Das BVerfG hat mit seinem Urteil vom 27.02.2018 – 2 BvE 1/16 eine äußerst examensrelevante – und auch gesellschaftspolitisch aufgeladene – Entscheidung zum Verhältnis staatlicher Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zum Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG erlassen. Gegenstand des Urteils ist eine kritische Äußerung der Bildungsministerin Johanna Wanka zu einer von der AfD in Berlin angemeldeten Versammlung. Der Fall weist Ähnlichkeiten zum Verfahren gegen die Thüringer Landesministerin Heike Taubert auf, die 2014 auf der Webseite ihres Ministeriums zum Protest gegen einen NPD Parteitag aufrief und vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof unterlag. Die nunmehr gegen die Bundesministerin ergangene Entscheidung behandelt grundlegende staatsrechtliche Fragestellungen und sollte deshalb jedem Studenten und Examenskandidaten bekannt sein:
I. Sachverhalt (der Pressemitteilung entnommen)
Die Antragstellerin, die Partei „Alternative für Deutschland“, war Veranstalterin einer in Berlin für den 7. November 2015 angemeldeten Versammlung unter dem Motto „Rote Karte für Merkel! – Asyl braucht Grenzen!“ Zu dieser Veranstaltung veröffentlichte die Antragsgegnerin, die damalige Bundesministerin für Bildung und Forschung, am 4. November 2015 auf der Homepage des von ihr geführten Ministeriums eine Pressemitteilung, in der sie sich zu der geplanten Demonstration wie folgt äußerte: „Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden. Björn Höcke und andere Sprecher der Partei leisten der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub. Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben wie der Pegida-Chef Bachmann, erhalten damit unerträgliche Unterstützung.“
II. Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung
Den Ausgangspunkt für die gesellschaftspolitische Betätigung der Bundesministerin bildet das Recht der Bundesregierung, Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Das BVerfG stellt zunächst fest, dass der Bundesregierung – als oberstes Organ der vollziehenden Gewalt – mit den anderen dazu berufenen Verfassungsorganen die Aufgabe der Staatsleitung obliegt und diese als integralen Bestandteil die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit einschließt. Es bedarf insofern keiner gesonderten Ermächtigung. Das Gericht betont zum einen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit, gleichzeitig jedoch auch die Notwendigkeit derartiger Arbeiten: Die Darlegung und Erläuterung der Regierungspolitik hinsichtlich getroffener Maßnahmen und künftigen Vorhaben ist unabdingbar, um den Grundkonsens im demokratischen Gemeinwesen zu erhalten und den Bürger zur eigenverantwortlichen Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu befähigen. Die Öffentlichkeitsarbeit erlaubt insbesondere die sachgerechte, objektiv gehaltene Informierung über gesellschaftliche Vorgänge, ohne dabei auf die eigene gestaltende Politik der Bundesregierung beschränkt zu sein. Für die in Frage stehende Streitigkeit besonders wichtig ist, dass die Bundesregierung auch Empfehlungen und Warnungen aussprechen darf.
III. Das Gebot staatlicher Neutralität
Das Recht zur Befugnis, Informations- und Öffentlichkeitsarbeit wahrzunehmen, steht in direkten Zusammenhang zum Neutralitätsgebot staatlicher Organe. Diese können aufgrund ihrer Reichweite und den ihnen zugesprochenen Ressourcen nachhaltig und in besonderem Maße auf die politische Willensbildung innerhalb der Gesellschaft einwirken. Das BVerfG stellt fest, dass es insofern zwar hinzunehmen sei, dass das Regierungshandeln sich in erheblichem Umfang auf die Wahlchancen der am Wettbewerb teilnehmenden Parteien auswirke – ein zielgerichteter Eingriff der Bundesregierung sei hiervon jedoch zu unterscheiden. Der Senat macht deutlich, dass es der Bundesregierung untersagt sei, sich mit einzelnen Parteien zu identifizieren und die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel und Möglichkeiten zu deren Gunsten bzw. Lasten einzusetzen.
