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Gastautor

Halterhaftung bei Unfällen mit PKW-Anhängern nach § 19 I 1 StVG

Aktuelles, Deliktsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Johannes Zhou veröffentlichen zu können. Der Autor ist Rechtsreferendar am Landgericht Frankfurt am Main.

Der BGH beschäftigt sich in seiner Entscheidung vom 7.2.2023 (VI ZR 87/22) mit dem im Jahr 2020 neu hinzugefügten § 19 I 1 StVG. Diese Vorschrift regelt die Halterhaftung bei Unfällen mit PKW-Anhängern, welche vor 2020 noch in § 7 I StVG geregelt war. Kernproblem des Falles ist die Frage, ob von einem ordnungsgemäß abgestellten PKW-Anhänger eine Betriebsgefahr ausgeht, für die der Halter des Anhängers einzustehen hat.

I. Der Sachverhalt

Der Kläger ist Gebäudeversicherer und verlangt von dem Beklagten – einem Haftpflichtversicherer – Schadensersatz aufgrund eines Unfallereignisses im Zusammenhang mit einem PKW-Anhänger.

Bei der Beklagten ist ein PKW-Anhänger versichert, den der Versicherungsnehmer am Unfalltag ordnungsgemäß am Straßenrand abstellte. Ein Dritter, der nicht Partei des Verfahrens ist, befuhr mit seinem Fahrzeug diese Straße und stieß mit dem ordnungsgemäß geparkten PKW-Anhänger zusammen. Der Anhänger rollte aufgrund des Zusammenstoßes nach vorne und beschädigte das Eingangstor eines Grundstücks sowie die Fassade des auf dem Grundstück stehenden Gebäudes. Der Kläger übernahm als Gebäudeversicherer die dem Gebäudeeigentümer angefallenen Kosten für die Reparatur des Eingangstores und der Fassade.

Daraufhin machte der Kläger Schadensersatz gegen den Haftpflichtversicherer, bei dem der PKW-Anhänger versichert ist, geltend. Während das AG Friedberg der Klage stattgab, lehnte das LG Gießen den Schadensersatzanspruch ab. Das LG Gießen begründete dies damit, dass der Schaden nicht beim Betrieb des PKW-Anhängers eingetreten sei. Der Anhänger sei nämlich durch einen anderen Verkehrsteilnehmer, der mit dem Anhänger zusammenstieß, in Bewegung gesetzt worden.

II. Die Entscheidung

Der BGH bejaht den geltend gemachten Schadensersatz nach § 7 I StVG a.F. bzw. § 19 I 1 StVG i.V.m. § 115 I 1 Nr. 1, § 86 VVG. § 19 I 1 regelt nach der amtlichen Normüberschrift die Haftung des Halters bei Unfällen mit Anhängern und Gespannen.

§ 19 I 1 StVG: „Wird bei dem Betrieb eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug (Zugfahrzeug) gezogen zu werden, ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, ist der Halter des Anhängers verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“

Nach Auffassung des BGH gehe auch von einem ordnungsgemäß abgestellten PKW-Anhänger eine Betriebsgefahr aus. Demnach sei der Schaden am Gebäude beim Betrieb des Anhängers eingetreten. Hierbei geht der BGH zunächst auf die für § 7 I StVG entwickelten Grundsätze bezüglich der Betriebsgefahr von Kraftfahrzeugen ein:

