Staatsrechtliche Urteile sind rar gesät; umso mehr sollte man zumindest die Grundsätze der aktuellen Rechtsprechung aus diesem Themenkomplex verinnerlicht haben. Ein wichtiges Urteil aus diesem Bereich ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 31.01.2012 (2 BvC 3/11), das eine sehr gute Wiederholung der Grundsätze zur Gleichheit der Wahl ermöglicht.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer wendete sich hier gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag. Moniert wurde dabei, dass die Wahl deshalb rechtswidrig sei, weil die Einteilung des Wahlgebiets d.h. der jeweiligen Wahlkreise) fehlerhaft war. Dieser Fehler resultierte daraus, dass bei Festlegung der Wahlgebiete zwar die Einwohnerzahl berücksichtigt wurde, hierbei allerdings auf die Gesamtbevölkerung (also auch Minderjährige) abgestellt wurde und nicht allein auf die Zahl der Wahlberechtigten. Hieraus resultiere eine Verletzung der Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG).
Prozessuale Einkleidung
Prozessual handelt es sich hier um eine sog. Wahlprüfungsbeschwerde, die gemäß Art. 41 Abs. 2 i.V.m. Art. 93. Abs. 1 Nr. 5 GG beim BVerfG einzulegen ist. Spezielle Vorschriften hierzu finden sich zudem in § 13 Abs. 1 Nr. 5 und 48 BVerfGG.
Vorrangig vor einem solchen Wahlprüfungsverfahren ist zunächst die Wahlprüfung durch den Deutschen Bundestag (Art. 41 Abs. 1 GG), die durch einen Einspruch gegen die Wahl (vgl. § 2 WahlPrG) initiiert wird. Nur wenn diese negativ ist, ist der Gang zum Bundesverfassungsgericht zulässig. Zu wahren ist zudem eine Zweimonatsfrist nach der Entscheidung des Bundestages (§ 48 Abs. 1 BVerfGG).
Alle diese Voraussetzungen erschließen sich aber unproblematisch aus dem Gesetz.
Materielle Fragen
Bedeutsam sind die materiellen Fragen. Die Wahlprüfungsbeschwerde wäre dann begründet, wenn in mandatsrelevanter Weise gegen Wahlrechtsgrundsätze verstoßen wurde. Dabei muss auch die Rechtmäßigkeit der jeweiligen Normen überprüft werden. Hier steht eine Verletzung der durch Art 38 GG gewährleisteten Gleichheit der Wahl im Raum. Diese könnte daraus resultieren, dass in Kreisen mit einem hohen Minderjährigenanteil weniger Wahlberechtigte notwendig sind, um einen Kandidaten zu wählen, als in Kreisen mit einem niedrigen Minderjährigenanteil (und damit mehr Wahlberechtigten).
a) Allgemeine Grundsätze der Wahlkreiseinteilung
Um die Gleichheit der Wahl zu wahren, ist:
„Die gleiche Größe der Wahlkreise im geltenden Wahlsystem sowohl für den einzelnen Wahlkreis als auch berechnet auf die Bevölkerungsdichte jedes Landes Bedingung der Wahlgleichheit (vgl. BVerfGE 95, 335 <363>). Diese muss nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch im Vergleich aller Wahlkreise untereinander gewährleistet sein“
Allerdings muss der Gesetzgeber nur gleiche Chancen schaffen; nicht berücksichtigt werden muss hingegen eine unterschiedliche wahlbeteiligung oder die unterschiedlich hohe Anzahl von ungültigen Stimmen. Lediglich der rahmen muss faktisch für eine Gleichheit sorgen (vgl. BVerfGE 95, 335, 363).
Zu beachten ist auch, dass eine absolute Gleichheit nicht erreicht werden kann. Nicht jeder Wahlkreis kann die exakte Anzahl von Einwohnern umfassen.
„Insbesondere bei der Einteilung des Wahlgebietes in gleich große Wahlkreise steht dem Gesetzgeber ein gewisser Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 95, 335 <364>).
Bei der Einschätzung der die Grundlage der Gestaltungsentscheidungen bildenden tatsächlichen Gegebenheiten steht dem Gesetzgeber ein Spielraum bereits deshalb zu, weil sich der Grundsatz der Wahlgleichheit bei der Wahlkreiseinteilung nur näherungsweise verwirklichen lässt. So sind bei der Verteilung der Wahlkreise auf die Länder entsprechend ihren Bevölkerungsanteilen Abbildungsunschärfen hinzunehmen. Auch ist die Bevölkerungsverteilung einem steten Wandel unterworfen (vgl. BVerfGE 16, 130 <141>)“
Aus diesem Grund ist es zulässig, die Wahlkreisgrenzen weitestgehend mit historisch gewachsenen Grenzen, bspw. von Landkreisen etc. zu synchronisieren.
