Die Berliner Morgenpost hat vorgestern ein aktuelles Urteil des BGH (Urteil vom 2. November 2011 – 2 StR 375/11) aufgegriffen, an dem sich vortrefflich typischer Prüfungsstoff durchexerzieren lässt. In der Sache ging es um die Ausübung des Notwehrrechts nach § 32 StGB im Rahmen eines Erlaubnistatbestandsirrtums (sog. Putativnotwehr). Da das Urteil noch nicht im Volltext abgedruckt ist, können wir den Ausführungen z.Z. nur die Infos aus der Pressemitteilung zu Grunde legen. Eine kurze Darstellung der Entscheidungsgründe wird ggf. nachgereicht. Der Sachverhalt entstammt 1:1 aus der Pressemitteilung und liest sich wie eine Klausur.
Sachverhalt
Das Landgericht hat Folgendes festgestellt: Der Angeklagte, ein führendes Mitglied des Motorradclubs „Hell´s Angels“, hatte erfahren, dass er von Mitgliedern des konkurrierenden Clubs „Bandidos“ ermordet werden solle. Zeitgleich erließ das Amtsgericht in einem gegen den Angeklagten geführten Ermittlungsverfahren einen Durchsuchungsbefehl für seine Wohnung. Wegen der zu befürchtenden Gewaltbereitschaft des Angeklagten und seiner polizeibekannten Bewaffnung wurde zur Vollstreckung des Durchsuchungsbefehls ein Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei hinzugezogen.
Am Tattag versuchte das SEK gegen 6.00 Uhr morgens, die Tür des Wohnhauses des Angeklagten [A] aufzubrechen, um ihn und seine Verlobte im Schlaf zu überraschen. Der Angeklagte erwachte durch die Geräusche an der Eingangstür, bewaffnete sich mit einer Pistole Kal. 45, die mit acht Patronen geladen war, und begab sich ins Treppenhaus, wo er das Licht einschaltete. Er erblickte von einem Treppenabsatz aus durch die Teilverglasung der Haustür eine Gestalt, konnte diese aber nicht als Polizisten erkennen. Vielmehr nahm er an, es handle sich um schwerbewaffnete Mitglieder der „Bandidos“, die ihn und seine Verlobte töten wollten. Er rief: „Verpisst Euch!“ Hierauf sowie auf das Einschalten des Lichts reagierten die vor der Tür befindlichen SEK-Beamten nicht; sie gaben sich nicht zu erkennen und fuhren fort, die Türverriegelungen aufzubrechen.
Da bereits zwei von drei Verriegelungen der Tür aufgebrochen waren und der Angeklagte in jedem Augenblick mit dem Eindringen der vermeintlichen Angreifer rechnete, schoss er ohne weitere Warnung, insbesondere ohne einen Warnschuss abzugeben, nun gezielt auf die Tür, wobei er billigend in Kauf nahm, einen der Angreifer tödlich zu treffen. Das Geschoss durchschlug die Verglasung der Tür, drang durch den Armausschnitt der Panzerweste des an der Tür arbeitenden Polizeibeamten [P] ein und tötete diesen.
[Hat sich der Angeklagte A wegen Totschlags gemäß § 212 Abs.1 StGB strafbar gemacht?]
Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich nur um einen Lösungsvorschlag. Er erhebt keinen Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit. Darstellungen sind zum Teil verkürzt.
§ 212 Abs.1
Indem A die Schüsse auf P abgegeben hat, könnte er sich wegen Totschlags gemäß § 212 Abs.1 StGB strafbar gemacht haben.
I. Die objektiven Tatsbestandsmerkmale sind erfüllt. A hat durch die das Abfeuern der Pistole in Richtung der Glasscheibe den P tödlich verletzt und damit ursächlich dessen Tod herbeigeführt.