„[8] a) Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zu Recht angenommen hat, ist das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ in Bezug auf Kraftfahrzeuge entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Denn die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kraftfahrzeugs erlaubterweise eine Gefahrenquelle eröffnet wird; die Vorschrift will daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist demgemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist (vgl. Senatsurteil vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, VersR 2020, 782 Rn. 10 mwN).[9] Erforderlich ist dabei stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll; die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es damit grundsätzlich maßgeblich darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht (vgl. Senatsurteile vom 3. Juli 1962 – VI ZR 184/61, BGHZ 37, 311, juris Rn. 12 ff.; vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, VersR 2020, 782 Rn. 10; vom 20. Oktober 2020 – VI ZR 319/18, VersR 2021, 597 Rn. 7, jeweils mwN). Der Betrieb dauert dabei fort, solange der Fahrer das Fahrzeug im Verkehr belässt und die dadurch geschaffene Gefahrenlage fortbesteht (vgl. Senatsurteil vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, VersR 2020, 782 Rn. 10 mwN).“ (Hervorhebungen durch den Verfasser)

Diese Grundsätze überträgt der BGH auf die Halterhaftung für PKW-Anhänger nach § 19 I 1 StVG. In dem Geschehen habe sich die aus der Konstruktion des Anhängers resultierende Gefahr einer unkontrollierten Bewegung durch Fremdkraft verwirklicht. Das Abstellen des Anhängers im öffentlichen Verkehrsraum beseitige diese Gefahr nicht. Vielmehr wirke die Betriebsgefahr fort.

Schließlich dringt die Beklagte auch nicht mit dem Einwand durch, dass ein Dritter durch seinen Zusammenstoß mit dem Anhänger für das Unfallgeschehen maßgeblich verantwortlich sei. Dieser Umstand sei lediglich für die Abwägung der Verursachungsbeiträge im Rahmen eines etwaigen Gesamtschuldnerinnenausgleichs der Schädiger gem. §§ 426 I, 254 I BGB von Bedeutung. Der Umstand habe aber keine Auswirkung auf den zuvor bejahten Zurechnungszusammenhang zwischen dem Gebäudeschaden und Betrieb des Anhängers.

III. Einordnung

Der Gesetzgeber hat die Haftung des Halters bei Unfällen mit Anhängern im Jahr 2020 neu geregelt, indem er diese aus den §§ 7, 8, 12, 17 und 18 StVG a.F. ausgliederte und die neuen §§ 19, 19a StVG einfügt hat (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Jahnke, § 19 StVG Rn. 3). Anlass für die Gesetzesänderung war die alte Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 27.10.2010 – IV ZR 279/08), wonach bei Unfällen mit PKW-Anhängern die beteiligten Halter von Zugfahrzeug und Anhänger im Innenverhältnis zu gleichen Teilen hafteten. Diese Haftungsverteilung entsprach laut Gesetzesbegründung in der Regel jedoch nicht der jeweils gesetzten Betriebsgefahr (BT-Drs. 19/17964, S. 1). Im Zuge der Neuregelung des § 19 StVG schaffte der Gesetzgeber daher § 19 IV 2 und 3 StVG. Danach haftet grundsätzlich der Halter des Zugfahrzeuges im Innenverhältnis.

IV. Bedeutung für das Examen

Die Entscheidung des BGH eignet sich gut für Examensklausuren, da mit § 19 I 1 StVG eine vergleichsweise neue Anspruchsgrundlage abgeprüft werden kann. Entscheidend ist aber, dass hier eine auf den ersten Blick unbekannte Norm mit bereits gelerntem Wissen zu § 7 I StVG bewältigt werden kann. Der Wortlaut des § 19 I 1 StVG entspricht dem des § 7 I StVG.

Die Entscheidung des BGH gibt zudem Anlass, sich mit zahlreichen examensrelevanten Problemen zu beschäftigen und diese zu wiederholen. Über die für § 7 I StVG entwickelten Grundsätze zum Tatbestandsmerkmal „beim Betrieb“ hinaus, sollte im Hinblick auf Systematik auch ein Blick auf andere Gefährdungstatbestände wie § 833 S. 1 BGB oder § 1 ProdHaftG geworfen werden (zum Grundwissen Lorenz, JuS 2021, 307).

