Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Sie studierte Rechtswissenschaften in Düsseldorf und ist zurzeit als Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf tätig.
Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendstrafe? Einstellen oder aburteilen? Liest man sich erst einmal in die Grundlagen des Jugendstrafrechts ein, fällt auf: Das Jugendstrafrecht hat als Sonderstrafrecht für junge Täter*innen ein ganz eigenes Rechtsfolgensystem. Dieses nachvollziehen zu können, erfordert eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem JGG. Das Jugendstrafrecht geht mit Strafe nämlich deutlich anders um als das Erwachsenenstrafrecht. Es stellt den Erziehungsgedanken in den Vordergrund und nimmt Abstand von negativer Generalprävention. § 5 JGG enthält ein in sich geschlossenes eigenständiges System von Rechtsfolgen. § 5 JGG gilt für Jugendliche und über § 105 Abs. 1 JGG in großen Teilen für Heranwachsende und normiert als mögliche Rechtsfolgen eine Trias aus Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 JGG), Zuchtmitteln (§§ 13- 16 JGG) und der Jugendstrafe (§§ 17 ff. JGG). § 5 Abs. 1 JGG erfasst die reinen Erziehungsmaßnahmen, Abs. 2 die Ahndungsmittel (Zuchtmittel und Jugendstrafe). Wegen des unterschiedlichen Schwerpunktes in der Zielsetzung der Sanktionen sind die Rechtsfolgen des JGG gegenüber denen des Erwachsenenstrafrechts ein „aliud“ (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 5 JGG Rn. 2; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 5 Rn. 9). Gemäß § 8 JGG können die möglichen Sanktionen auch miteinander kombiniert werden.
I. Erziehungsmaßregeln
Fangen wir vorne an: Erziehungsmaßregeln können aus Anlass der Straftat angeordnet werden. Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Erziehungsmaßregeln sind (1) die strafrechtliche Verantwortlichkeit, (2) Erziehungsbedürftigkeit, (3) Erziehungsfähigkeit und (4) Erziehungsbereitschaft. Ob sie angeordnet werden, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichtes. Entscheidend ist, dass die Erziehungsmaßregeln aus der Sicht des Gerichts nur erzieherische, positiv-präventive Zwecke verfolgen dürfen; Gesichtspunkte der Sühne und Vergeltung dürfen keine Rolle spielen (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 9 Rn. 7). Die Erziehungsmaßregeln stehen unter dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie sind nicht dafür bestimmt, das Unrecht der Tat auszugleichen, sondern werden nur aus Anlass der Tat angeordnet. Was genau Erziehungsmaßregeln sind, normiert § 9 JGG: Nr. 1 die Erteilung von Weisungen, Nr. 2 die Anordnung, Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 12 in Anspruch zu nehmen. Diese Aufzählung ist erschöpfend und gilt gemäß § 105 Abs. 1 JGG auch für Heranwachsende. § 10 JGG definiert wiederum Weisungen als „Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen“. Kommen die Jugendlichen oder Heranwachsenden Weisungen schuldhaft nicht nach, so kann gemäß § 11 Abs. 3 JGG Jugendarrest verhängt werden, wenn eine Belehrung über die Folgen schuldhafter Zuwiderhandlung zuvor erfolgt war. Dieser Arrest wird in der Form des § 16 JGG angeordnet, ist also Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest. Die Erziehungsmaßregel „Hilfe zur Erziehung“ gemäß § 12 JGG wird in § 105 JGG nicht erwähnt und gilt daher nur für Jugendliche.
II. Ahndungsmittel
Reichen Erziehungsmaßregeln hingegen nicht aus, so hat das Gericht auf Ahndungsmittel (Zuchtmittel und Jugendstrafe) zurückzugreifen. Die Ahndungsmittel berücksichtigen neben dem Erziehungsgedanken ebenso die Sanktionszwecke der Sühne und Vergeltung.