II. a) A müsste subjektiv mit Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung gehandelt haben, wobei ein dolus eventualis schon ausreicht. Hier hat A den Tod eines Menschen zumindest billigend in Kauf genommen, sodass dolus eventualis zu bejahen ist. A hat vorsätzlich gehandelt.
b) Problematisch könnte sein, dass A zwar vorsätzlich (s.o.) gehandelt hat, sein Vorsatz aber auf die Tötung eines vermeintlichen „Bandidos“-Mitglieds und nicht auf die eines Polizeibeamten gerichtet war. Verwechselt der Täter sein Tatopfer mit einer anderen Person, zum Beispiel auf Grund schlechter Lichtverhältnisse, liegt regelmäßig ein sog. error in persona vor. Der Vorsatz des Täters war damit auf ein ganz anderes Tatopfer und nicht auf P gerichtet. Diese Abweichung vom vorgestellten Tatverlauf ist jedoch dann unbeachtlich, wenn das getroffene Objekt rechtlich gleichwertig (Joecks SK § 15 Rz.4ff) ist, da der Gesinnungsunwert in gleicher Weise seine Verwirklichung gefunden hat. Hier hat A anstelle eines Bandidos-Mitglieds irrtümlich einen Polizeibeamten erschossen. In beiden Fällen geht es um den Angriff auf einen Menschen. Mithin ist jeweils das Rechtsgut „Leben“ betroffen, sodass eine Gleichwertigkeit im obigen Sinne besteht. Der error in persona bei A ist unbeachtlich.
Hinweis: Die Ausführungen zum objektiven und subjektiven Tatbestand sollten möglichst knapp gehalten werden, wenn – wie hier – die Sachlage eindeutig ist.
III. Die Tötung des P ist rechtswidrig, wenn keine Rechtfertigungsgründe eingreifen. A könnte gemäß § 32 StGB gerechtfertigt sein.
1. Dafür müsste zum Zeitpunkt der Tat A sich in einer Notwehrlage befunden haben.
a) Angriff ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen. Hier haben die Polizeibeamten Vorkehrungen getroffen, in das Gebäude bzw. in die Wohnung des A einzudringen und sie zu durchsuchen. Die Wohnung und die Privatsphäre des Einzelnen sind von der Rechtsordnung geschützt. Ein Angriff war folglich gegeben.
b) Gegenwärtig ist jeder Angriff, der unmittelbar bevorsteht, gerade begonnen hat oder fortdauert. Die Beamten standen unmittelbar davor, sich Zutritt zum Gebäude des A zu verschaffen, indem sie bereits 2 von 3 Verriegelungen an der Haustür beseitigt hatten. Folglich war der Angriff auch gegenwärtig.
c) Es könnte jedoch an der Rechtswidrigkeit des Angriffs fehlen. Diese entfällt, wenn die Beamten ihrerseits zu der Angriffshandlung berechtigt gewesen waren. Vorliegend war gegen A ein Durchsuchungsbefehl nach §§ 102ff StPO im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens rechtmäßig angeordnet worden. Die Durchsuchung war auf die Wohnung des A bezogen. Anhaltspunkte, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme begründen könnten, sind nicht ersichlich. Folglich waren die Beamten in ihrem Vorgehen gerechtfertigt.
2. Mangels eines rechtswidrigen Angriffs auf A scheidet § 32 StGB als Rechtfertigungsgrund aus. Sonstige Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich.
IV. Indem A darüber geirrt hat, „Bandidos“-Mitglieder seien gekommen, um ihn „zu ermorden“, könnte ein Erlaubnistatbestandsirrtum gegeben sein, sodass A straflos wäre. A müsste irrtümlich die Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes angenommen haben.
Hinweis: Andere prüfen den ETB in der Schuld. Mit Blick auf den Streit um die Rechtsfolge beim ETB (dazu gleich mehr) ist m.E. ein eigener Prüfungspunkt „unverfänglicher“. Geschmackssache.
1. A könnte irrtümlich angenommen haben, er sei zur Notwehr nach § 32 StGB berechtigt. Sein Vorstellungsbild müsste alle objektiven und subjektiven Merkmale der Notwehr umfassen.
a) Aus Sicht des A bestand in dem Verhalten der Beamten ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf sein Leben. Die mutmaßlichen „Bandidos“-Mitglieder waren nach der Vorstellung des A gekommen, um ihn zu töten. Eine Notwehrlage wäre in diesem Fall zu bejahen.
b) Ferner müsste unter dieser Prämisse die Notwehrhandlung erforderlich gewesen sein. Erforderlich ist die Handlung dann, wenn sie dazu geeignet ist, also grundsätzlich dazu in der Lage ist, den Angriff abzuwehren oder ihm zumindest ein Hindernis in den Weg zu stellen und dies das mildeste zur Verfügung stehende Mittel darstellt. Der Schuss war zumindest geeignet, die „Angreifer“ zumindest in ihrem Vorgehen zu verlangsamen und ggf. in die Flucht zu schlagen. Fraglich ist, ob A auch das ihm zur Verfügung stehende, mildeste Mittel angewendet hat.