Auch eine Wiederholung der Vorschrift zum Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB sowie der examensrelevanten Vorschriften des VVG kann nicht schaden. Nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 1 PflVG kann ein Geschädigter auch unmittelbar gegen den Versicherer Schadensersatz geltend machen. Bei § 86 I 1 VVG handelt es sich um eine sog. Legalzession (cessio legis). Danach geht der Anspruch des Versicherungsnehmers auf den Versicherer über, soweit der Versicherer den Schaden ersetzt. Welche weiteren Vorschriften ordnen einen gesetzlichen Forderungsübergang an? Zum Beispiel: §§ 268 III 1, 774 I 1 BGB, § 116 SGB X.

28.06.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-06-28 09:30:182023-06-28 14:48:13Halterhaftung bei Unfällen mit PKW-Anhängern nach § 19 I 1 StVG
Gastautor

Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände

Rechtsgebiete, Startseite, Strafrecht, Strafrecht BT, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Volljuristin. Ihr Studium und Referendariat absolvierte sie in Düsseldorf.

Ist das Betäubungsmittelstrafrecht – zumindest als Lehrmaterie – im Studium noch völlig unbekannt, so erhält es spätestens im Referendariat eine große Relevanz. Denn nicht zuletzt in der Strafstation, in der als Referendarin plötzlich die Rolle einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwaltes zu übernehmen ist, kommt es zu einer Konfrontation mit genau diesem strafrechtlichen Nebengebiet. Vor den Strafrichterinnen finden sich gerne verschiedenste Ausprägungen von Täterinnen, die mit dem Betäubungsmittelstrafrecht in Berührung gekommen sind. Sei es ein einmaliger Erwerb zur Erprobung, seien es Hobby-Kifferinnen oder sogar Kleindealer*innen, die am jeweiligen Hauptbahnhof ihre Runden drehen.

I. Der Begriff des „Betäubungsmittels“

Um in die Materie einzusteigen, drängt sich jedoch zunächst eine erste Frage auf: Wie wird überhaupt der Begriff des „Betäubungsmittels“ im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) bestimmt? Welche Substanzen dürfen denn gerade nicht hergestellt, verkauft oder erworben werden? Auf eine Legaldefinition hofft man hier vergeblich; es gibt keine abstrakt-generellen Merkmale, anhand derer eine Begriffsdefinition stattfindet (vgl. BeckOK BtMG/Exner BtMG § 1 Rn. 1). Um dieses Rätsel zu lösen, lohnt sich jedoch ein Blick in § 1 Abs. 1 BtMG und davon gleich weiter in die Anlagen I bis III. Denn: Betäubungsmittel im Sinne des BtMG sind die in den Anlagen I bis III aufgeführten Stoffe und Zubereitungen. Um die Schnelligkeit der Drogenszene hinsichtlich der Kreation neuer Suchtstoffe aber nicht außer Acht zu lassen, gibt es in § 1 BtMG noch die Abs. 2- 4, die eine Verordnungsermächtigung enthalten und die Bundesregierung ermächtigen, noch kurzfristig den Begriff des Betäubungsmittels über die Positivliste der Anlagen I-III hinaus zu weiten (vgl. JuS 2019, 211f.).

Mit Blick auf diese Anlagen fallen nun mehrere Dinge auf: Was viele erleichtern mag, sogenannte Genussdrogen (womit Alkohol, Koffein und Nikotin gemeint sind) sind keine Betäubungsmittel und nicht von der Positivliste umfasst. Ebenso nicht umfasst, sind solche Mittel des täglichen Lebens, die auf zweckentfremdende Weise wie beispielsweise mittels Inhalierens zum Rauschmittel gemacht werden. Man denke hier an das bekannte Phänomen des „Klebstoff-Schnüffelns“. Die Positivliste zeigt auf, nur besonders gefährliche psychotrop wirksame Stoffe und Zubereitungen sind als Betäubungsmittel erfasst (vgl. BeckOK BtMG/Exner BtMG § 1 Rn. 6). Diese werden wiederum in einer Dreiteilung aufgeführt: In Anlage I nicht verkehrsfähige, mithin medizinisch ungeeignete, gesundheitsschädliche Stoffe (zB Psilobycin-Pilze), in Anlage II verkehrsfähige, aber nicht verschreibungsfähige Stoffe (zB Metamphetamin), in Anlage III verkehrsfähige und verschreibungsfähige Stoffe (zB Tilidin).

