Straßen von der Polizei überwacht werden müssten. Die Auferlegung einer besonderen Sicherungspflicht könne nur für das Hafengelände bestehen.
Gründe
Die Hafengesellschaft ist bereit, ihre eigenen Grundstücke und Anlagen zu schützen. Sie wehrt sich aber gegen die Kontrollpflicht auf den öffentlichen Straßen, die im Hafen verlaufen. Das Verwaltungsgericht hat ihr heute Recht gegeben. In der mündlichen Urteilsbegründung hat der Vorsitzende Richter Dr. Stuttmann u. a. ausgeführt: Die Abwehr von Gefahren, zu denen auch Sabotageakte und terroristische Bedrohungen zählen, obliegt grundsätzlich den staatlichen Organen als Ausfluss des an den Staat gerichteten grundrechtlichen Auftrags, seine Bürger und deren Eigentum zu schützen. Dieser Schutzauftrag ist die Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Bürger gänzlich davon freigestellt ist, zur Gefahrenabwehr beizutragen. Er kann vielmehr zur Gefahrenvorsorge herangezogen werden. Er kann verpflichtet werden, bereits im Vorfeld mitzuhelfen zu verhindern, dass eine Gefahr für sein sensibles Eigentum überhaupt entsteht. So ist allgemein anerkannt, dass Betreiber von besonders gefährdeten Anlagen und Einrichtungen, wie etwa Kernkraftwerken oder Flughäfen, zur Gefahrenvorsorge in Form von Eigensicherungsmaßnahmen verpflichtet werden können. Die Verpflichtung zur Eigensicherung findet aber ihren Grund und ihre Grenze in der privatrechtlichen Eigentümerstellung bzw. unbeschränkten Sachherrschaft. Dem Hafenbetreiber können nur solche Eigensicherungsmaßnahmen auferlegt werden, die von seinem Eigentumsrecht oder seiner ungeschmälerten Sachherrschaft gedeckt sind. Da der Hafengesellschaft die öffentlichen Straßen im Hafen weder gehören noch sie die unbeschränkte Sachherrschaft über sie ausübt, kann sie nicht dazu verpflichtet werden, auf diesen Straßen Zugangskontrollen (Stufe 2: Anhalten und Befragen) durchzuführen oder Straßensperren zu errichten (Stufe 3). Jedermann darf selbst bei ausgerufener Warnstufe 2 und 3 alle öffentlichen Straßen grundsätzlich ohne Einschränkung befahren. Für öffentliche Straßen im Hafengebiet gilt insofern nichts anderes. Auch sie dürfen nur von Polizei- bzw. Zollbeamten kontrolliert werden (Quelle: Pressemitteilung des VG Düsseldorf).
More to come
Gegen das Urteil hat die Kammer des VG Düsseldorf die Berufung zum OVG Münster zugelassen. Insofern ist in Zukunft noch mit einer weiteren gerichtlichen Klärung in diesem Kontext zu rechnen, womit die Examensrelevanz noch einmal zunehmen wird. Die in der Pressemitteilung genannten Argumente des VG überzeugen indes, so dass für die Prüfungssituation bereits mit dieser Entscheidung das notwendige Argumentationsgerüst bereit stehen sollte.
Eine examensrelevante Konstallation wurde vor Kurzem vom VG Berlin entschieden (Urteil v. 06.03.2012, Az. VG 23 K 58.10; VG 23 K 59.10). In der Sache ging es um den Entzug eines Reisepasses wegen Verdachts auf mögliche terroristische Aktivitäten.
Sachverhalt (leicht abgewandelt)
Der T ist Inhaber eines deutschen Reisepasses mit Visum für den Iran. Der T war vor 2 Jahren öfters im Kontakt mit Mitgliedern der terroristischen Vereinigung al-Quaida und engagierte sich auch aktiv bei Organisation und Rekrutierung im deutschen Raum. Seitdem hat der T allerdings den Kontakt zu der Organisation gemieden, da er seine Zeit doch lieber anderen Aufgaben – wie etwa der Kunst oder sportlichen Aktivitäten – widmen möchte. Der T hat nun vor, nach Istanbul auszureisen, um sich dort ein wenig von seinem Alltag zu erholen. Hieran wurde er allerdings von Kriminalbeamten am Flughafen gehindert. In seinem Gepäck befanden sich Ausrüstungsgegenstände für Outdoor-Aktivitäten sowie mehere tausend US-Dollar. Nach der versuchten Ausreise mied der T weiterhin den Kontakt zu den al-Quaida-Verbindungsmännern. Dem T wurde in der Folge von der zuständigen Behörde sein Reisepass entzogen. Hiergegen möchte sich der T ggf. wehren.
Rechtliche Würdignug
Einschlägiger Rechtsrahmen ist vorliegend das PassG. § 8 PassG regelt die Entziehung eines Passes, wobei dies dann möglich ist, sofern Tatsachen bekannt werden, die nach § 7 Abs. 1 PassG die Paßversagung rechtfertigen würden. Gemäß § 7 PassG ist der Pass wiederum zu versagen, sofern bestimmte Tatsachen die Annahme begründen, daß der Paßbewerber die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.