III. Zuchtmittel
Auf der zweiten Stufe der Rechtsfolgentrias stehen nun die Zuchtmittel. Zuchtmittel haben nicht die Rechtswirkung einer Strafe. Die Verhängung von Zuchtmitteln setzt voraus, dass einerseits Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen, andererseits die einschneidendere Ahndungsform der Jugendstrafe nicht geboten ist (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, § 13 JGG Rn. 4; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 13 Rn. 7 ff.). § 13 Abs. 2 JGG enthält einen abschließenden Katalog von Zuchtmitteln: Die Verwarnung, die Erteilung von Auflagen und den Jugendarrest. Die Verwarnung gemäß § 14 JGGgilt als mildestes Zuchtmittel. Sie kommt bei leichten Verfehlungen in Betracht. Die Verwarnung kann isoliert ausgesprochen oder mit anderen Maßnahmen kombiniert werden (§ 8 JGG). Die Ermahnung unterscheidet sich von der Verwarnung dadurch, dass sie kein Zuchtmittel ist, formlos erteilt wird und zur Einstellung des Verfahrens führt. Auflagen gemäß § 15 JGG dienen der Ahndung der Tat. Das mit den Auflagen angeordnete Verhalten ist eine echte tatbezogene Sühneleistung mit dem erzieherischen Zweck, den Jugendlichen und Heranwachsenden von weiteren Straftaten abzuhalten. Abs. 1 enthält dabei eine abschließende Regelung der im Jugendstrafrecht zulässigen Auflagen: Schadenswiedergutmachung, Entschuldigung, Arbeitsleistungen und Zahlung eines Geldbetrages. Bei schuldhafter Nichterfüllung von Auflagen kann das Gericht entsprechend § 11 Abs. 3 JGG Jugendarrest als Ungehorsamsarrest verhängen (§ 15 Abs. 3 JGG). Der Jugendarrest gemäß § 16 JGG ist Freizeitarrest, Kurzarrest oder Dauerarrest (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 16 Rn. 27 ff.) und kann gegen Jugendliche sowie Heranwachsende verhängt werden. Jugendarrest ist kurzzeitiger Freiheitsentzug ohne Rechtswirkungen einer Strafe. Höchstmaß des Dauerarrestes ist ein Zeitraum von vier Wochen. Die oder der Verurteilte gilt nicht als vorbestraft.
IV. Jugendstrafe
In den §§ 17 ff. JGG finden sich die Vorschriften über die Jugendstrafe, dem letzten Glied der Rechtsfolgentrias. Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung. Eine Jugendstrafe kann gegen Jugendliche und Heranwachsende verhängt werden. Voraussetzung für die Verhängung ist gemäß § 17 Abs. 2 JGG das Vorliegen einer „schädlichen Neigung“, die in der Tat hervorgetreten ist, das Nichtausreichen von Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln zur Erziehung oder die Erforderlichkeit der Strafe aufgrund der Schwere der Schuld. Schädliche Neigungen liegen vor, „wenn bei dem Täter erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel zu beobachten sind, die ohne eine längere Gesamterziehung die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Sie können in der Regel nur bejaht werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat angelegt waren und im Zeitpunkt des Urteils noch gegeben sind und deshalb weitere Straftaten befürchten lassen.“ Die besondere Schwere der Schuld ist regelmäßig nur bei Tötungsdelikten oder Delikten mit Todesfolge gegeben. § 18 JGG gibt als Dauer der Jugendstrafe als Mindestmaß 6 Monate, als Höchstmaß 10 Jahre an. Entgegen § 18 Abs. 1 JGG beträgt bei Heranwachsenden die Höchststrafe bis zu zehn Jahren, bei Mord und Vorliegen der besonderen Schwere der Schuld bis zu 15 Jahren (§ 105 Abs. 3 JGG). Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Dauer der Jugendstrafe nach der erforderlichen erzieherischen Einwirkung zu bemessen. § 18 Abs. 2 JGG steht damit im Kontrast zum Zumessungsprogramm des allgemeinen Strafrechts in § 46 StGB und bildet die Grundlage für eine eigenständige jugendstrafrechtliche Zumessungslehre.
V. Strafaussetzung zur Bewährung
Bei einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht regelmäßig die Vollstreckung der Strafe unter den Voraussetzungen des § 21 JGG zur Bewährung aus. Bei einer günstigen Prognose ist die Strafaussetzung zwingend vorgeschrieben. Voraussetzung für eine günstige Prognose ist die Erwartung, dass die oder der Jugendliche oder Heranwachsende künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird, und zwar aufgrund der Möglichkeiten in der Bewährungszeit und ohne die Einwirkung des Strafvollzuges. Die Strafaussetzung ist sowohl von einer günstigen Sozial- als auch von einer positiven Sanktionsprognose abhängig (vgl. Diemer/Schatz/Sonne, § 21 JGG Rn. 8; Eisenberg/Kölbel, JGG, § 21 Rn. 11ff.). Die Höchstgrenze der Strafaussetzung zur Bewährung beträgt zwei Jahre und richtet sich damit nach dem allgemeinen Strafrecht. Die Bewährungszeit darf gemäß § 22 JGG drei Jahre nicht überschreiten und zwei Jahre nicht unterschreiten. Auflagen und Weisungen nach § 23 JGG sind als flankierende Maßnahmen zu der Strafaussetzung auf Bewährung möglich.