II. Die Mengenbegriffe des BtMG

Ist nun die Einordnung als Betäubungsmittel erfolgreich vorgenommen, stellt sich auch schon die zweite große Frage: In welcher Menge liegt das Betäubungsmittel im konkreten Fall vor? Denn das Betäubungsmittelstrafrecht ist nicht nur von der Art, sondern auch von der Menge des Rauschgiftes geprägt. Die jeweilige Menge gilt als Indikator für den Unrechtsgehalt der Tat (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG Vorb. zu § 29 Rn 14) und wirkt sich somit auf die tatbestandliche Einordnung und die Rechtsfolgen aus. Dabei wird zwischen drei Mengenbegriffen differenziert: die geringe Menge, die nicht geringe Menge und die normale Menge. Die geringe Menge findet in den § 29 Abs. 5 und § 31a BtMG Erwähnung und ermöglicht unter Umständen das Absehen von Verfolgung oder Bestrafung. Unter der geringen Menge versteht man eine solche, die zum einmaligen bis höchstens dreimaligen Gebrauch geeignet ist (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG Vorb. zu § 29a Rn.16). Die Grenzwerte sind je nach Betäubungsmittel verschieden und richten sich vorrangig nach dem Wirkstoffgehalt. Für einige Betäubungsmittel haben die Obergerichte entsprechende Grenzwerte festgelegt; im Übrigen ermittelt sich dieser regelmäßig aus dem Dreifachen einer Konsumeinheit des jeweiligen Betäubungsmittels für durchschnittliche Konsument*innen (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG Vorb. zu § 29a Rn.17). Die nicht geringe Menge liegt bei sichtlichem Überschreiten der geringen Menge vor und katapultiert den Deliktscharakter von einem Vergehen auf ein Verbrechen. Das zeigen die §§ 29a ff. BtMG.Auch hierzu haben die Obergerichte einige Grenzwerte festgelegt. Die normale Menge erfasst den Raum zwischen der geringen und der nicht geringen Menge. Sie ist gesetzlich nicht normiert, findet sich aber in § 29 BtMG wieder (vgl. JA 2011, 613f.).

III. Die wichtigsten Straftatbestände

In den §§ 29 bis 30b BtMG sind die Straftatbestände des BtMG normiert. Dabei ist § 29 BtMG in Form eines Vergehenstatbestandes der Grundtatbestand und enthält eine umfangreiche Aufzählung von Handlungsmodalitäten, die unter Strafe gestellt sind. Dabei umfasst die Norm strafbare Verhaltensweisen für Konsumentinnen (zB „erwirbt“) sowie für Versorgerinnen (zB „veräußert“). Regelmäßig relevant werden dabei die Varianten des § 29 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 BtMG. In diese lohnt sich ein Blick. Die darauffolgenden §§ 29a ff. haben als Qualifikationen Verbrechenscharakter. Dass es eine so umfassende Normierung von Handlungsmodalitäten gibt, ist darauf zurückzuführen, dass Schutzgut der Straftatbestände die menschliche Gesundheit ist und daher möglichst jeder Kontakt zu Betäubungsmitteln strafrechtlich erfasst werden sollte (vgl. JA 2011, 614). Auch aus diesem Grund ist eine extensive Auslegung der Tatbestände vorzunehmen.