Vorliegend ist somit fraglich, ob dieses Tatbestandsmerkmal im Falle des T gegeben ist. Zu beachten ist zuvorderst, dass auch unbestimmte Rechtsbegriffe, wie solche nach § 7 Abs. 1 PassG vollumfänglich gerichtlich überprüft werden können, ein behördlicher Beurteilungsspielraum ist nur in eng begrenzen Ausnahmefällen statthaft (s. zu den Kriterien hier).
Das VG bewertete die Situation dermaßen, dass die konkret ins Auge gefasste Ausreise mit erheblichen Gefahren im Hinblick auf terroristische Aktivitäten zusammen hänge. Angesichts des Schutz von elementaren Rechtsgütern sei diese Gefahr sogar so gravierend, dass auch der Ablauf von gut zwei Jahren keine andere Gefahrprognose rechtfertige. Auch nach der längeren Funkstille sei nach wie vor von einer festen Einbindung in den Personenkreis der al-Quadia-Mitglieder auszugehen. Für eine Abkehr von dieser Prognose fehle es an weiteren Beweismitteln, die den positiven Lebenswandel untermauern könnten. Das VG bejahte somit das weitere Fortbestehen der Gefahr, auch wenn eine Feststellung der Terrorgefahr nicht mit hinreichender Sicherheit möglich war.
Examensrelevanz
Besonders im öffentlichen Recht werden sehr gerne (für die meisten Prüflinge) unbekannte Gesetze abgeprüft. Im Ergebnis sind derartige Konstellationen dankbar, da eine Lösung oft anhand des Gesetzes und mittels der juristischen Auslegungscanone ermittelt werden kann. Die Kenntnis der zugrundeliegenden Entscheidung wird aber insbesondere dann bedeutsam, wenn das Gericht Erwägungen anstellt, auf die man im Zweifelsfall nicht ohne Weiteres gekommen wäre.
Die taz berichtet über schwere Zeiten für Nackedeis. Demnach dürfen die Schweizer Kantone das Nacktwandern auf ihrem Territorium verbieten und Zuwiderhandlungen auch entsprechend mit Bußgeld bewähren. Die Anwälte der Nackwanderer-Lobby brachten vor, dass ein solches Verbot in unverhältnismäßiger Weise in die persönliche Freiheit der Nacktwanderer eingreife. Angesichts der omnipräsenten Nacktheit in den Medien entspreche eine solche Verbotsnorm nicht dem Schutzbedürfnis der Mehrheit der Bevölkerung. Aufgrund der Aktualität und der Medienwirksamkeit erscheint es deshalb erforderlich, eine Analyse nach deutschem Recht vorzunehmen.
Rechtslage in Deutschland
In Deutschland können entsprechende Handlungen gemäß § 118 OWiG geahndet werden. Nach dieser Norm handelt ordnungswidrig, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Vertreter in der Literatur rügten erfolglos, dass diese Vorschrift gegen das Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 Abs. 2 GG verstoße (so etwa Bohnert, NStZ 1988, 134).
Schutzgut
Die unbestimmte Vorschrift des § 118 OWiG, schützt den Bestand der öffentlichen Ordnung, worunter die allgemeine Gesellschaftsordnung oder Verkehrssitte verstanden werden. Als Gesellschaftsordnung sollen alle anerkannten Regeln und Einrichtungen anzusehen sein, die Erwartung gegenseitiger Rücksichtnahme, Duldung und Achtung eines friedlichen äußeren Zusammenlebens eingeschlossen (vgl. Bohnert, OWiG
3. Auflage 2010, § 118 Rn. 2). Verboten ist demnach etwa das Nacktjoggen auf öffentlichen Straßen und Anlagen (so jedenfalls OLG Karlsruhe NStZ-RR 2000, 309).
Nur bei Drittgefährdung
Beim Nacktwandern in freier Natur wäre nach dem Wortlaut des § 118 OWiG insofern im Einzelfall festzustellen, ob auch Dritte von diesem Unterfangen betroffen wären – sprich, ob auch Dritte dem Anblick der Nacktwanderer ausgesetzt sind. Ein striktes per se Verbot im Hinblick auf Nackwandern besteht in Deutschland somit nicht. Nur wenn dies in der Öffentlichkeit geschieht, kann ein Bußgeld verhängt werden. Gleichwohl ist zu beachten, dass auf öffentlich zugänglichen Wanderwegen – auch wenn diese abgelegen sind und nicht oft frequentiert werden – ein solcher Sachverhalt wohl in aller Regel gegeben sein wird, da zumindest die Wahrscheinlichkeit besteht, dass Dritte belästigt werden.
Bezüge zum Polizei- und Ordnungsrecht
Für Gefahrenabwehrkonstellationen ist bedeutsam, dass das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht in allen landesrechtlichen Generalklauseln die öffentliche Sicherheit als Schutzgut ansieht. Als Schutzgut erfasst ist demnach insbesondere auch die gesamte Rechtsordnung, die wiederum § 118 OWiG umfasst. Sofern also ein Verstoß gegen § 118 OWiG wahrscheinlich ist, etwa wenn ein Nacktwanderer seine Route ankündigt oder sogar bereits losgewandert ist, können nach Polizei- bzw. Ordnungsrecht Maßnahmen vorgenommen werden.
Zu beachten ist, dass in den Bundesländern, bei denen die öffentliche Ordnung gleichzeitig auch Schutzgut der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklauseln ist, dennoch primär auf die öffentliche Sicherheit abgestellt werden muss- dies obwohl § 118 OWiG den Begriff der öffentlichen Ordnung bereits inne hat.