aa) Der Verteidiger kann bei mehreren unterschiedlich belastenden Mitteln dasjenige anwenden, das den Angriff am effektivsten zurückschlägt . Unter mehreren gleichwirksamen Möglichkeiten ist diejenige zu wählen, die den geringsten Schaden anrichtet (BGHSt 3, 217). Einem gezielten Schuss muss daher in der Regel eine Androhung des Waffeneinsatzes, ein Warnschuss oder ein Beinschuss vorausgehen, wenn der Angreifer auf andere Weise nicht aufgehalten werden kann (vgl. Joecks § 32 Rz. 14; BGH in stdr Rspr). Abzustellen ist dabei auf die Sicht eines Durschnittsbetrachters objektiv ex ante. Nach diesen allgemeinen Gesichtspunkte hätte A hier keine andere Wahl gehabt, als sich gegen eine größere Anzahl mutmaßlich schwerbewaffneter, gewaltbereiter „Bandidos“ mittels Waffengewalt zu verteidigen. In Anbetracht dessen, dass er über die genaue Anzahl, Absichten und vor allem Bewaffnung der „Eindringliche“ im Unklaren war, wäre es A aber zumutbar gewesen, den Waffeneinsatz zumindest in irgendeiner Form anzukündigen. Der Ausruf „Verpisst euch!“ konnte von den Angreifern lediglich dahingehend gedeutet werden, dass A mit dem Eindringen in dessen Wohnhaus nicht einverstanden war. Eine Ankündigung des unmittelbaren Schusswaffengebrauchs war damit nicht verbunden.
bb) Der BGH hingegen sieht im konkreten Fall den Schuss ohne entsprechende Vorwarnung als von § 32 StGB gedeckt an. Dazu der BGH in der Pressemitteilung
[…] Danach muss der gezielte Einsatz einer lebensgefährlichen Waffe zwar grundsätzlich stets zunächst angedroht und ggf. auch ein Warnschuss abgegeben werden. Ein rechtswidrig Angegriffener muss aber nicht das Risiko des Fehlschlags einer Verteidigungshandlung eingehen. Wenn (weitere) Warnungen in der konkreten „Kampflage“ keinen Erfolg versprechen oder die Gefahr für das angegriffene Rechtsgut sogar vergrößern, darf auch eine lebensgefährliche Waffe unmittelbar eingesetzt werden. Nach den für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des Landgerichts war hier ein solcher Fall gegeben. Im Augenblick – irrtümlich angenommener – höchster Lebensgefahr war dem Angeklagten nicht zuzumuten, zunächst noch durch weitere Drohungen oder die Abgabe eines Warnschusses auf sich aufmerksam zu machen und seine „Kampf-Position“ unter Umständen zu schwächen. […]
Demnach muss auf den konkreten Einzelfall abgestellt werden. Eine generelle Betrachtung reicht nach der Rechtssprechung des BGH nicht aus. In Verbindung mit den dem A bekannten Mordplänen und der Gesamtsituation (früher Morgen, zahlreiche und gut ausgerüstete „Angreifer“, keine Reaktion auf das Rufen des A) war es A nicht zumutbar, eine „abwartende“ oder defensive Haltung einzunehmen.
Die Verteidigungshandlung war damit insgesamt erforderlich.
c) A hat mit dem notwendigen Verteidigungswillen gehandelt, indem er den Angriff durch Schüsse durch die Glastür beenden wollte. Die Notwehrhandlung war in Anbetracht der Umstände (s.o.) auch geboten. Insbesondere ist kein krasses Missverhältnis zwischen Angriffs- und Verteidigungshandlung zu erkennen, da A davon ausgehen konnte, dass die Angreifer ebenfalls bewaffnet und „zu allem bereit“ erschienen waren.
Hinweis: Zur Gebotenheit des Notwehrrechts findet sich hier bereits ein ausführlicher Beitrag
Zwischenergebnis: Die Voraussetzungen des § 32 StGB waren aus Sicht des A zum Zeitpunkt der Verteidigung folglich erfüllt.