IV. Der Grundtatbestand

Da § 29 BtMG ein sehr umfangreicher Grundtatbestand ist, konzentrieren wir uns hier auf die praxisrelevantesten Handlungsmodalitäten: § 29 Abs. 1 Nr. 3, der erlaubnislose Besitz von Betäubungsmitteln, dient als Auffangtatbestand und soll dort Strafbarkeitslücken schließen, wo unklar ist, wie – also durch welche Handlung – es zu dem letztlich feststehenden Besitz gekommen ist. Erforderlich ist nur noch die tatsächliche Verfügungsmacht (vgl. JuS 2019, 214). Mit der Nr. 3 wurde mithin eine Beweiserleichterung für die Strafverfolgungsbehörden geschaffen (vgl. BeckOK BtMG/Wettley BtMG § 29 Rn 472). In allen anderen Fällen, in denen sich die Erlangung der Betäubungsmittel aufschlüsseln lässt, ist Nr. 3 nicht mehr anzuwenden. Weshalb wir uns nun Nr. 1 zuwenden. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG wird bestraft, wer Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft. Eigentlich ist diese Aufzählung trotz der verschiedensten Varianten sehr einfach: sobald man unerlaubt, also ohne behördliche Erlaubnis, in Kontakt mit Betäubungsmitteln kommt, ist das schlecht. Von besonderer Bedeutung ist aber das Handeltreiben. Denn dieses ist Dreh- und Angelpunkt für die effektive Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität. Das Handeltreiben setzt nämlich nicht den Erfolg eines Absatzes voraus, sondern umfasst alle Stadien, die einem Absatzgeschäft vorausgehen (vgl. BeckOK BtMG/Becker BtMG § 29 Rn. 53f.). Mit dem Handeltreiben wird damit ein ganzes Bouqet an strafwürdigem Verhalten erfasst, was die Abgrenzung zwischen Vollendung und Versuch sowie Täterschaft und Teilnahme oftmals erschwert. Ausreichend kann so beispielsweise bereits die erfolglose Bemühung um einen Ankauf von Betäubungsmitteln für einen späteren Weiterverkauf sein (JuS 2019, 214).

V. Die Verbrechenstatbestände

Was muss nun passieren, damit aus diesem Grundtatbestand ein Verbrechen wird? Das wiederum zeigen die §§ 29a, 30 und 30a BtMG. Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr werden Personen bestraft, die über 21 Jahre alt sind und Betäubungsmittel an solche Personen abgeben, verabreichen oder überlassen die unter 18 Jahre alt sind (§ 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG) sowie Personen, die – unabhängig vom Alter – mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge agieren (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG). Die Qualifizierung zum Verbrechen beruht damit im Falle der Nr. 1 auf der gehobenen Verwerflichkeit, als erwachsene Person Minderjährigen Betäubungsmittel zur Verfügung zu stellen und das unabhängig davon, ob dies in der Funktion als Dealer*in oder im privaten Umfeld erfolgt (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG § 29a Rn. 1,2). Minderjährige sind immer besonders schutzwürdig und dürfen nicht zur Sucht „verführt“ werden. Im Falle der Nr. 2 beruht die Qualifizierung auf der unüblich hohen Menge. Einen weiteren Qualifikationstatbestand normiert § 30 BtMG, der seinen Verbrechenscharakter jedoch aus anderen Umständen erhält: Im Fokus stehen bei § 30 Abs. 1 BtMG eine Bandenmitgliedschaft, Gewerbsmäßigkeit, das leichtfertige Verursachen des Todes (Achtung: hierbei handelt es sich um eine Erfolgsqualifikation) und – hier zeigt sich ein Muster – das Einführen einer nicht geringen Menge an Betäubungsmitteln. Der Strafrahmen steigt im Gegensatz zu § 29a BtMG auf eine Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. Um sowohl die Bande als auch die Gewerbsmäßigkeit zu definieren, kann einfach auf die Definitionen des allgemeinen Vermögensstrafrechts zurückgegriffen werden (vgl. JuS 2019, 213). Fallen nun Bandenmitgliedschaft und nicht geringe Menge zusammen, wird § 30a Abs. 1 BtMG relevant und der Strafrahmen steigt erneut, nun auf ein Mindestmaß einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Wichtig ist, dass sich die Bandenabrede auch auf genau diese nicht geringe Menge beziehen muss (vgl. MüKoStGB/Oğlakcıoğlu BtMG § 30a Rn. 16). § 30a Abs. 2 BtMG ähnelt § 29a Abs. 1 BtMG. So wird in Nr. 1 wieder auf das Erwachsenen-Minderjährigen-Verhältnis abgestellt, allerdings mit dem Unterschied, dass es sich bei § 30a Abs. 2 Nr. 1 BtMG um eine Anstiftungshandlung („bestimmt“) handelt. Die betroffenen Minderjährigen sollen nun auch noch für die erwachsene Person im Drogenmilieu tätig werden. § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG kombiniert nun das Mitsichführen einer Schusswaffe oder sonstiger Gegenstände mit dem Agieren mit einer nicht geringen Menge. § 30b BtMG ist kein eigenständiger Straftatbestand, sondern weitet den Anwendungsbereich des § 129 StGB aus (vgl. BeckOK BtMG/Schmidt BtMG § 30b Vorb.). Relevant wird dies im Bereich der organisierten Betäubungsmittelkriminalität.

