Das BVerfG hat mit Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12, entschieden, dass das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 8.9.2011 – 2 AZR 543/10 – die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 4 Absatz 1 und Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 140 des Grundgesetzes und Artikel 137 Absatz 3 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung) verletzt.
I. Um was geht es?
Aus der Pressemitteilung des BVerfG:
„Die Beschwerdeführerin ist kirchliche Trägerin eines katholischen Krankenhauses. Seit dem 1. Januar 2000 beschäftigt sie den Kläger des Ausgangsverfahrens als Chefarzt der Abteilung Innere Medizin, der zu diesem Zeitpunkt nach katholischem Ritus in erster Ehe verheiratet war. Ende 2005 trennten sich die Ehepartner. Zwischen 2006 und 2008 lebte der Kläger mit einer neuen Lebensgefährtin zusammen; dies war dem damaligen Geschäftsführer der Beschwerdeführerin spätestens seit Herbst 2006 bekannt. Anfang 2008 wurde die erste Ehe des Klägers nach staatlichem Recht geschieden. Im August 2008 heiratete der Kläger seine Lebensgefährtin standesamtlich. Hiervon erfuhr die Beschwerdeführerin im November 2008. In der Folgezeit fanden zwischen der Beschwerdeführerin und dem Kläger mehrere Gespräche über die Auswirkungen seiner zweiten Heirat auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses statt. Im März 2009 kündigte die Beschwerdeführerin das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. September 2009. Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. Mit Urteil vom 30. Juli 2009 stellte das Arbeitsgericht fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung aufgelöst worden sei und verurteilte die Beschwerdeführerin zur Weiterbeschäftigung des Klägers. Berufung und Revision der Beschwerdeführerin blieben im Ergebnis ohne Erfolg.“
II. Wie hatte das Bundesarbeitsgericht entschieden?
Das BAG entschied mit Urteil vom 8.9.2011 – 2 AZR 543/10, dass die Kündigung unwirksam sei. Zwar stellte es fest, dass auf der ersten Prüfungsstufe mit dem Loyalitätsverstoß der erneuten Heirat abstrakt ein Kündigungsgrund vorliege; doch überwiege das Interesse des Chefarztes an Fortführung des Arbeitsverhältnisses (gekürzt und hervorgehoben aus den Gründen, Rn. 40 ff.)
1. Der katholische Glaube ist nur regelmäßige Voraussetzung für die Übertragung von Leitungsaufgaben. Die Beklagte ist also durch die Grundordnung nicht gezwungen, ihr „Wohl und Wehe“ gewissermaßen bedingungslos mit dem Lebenszeugnis ihrer leitenden Mitarbeiter für die katholische Sittenlehre zu verknüpfen.
2. Durch diese Rechtslage ist es auch zu erklären, dass die Beklagte mehrfach Chefärzte beschäftigt hat bzw. beschäftigt, die als Geschiedene erneut geheiratet haben. Es handelt sich insoweit überwiegend um nichtkatholische Arbeitnehmer bzw. katholische Arbeitnehmer in besonderen Lebenslagen, denen gegenüber sie entweder von vornherein nicht die strenge Befolgung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre verlangt oder mit Rücksicht auf besondere Gegebenheiten nicht durchsetzen zu müssen glaubte. Richtig ist, dass darin – anders als es das Landesarbeitsgericht gesehen hat – kein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gefunden werden kann. Das ändert aber nichts daran, dass die Beklagte das Ethos ihrer Organisation durch eine differenzierte Handhabung bei der Anwendung und Durchsetzung ihres legitimen Loyalitätsbedürfnisses selbst nicht zwingend gefährdet sieht.
3. Die Beklagte hat nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts den nach dem Vertrag der Parteien der Wiederverheiratung gleichwertigen Verstoß des ehelosen Zusammenlebens des Klägers seit dem Herbst 2006 gekannt und hingenommen. Auch das zeigt, dass sie selbst ihre moralische Glaubwürdigkeit nicht ausnahmslos bei jedem Loyalitätsverstoß als erschüttert betrachtet, sondern sich, möglicherweise angesichts der ausgeprägten Verdienste des Klägers um die Patienten und ihres eigenen mit diesen Verdiensten verbundenen Rufs, durchaus zu unterscheiden gestattet.
III. Was bemängelt das BVerfG hieran?
Nach Ansicht des BVerfG verstößt diese Begründung gegen den Selbstbestimmungsgrundsatz der Kirchen. Danach ist anerkannt, dass die Kirchen selbst im Rahmen des ordre-public festlegen dürfen, welches einen Loyalitätsverstoß darstellt und wie schwer dieser zu gewichten ist:
Das Bundesarbeitsgericht hat Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Auslegung von § 1 Abs. 2 KSchG verkannt. Es hat auf der ersten Stufe eine eigenständige Bewertung religiös vorgeprägter Sachverhalte vorgenommen und seine eigene Einschätzung der Bedeutung der Loyalitätsobliegenheit und des Gewichtes eines Verstoßes hiergegen an die Stelle der kirchlichen Einschätzung gesetzt, obwohl sie anerkannten kirchlichen Maßstäben entspricht und nicht mit grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen in Widerspruch steht.
Konkret bedeutet dies, dass das Bundesarbeitsgericht selbst gewertet hat, wie schwerwiegend der Loyalitätsverstoß ist. So führte es wie dargestellt an, dass der kirchliche Träger schon lange Kenntnis vom Getrenntleben des Klägers hatte und der Verstoß daher weniger schwer wiege. Zudem führte es an, dass die Kirche selbst offenbar davon ausgehe, auch nicht-katholische Personen zu beschäftigen. Hier muss sich das BAG an die von der Kirche vorgegebenen Wertung halten und kann nicht aus den Umständen ziehen, dass der Verstoß auf der ersten Stufe doch nicht so schwer wiege.
IV. Wie geht´s jetzt weiter?
Der Fall wurde zum BAG zurückverwiesen, § 95 Abs. 2 Hs. 2 BVerfGG. Bei erneuter Prüfung der Wirksamkeit der Kündigung wird es auf erster Stufe einen schweren Loyalitätsverstoß annehmen müssen, so wie die Kirche ihn vorgibt. Dennoch könnte die Kündigung sich letztlich als unwirksam herausstellen, denn auf zweiter Stufe, der Interessenabwägung, müssen die widerstreitenden Grundrechtspositionen in Einklang gebracht werden. So spricht für die Kirche zwar das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV sowie Art. 4 GG (zur genauen Abgrenzung s. Rn. 83 ff. des Beschlusses), doch streiten für den Kläger der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) sowie der Gedanken des Vertrauensschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG). Vieles spricht aber dafür, dass die Kündigung auf Grund der Leitungsposition, des schweren Loyalitätsverstoßes und der Tatsache, dass all dies schon bei Vertragsschluss für den Arzt vorhersehbar war, wirksam ist.
V. Fazit
Auch in einer Examensklausur kann das kirchliche Selbstbestimmungsrecht abgefragt werden. Hierzu sollte diese aktuelle Entscheidung des BVerfG bekannt sein. Hat man dieses erst einmal herausgearbeitet, ist der Rest klassische Grundrechtsabwägung, die auch ohne vertiefte Kenntnisse des Arbeitsrechts zumutbar ist. Zugleich bietet der Fall viel Gesprächsstoff für abendliche Diskussionen über „Gott und die Welt“…