Daraus folgt, dass die Bundesregierung grundsätzlich berechtigt ist, gegen ihre Politik gerichtete Angriffe öffentlich zurückzuweisen. Allerdings ist sie dazu verpflichtet, sowohl mit Blick auf die Darstellung als auch der Auseinandersetzung mit der ausgeübten Kritik das Sachlichkeitsgebot zu wahren. Dieses verbiete insbesondere eine einseitige parteiergreifende Stellungnahme für oder gegen einzelne politische Parteien. Im Kern bedeutet dies, dass die Bundesregierung bzw. einzelne Bundesminister geäußerte Kritik nicht zum Anlass nehmen darf, für Regierungsparteien zu werben oder Oppositionsparteien zu bekämpfen. Letztlich läuft diese Feststellung darauf hinaus, dass im Einzelfall zwischen (administrativer) Amtsausübung und eigener, von Staatsgewalt losgelöster parteipolitischer Betätigung des Amtsinhabers unterschieden werden muss.
IV. Recht der Parteien auf Chancengleichheit – Art. 21 Abs. 1 GG
Der aus Art. 21 Abs. 1 GG folgende Grundsatz der Chancengleichheit umfasst auch das Recht der Parteien, durch Demonstrationen und Versammlungen an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Das BVerfG stellt klar, dass hiermit jegliche einseitige Einflussnahme von Staatsorganen auf die Ankündigung oder Durchführung politischer Kundgebungen grundsätzlich unvereinbar ist. Unter Bezugnahme zu seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 140, 225) bestätigt der Senat erneut, dass der Grundsatz der Chancengleichheit die Beachtung der staatlichen Neutralitätspflicht auch außerhalb von Wahlkampfzeiten erfordert. Veranstaltet eine Partei eine politische Kundgebung, nimmt sie ihren durch Art. 21 Abs. 1 GG zugewiesenen Verfassungsauftrag wahr. In der Konsequenz sind staatliche Organe in Anbetracht ihrer Neutralitätspflicht dazu berufen, Bürger nicht zur Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an derartigen Veranstaltungen aufzufordern bzw. zu veranlassen. Genau das stellte bereits der Thüringer Verfassungsgerichtshof im Verfahren gegen die Landesministerin Taubert klar (Thüringer VerfGH Urteil v. 3.12.2014 – 2/14, juris).
V. Resultat: Pressemitteilung der Bundesministerin verstößt gegen das Recht auf Chancengleichheit
Vor diesem Hintergrund stellt das BVerfG fest, dass die auf der Homepage des Ministeriums veröffentlichte Erklärung gegen das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG verstößt. Die Bundesministerin habe die Erklärung durch die Veröffentlichung der amtseigenen Webseite mit der „Autorität des Ministeramts unterlegt“ und missachte dadurch das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb. Der Senat stellt im Rahmen der Missachtung des staatlichen Neutralitätsgebots insbesondere auf zwei Umstände ab: Zum einen handelte die Bundesministerin in amtlicher Funktion:
„Einem Handeln in amtlicher Funktion steht nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin im Text der Pressemitteilung nicht ausdrücklich auf ihr Ministeramt Bezug genommen, sondern sich nur unter ihrem bürgerlichen Namen geäußert hat. Die Homepage eines Bundesministeriums dient der Verlautbarung von Mitteilungen zu Angelegenheiten in seinem Zuständigkeitsbereich. Daher stellt sich die Pressemitteilung vom 4. November 2015 nach ihrem objektiven Erscheinungsbild als Verlautbarung der Antragsgegnerin in ihrer Eigenschaft als Bundesministerin für Bildung und Forschung dar. Der Verzicht auf die Amtsbezeichnung reicht nicht aus, um ein Handeln in nichtamtlicher Funktion zu dokumentieren. Außerdem erkennt die Antragsgegnerin selbst an, dass sie bei der Veröffentlichung der streitgegenständlichen Pressemitteilung in amtlicher Funktion gehandelt hat, wenn sie darauf verweist, dass sie als Mitglied der Bundesregierung in Ausübung ihres Ministeramts einen Angriff auf die Regierungspolitik unter Einsatz ihrer Amtsressourcen zurückgewiesen habe.“
