In den letzten Tagen machte ein Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen die Runde, dem jetzt auch die SPD-Fraktion zustimmen will: Es geht um die Einführung einer Dreiprozentklausel bei Europawahlen. Ausgangspunkt ist ein Urteil des BVerfG vom 9.11.2011 – Az. 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, das die bis dahin bestehende Fünfprozentklausel für verfassungswidrig erklärt hatte. Wir hatten darüber ausführlich berichtet.
Berücksichtigt man dies, stellt sich die berechtigte Frage nach der Verfassungswidrigkeit des neuen Gesetzes. Kann es so einfach sein, dass eine bloße Änderung des Zahlwerts zu einer Verfassungsmäßigkeit der Regelung führt? Um diese Frage zu beantworten, muss das Urteil des BVerfG näher betrachte werden.
I. Verletzung der Gleichheit der Wahl
Unumstritten ist, dass sowohl eine Fünf- als auch eine Dreiprozentklausel gegen die Gleichheit der Wahl verstoßen. Bei der Europawahl ist dieser Grundsatz aus Art. 3 GG und nicht aus Art. 38 GG herzuleiten. Der Erfolgswert der Stimmen ist abhängig vom Überspringen der Fünf- bzw. Dreiprozenthürde.
II. Rechtfertigung
1. Strenger Maßstab des BVerfG
Fraglich ist aber, ob dieser Grundrechtsverstoß bei einer Dreiprozentklausel leichter gerechtfertigt werden kann. Es muss dafür ein sachlicher Grund vorliegen und der Eingriff muss geeignet und erforderlich sein. Bei der Fünfprozenthürde war dies nach Ansicht des BVerfG nicht der Fall, da als sachlicher Grund nur eine drohende schwerwiegende Funktionsstörung des Parlaments angeführt werden kann. Eine solche ist nicht ersichtlich. Außerdem fehlt auch die Wahl einer Regierung, so dass eine solche Klausel nicht notwendig ist.
Nimmt man diese Entscheidung so hin, so muss für eine Dreiprozentklausel Gleiches gelten. Dass der Eingriff hier weniger intensiv ist, vermag an der Beurteilung nichts zu ändern. Da ein sachlicher Grund fehlt, ist jede Differenzierung unzulässig. Negativ an dieser Ansicht ist aber, dass eine Differenzierung unterbleibt. Aus diesem Grund wäre eine 25%-Klausel ebenso wie eine 1%-Klausel unzulässig. Dies erscheint wenig überzeugend.
2. Abweichende Sondervoten
Fraglich ist aber, wie die Intensität des Eingriffs berücksichtigt werden kann. Helfen kann hier das Sondervotum dreier Richter im genannten Verfahren des BVerfG. Diese bejahten zwar auch einen Eingriff in die Gleichheitsgrundsätze der Wahl, prüften aber bei der Rechtfertigung zusätzlich die Intensität des Eingriffs. Je weniger intensiv der Eingriff sei, desto einfacher müsste die Rechtfertigung sein. Eine drohende schwerwiegende Funktionsstörung des Parlaments wird nicht stets für notwendig erachtet. Vielmehr reichen sachliche Gründe, wenn die Eingriffsintensität weniger stark ist. Durch 3 von 5 Richtern wurde bereits bei der Fünfprozentklausel eine solch hohe Intensität verneint. Deshalb ist es jetzt nicht unwahrscheinlich, dass noch mehr Richter dieser Ansicht zugeneigt sind und damit die Neuregelung für rechtmäßig halten.
III. Stellungnahme
Es erscheint damit nicht ausgeschlossen, dass die Richter des BVerfG aufgrund des geringeren Grades des Eingriffs im Rahmen einer Dreiprozentklausel einen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit für gerechtfertigt halten. Sicher ist dies aber keineswegs. Mit dem Gesetzentwurf wird also ein sehr hohes Risiko eingegangen. Es droht die Gefahr, dass zum wiederholten Mal ein Wahlrechtsgesetz durch das BVerfG gecancelt wird.
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