2. Die Rechtsfolge des ETB ist umstritten. Vertreter der (veralteten) Vorsatztheorie sehen das Unrechtsbewusstsein als einen Teil des Vorsatzes, welcher bei fehlendem Unrechtsbewusstsein entfallen soll. Die strenge Schuldtheorie verortet den ETB allein in der Schuld und lässt § 17 StGB zur Anwendung kommen. Die eingeschränkte Schuldtheoerie in ihren jeweiligen Spielarten hingegen erkennt die Ähnlichkeit des ETB mit dem Tatumstandsirrtum nach § 16 StGB (Wahrnehmungsmangel) und lässt mit unterschiedlichen Begründungen den Vorsatz im Ergebnis entfallen. Die jeweiligen Schuldtheorien lassen nach § 16 (direkt oder analog) im Ergebnis den Vorsatz oder nach § 17 StGB die Schuld entfallen. Der Täter bleibt straflos.
Die vertretenen Ansichten kommen jedoch nur dann zu unterschiedlichen Ergebnissen, wenn der Irrtum vermeidbar war . Denn § 17 StGB S.2 StGB sieht nur eine Strafmilderung vor, während § 16 StGB (direkt oder analog) den Vorsatz unmittelbar ausschließt War er unvermeidbar, ist ein Streitentscheid nicht von Belang (vgl. Joecks § 16 Rz.44), da sowohl nach § 16 StGB, als auch nach § 17 StGB die Straflosigkeit des Täters anzunehmen ist
Hinweis: Hiervon ist die Frage nach der etwaigen Strafbarkeit eines Teilnehmers zu unterscheiden, wenn also eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat vorliegen muss.
Unvermeidbar ist ein Irrtum nur dann, wenn er auch bei hinlänglicher Sorgfalt nicht hätte verhindert werden können. Nach den Gesichtspunkten des BGH war es dem A schon nicht zumutbar, auf eine andere Art als durch unmittelbare Waffengewalt der Situation Herr zu werden. Entsprechend lässt sich ebenso für die Frage der Vermeidbarkeit argumentieren, dass A schlichtweg keine Möglichkeit hatte, die Sachlage auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Der ETB war damit unvermeidbar.
Ergebnis: A hat sich nicht nach § 212 Abs.1 StGB strafbar gemacht.
Hinweis: Ferner wäre noch § 222 StGB zu prüfen und im Ergebnis abzulehnen, da der BGH zu dem Schluss gekommen ist, dass A den Irrtum nicht fahrlässig verursacht hat.
Fazit:
Die Entscheidung zeigt, dass die allgemeinen Grundsätze zur Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung nicht ausreichen, sondern der konkrete Einzelfall betrachtet werden muss. Für die Klausur heißt das, möglichst alle relevanten Gesichtspunkte aus dem Sachverhalt in die Lösung einzubauen und gegeneinander abzuwägen, wobei es weniger auf das richtige Ergebnis als auf eine saubere Argumentation ankommt.
Bezüglich der Notwehr ist zunächst der „reguläre“ Rechtfertigungsgrund des § 32 StGB aufzugreifen und abzulehnen, bevor es in die Prüfung des ETB geht. Die hierzu vertretenen Meinungen sollten in etwa bekannt sein, wobei im vorliegenden Fall aus den genannten Gründen der Schwerpunkt nicht auf einem Streitentscheid liegt. Diesen zu erzwingen, wäre in der Klausur ohnehin ein schwerer Fehler und zumeist nur für die Strafbarkeit eines Teilnehmers relevant. Eine detailliertere Darstellung der vertretenen Auffassungen hinsichtlich des ETB findet in sich in jedem Lehrbuch oder demnächst auf Juraexamen.info.
Überraschend an der Entscheidung ist, dass an die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung im Milieau der Schwerstkriminalität keine höheren Anforderungen gestellt werden. Wer eine geladene Schusswaffe griffbereit aufbewahrt und mit einem Mordanschlag in den eigenen vier Wänden unmittelbar rechnet, ist sich der Gefahren seiner „Aktivitäten“ in der Regel bewusst und – im Gegensatz zu einem „Laien“ – entsprechend „kampferprobt“. Folglich müsste es gerade solchen Personen zumutbar sein, den Schusswaffengebrauch zumindest durch einen Warnschuss anzukündigen. Die genauen Entscheidungsgründe bleiben abzuwarten.