Zum anderen gibt es im Rahmen der staatlichen Informations- und Öffentlichkeitsarbeit kein „Recht auf Gegenschlag“:
„Ein „Recht auf Gegenschlag“ dergestalt, dass staatliche Organe auf unsachliche oder diffamierende Angriffe in gleicher Weise reagieren dürfen, besteht nicht. Die Auffassung der Antragsgegnerin, reaktive Äußerungen auf verbale Angriffe seien vom Neutralitätsprinzip gedeckt, soweit und solange sie sich nach Form und Inhalt in dem Rahmen hielten, der durch die kritische Äußerung vorgegeben worden sei, geht fehl. Sie hätte zur Folge, dass die Bundesregierung bei einem auf unwahre Behauptungen gestützten Angriff auf ihre Politik ihrerseits berechtigt wäre, unwahre Tatsachen zu verbreiten. Dem steht die Verpflichtung staatlicher Organe entgegen, in Bezug genommene Tatsachen korrekt wiederzugeben (vgl. BVerfGE 57, 1 (8)). Auch der Hinweis, die gesellschaftliche Entwicklung habe dazu geführt, dass nur das „lautstark“ Gesagte Gehör finde, und dass es nicht sein könne, dass eine politische Partei sich das Recht nehme, diskreditierend in der öffentlichen Debatte zu agieren und gleichzeitig von staatlichen Organen eine zurückhaltende Sprache einzufordern (vgl. VerfGH des Saarlandes, Urteil vom 8. Juli 2014 – Lv 5/14 -, juris, Rn. 42, 45), ändert nichts daran, dass der Grundsatz der Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG der abwertenden Beurteilung einzelner politischer Parteien durch staatliche Organe grundsätzlich entgegensteht. Die Bundesregierung ist darauf beschränkt, im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit über das Regierungshandeln aufzuklären, hiergegen erhobene Vorwürfe in der Sache aufzuarbeiten und diffamierende Angriffe zurückzuweisen. Darüber hinausgehender wertender Einflussnahmen auf den politischen Wettbewerb und die an diesem beteiligten Parteien hat sie sich – auch soweit es sich um bloß reaktive Äußerungen handelt – aufgrund der Gebote der Neutralität und Sachlichkeit zu enthalten.“
VI. Ausblick für die 19. Legislaturperiode
Das BVerfG verdeutlicht mit seiner Entscheidung nochmals Grund und Grenzen staatlicher Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. In Anbetracht der aktuellen politischen Gemengelage schlägt das Gericht mit seinem Urteil grundlegende Eckpfeiler für die Konfliktszenarien der nächsten Jahre ein. Die rechtliche Würdigung der Kritik der Bundesministerin ist freilich nicht unumstritten. Gerade aufgrund der Tatsache, dass die Erklärung außerhalb der Wahlkampfzeit erfolgte, besteht Argumentationsspielraum. Denkbar ist insoweit ein gelockertes Verständnis des Sachlichkeitsgebots. In der Klausur muss bei der Prüfung des Art. 21 Abs. 1 GG vor allem die Rechtsnatur der Erklärung herausgearbeitet werden: Handelt das Regierungsmitglied in Wahrnehmung seines Ministeramts oder nimmt es außerhalb seiner amtlichen Funktion am politischen Meinungskampf teil? Punkten wird, wer mit Blick auf das Neutralitätsgebot umfassend argumentiert und den Rahmen der staatlichen Informations- und Öffentlichkeitsarbeit überzeugend absteckt.
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