VI. Vorabentscheidung gemäß § 27 JGG
§ 27 JGG normiert keine eigenständige Rechtsfolge des Jugendstrafrechts im strafrechtlichen Sinne. Die Vorschrift erlaubt nur in bestimmten Fällen die Aufspaltung der sonst vorgeschriebenen einheitlichen Entscheidung über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage. Hinsichtlich des Schuldspruchs trifft das Gericht eine rechtskraftfähige Vorabentscheidung, während die Rechtsfolgenbestimmung in Ob und Maß zunächst noch aufgeschoben und vom Bewährungsverlauf abhängig gemacht wird (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 27 Rn. 2). Inhaltlich regelt die Vorschrift eine Ausnahme von dem Grundsatz „in dubio pro reo“, die dazu führt, dass begründete Zweifel an dem Vorliegen einer schädlichen Neigung im notwendigen Umfang nicht dazu führen, von vornherein in dubio pro reo von einer Jugendstrafe abzusehen, sondern die Entscheidung darüber bis zur endgültigen Gewissheit aufzuschieben. Die Regelung des § 27 JGG soll den Jugendlichen und Heranwachsenden eine Chance bieten, in der Bewährungszeit (§ 28 JGG) zu zeigen, dass die festgestellten schädlichen Neigungen nicht den Umfang haben, den die Verhängung einer Jugendstrafe erfordert. Die Entscheidung nach § 27 JGG wird in das Bundeszentralregister, nicht jedoch in das Führungszeugnis eingetragen. Die Eintragungen werden entfernt, wenn der Schuldspruch getilgt oder in eine Entscheidung einbezogen wird, die in das Erziehungsregister einzutragen ist. Wird die schädliche Neigung im erforderlichen Umfang festgestellt, ist gemäß § 30 Abs. 1 JGG eine Jugendstrafe zu verhängen. Wird diese hingegen nicht festgestellt, wird der Schuldspruch gemäß § 30 Abs. 2 getilgt (vgl. Eisenberg/Kölbel, JGG, § 30 Rn. 18, 19).
VII. Aburteilung
Haben sich Jugendliche oder Heranwachsende wegen mehrerer Straftaten strafbar gemacht, setzt das Gericht gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 JGG nur einheitlich Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe fest. Dabei dürfen die gesetzlichen Höchstgrenzen des Jugendarrestes und der Jugendstrafe nicht überschritten werden.
Wurden mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen begangen und werden diese gleichzeitig abgeurteilt, gilt gemäß § 32 S. 1 JGG einheitlich das Jugendstrafrecht, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die auch nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. Liegt das Schwergewicht im allgemeinen Strafrecht, so ist dieses anzuwenden.
Welche dieser Sanktionsmittel schlussendlich verhängt werden, liegt im Ermessen des zuständigen Jugendgerichtes. Entscheidend sind neben der Schwere der Tat insbesondere die Reife der Jugendlichen und Heranwachsenden, die Vorschläge der Jugendgerichtshilfe sowie das Nachtatverhalten.
VIII. Einstellungsmöglichkeiten im JGG
Ähnlich wie im Erwachsenenstrafrecht gibt es aber auch im Jugendstrafrecht Einstellungsmöglichkeiten. Es muss also nicht immer jede Verfehlung vor Gericht landen oder auch durch Urteil entschieden werden. § 45 JGG ermöglicht ein Absehen von der Verfolgung. Die Staatsanwaltschaft kann ohne Zustimmung des Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Voraussetzungen des § 153 StPO vorliegen. § 45 JGG ist eine der wesentlichen Grundlagen der Diversion im Jugendstrafverfahren (vgl. Diemer/Schatz/Sonne, § 45 JGG Rn. 4). § 47 JGG ermöglicht die Einstellung des Verfahrens durch das Gericht. Eingestellt werden kann, „wenn 1. die Voraussetzungen des § 153 der Strafprozeßordnung vorliegen, 2. eine erzieherische Maßnahme im Sinne des § 45 Abs. 2, die eine Entscheidung durch Urteil entbehrlich macht, bereits durchgeführt oder eingeleitet ist, 3. der Richter eine Entscheidung durch Urteil für entbehrlich hält und gegen den geständigen Jugendlichen eine in § 45 Abs. 3 Satz 1 bezeichnete Maßnahme anordnet oder 4. der Angeklagte mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist.“ Die Einstellung nach § 47 JGG bedarf gemäß Abs. 2 der Zustimmung der Staatsanwaltschaft, sofern nicht bereits der vorläufigen Einstellung zugestimmt wurde. Einer Zustimmung bedarf es ferner nicht, wenn die Einstellung im vereinfachten Jugendverfahren (§§ 76 ff. JGG) erfolgt und die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat.
In § 2 JGG ist klar normiert, dass der Erziehungsgedanke im Vordergrund zu stehen hat. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten. Dieser Hintergedanke muss bei der Konfrontation mit dem Jugendstrafrecht auch stets beachtet werden. Nur mit diesem Hintergrund kann ein passender Umgang mit Jugendlichen und Heranwachsenden und die Prävention weiterer Taten erreicht werden. Dringend notwendig ist dafür die vertiefte Kenntnis des Sanktionssystems als „aliud“ zum Erwachsenenstrafrecht.