Eine Neuanpassung ist nur dann geboten, wenn tatsächlich eine signifikante Abweichung vom Durchschnitt vorliegt. In § 3 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG enthält das Bundeswahlgesetz hierzu eine Toleranzklausel.
b) Berücksichtigung von Minderjährigen
Der gesetzgeber hat damit einen vergleichsweise geringen Entscheidungsspielraum, in dem er die Wahlkreise festlegt. Hier kommt das Bundesverfassungsgericht, nach dieser eher allgemein gehaltenen Darstellung, zum entscheidenden Punkt, wenn es darlegt:
„Die in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte Wahlrechtsgleichheit gebietet im Grundsatz eine Einteilung der Wahlkreise auf der Grundlage der Zahl nur der Wahlberechtigten.“
Die Gleichheit knüpft gerade an den Wähler (bzw. zumindest potentiellen Wähler) nicht aber an die Gesamtbevölkerung an. Nur und gerade diese sind maßgeblich. Im Grundsatz ist damit bei der Wahlkreiseinteilung auf die Wahlbevölkerung abzustellen.
Allerdings will das Bundesverfassungsgericht hiervon eine Ausnahme zulassen:
„Die Wahlrechtsgleichheit wird allerdings auch bei Heranziehung der deutschen Wohnbevölkerung als Bemessungsgrundlage nicht beeinträchtigt, solange sich der Anteil der Minderjährigen an der deutschen Bevölkerung regional nur unerheblich unterscheidet.“
Angewendet werden kann hierzu auch die Toleranzgrenze aus § 3 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG. Selbst wenn, im Einzelfall, über die Grenzen des § 3 BWahlG hinausreichende Unterschiede auftreten, so sind diese dem gesetzgeber nicht anzulasten, hat dieser bei der festlegung der wahlkreisgrenzen doch keine Fehler begangen, insbesondere weil an der annahme einer nahezu gleichmäßigen Verteilung der Minderjährigen bis dato kein Zweifel geäußert wurde.
Dennoch schreibt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Anpassungspflicht der wahlkreise ins Stammbuch:
„Der Gesetzgeber ist jedoch gehalten, bei der Wahlkreiseinteilung künftig den Anteil der Minderjährigen an der Bevölkerung zu berücksichtigen. Er hat dabei sowohl die Werte in den Ländern als auch im Vergleich zwischen den einzelnen Wahlkreisen einschließlich der Tendenzen bei der Bevölkerungsentwicklung in den Blick zu nehmen. Sollte die Entwicklung zu einer erheblichen Ungleichverteilung zwischen den Ländern führen, wird der Gesetzgeber zu prüfen haben, ob er die Maßstabsnorm des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BWG ändert.“
Fazit/Examensrelevanz
Das Urteil ist offensichtlich vom Wille des Bundesverfassungsgerichts getragen, die Wirksamkeit der Wahl bestehen zu lassen, auch wenn im Einzelfall eine Verletzung von Art. 38 GG in Betracht kommt. Im konkreten Fall ist dieses pragmatische Denken wohl auch richtig; die juristische Begründung ist dennoch aber eher schwach. In der zukunft wird das Bundesverfassungsgericht einen solchen Verstoß wohl aber nicht mehr durchgehen lassen, wie der deutliche Hinweis an den Gesetzgeber am Ende zeigt.
Für das Examen interessant ist insbesondere die Darstellung der Wahlrechtsgrundsätze und ihre Berücksichtigung beim Zuschnitt der Wahlkreise. Folgende Punkte sollten hierzu beherrscht werden:
- Aus Art. 38 GG resultiert der Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Dieser ist auch beim Zuschnitt der Wahlkreise zu beachten.
- Eine absolute Gleichheit kann nicht erreicht werden, so dass dem gesetzgeber ein spielraum zusteht. Orientierungspunkte sind hierbei insbesondere historisch gewachsene Grenzen, die Kontinuität von Wahlkreisen und die territoriale Verankerung.
- Maßgeblich zur Ermittlung der Gleichheit ist allein die wahlberechtigte Bevölkerung.
- Das Abstellen auf die Gesamtbevölkerung kann aber dann zulässig sein, wenn keine signifikanten statistischen Unterschiede der Verteilung vorliegen. Zurückgegriffen werden kann hierfür auf die Grundsätze aus § 3 Abs. 1 BwahlG.
- Selbst wenn aber in der Vergangenheit entsprechende Unterschiede auftraten, so war die Wahl nicht rechtswidrig. Vielmehr st der Gesetzgeber bei der Einteilung der wahlkreise von einer Gleichverteilung der Minderjährigen ausgegangen. Es gab für ihn auch keinen Anlass, dies anzuzweifeln.
- Für die Zukunft sind die Wahlkreise dann aber entsprechend anzupassen.