Wichtig ist stets, die Normen genau zu lesen, denn die Handlungsmodalitäten, die vom Grundtatbestand übernommen werden, variieren bei den Qualifikationen stets. Nicht immer sind alle Modalitäten erfasst; meist sogar nur eine Auswahl. Außerdem hat der Gesetzgeber ausreichend Gebrauch von minder schweren Fällen gemacht, wie sich meist am Ende der jeweiligen Norm zeigt.

VI. Konkurrenzen

Mit Blick auf die Handlungsmodalitäten des § 29 Abs. 1 BtMG und dabei insbesondere auf das unerlaubte Handeltreiben, ist leicht vorstellbar, dass mehrere Handlungsmodalitäten, die sich auf ein und dasselbe Betäubungsmittel beziehen, hintereinander auftreten können. Dies führt uns zu der Frage: Wie ist dieser Umstand konkurrenzrechtlich zu bewerten? Im Betäubungsmittelstrafrecht existiert die sogenannte Bewertungseinheit, die einen Fall der tatbestandlichen Handlungseinheit darstellt (vgl. BeckOK BtMG/Becker BtMG § 29 Rn 103-105). So wird beispielsweise Anbau, Lagerung, Transport und Verkauf einer bestimmten Rauschgiftmenge zu einer Tat, nämlich dem Handeltreiben zusammengefasst.

Das Betäubungsmittelstrafrecht ist folglich kein zu unterschätzendes strafrechtliches Nebengebiet, das sowohl in seinem Zweck herausragende Bedeutung innehat als auch in seiner Anwendung einige Abgrenzungsschwierigkeiten bereithält. Gerade in der Praxis sind die Strafverfolgungsbehörden einigen Hürden ausgesetzt und nicht stets ist zweifelsfrei zu klären, ob beispielsweise gewerbsmäßig gehandelt wird, wo die Betäubungsmittel versteckt sind und wer alles Teil der Organisationsstruktur ist.

01.02.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-02-01 10:00:002023-01-25 11:49:57Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände
Gastautor

Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Maximilian Drews veröffentlichen zu können. Der Autor studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und berichtet über sein absolviertes Pflichtpraktikum in einer Bonner Großkanzlei.

Im Hauptstudium stehen die meisten Juristinnen und Juristen vor der Frage, wo man die Pflichtpraktika absolviert und wie man dieses gestalten möchte. Für welche Art Praktikum die Entscheidung ausfällt, ist oft typenabhängig und hängt unter anderem davon ab, wie man die eigene berufliche Zukunft gestalten möchte. Soll das Rechtspflegepraktikum am Gericht absolviert werden, um bereits einen Einblick in die Richtertätigkeit zu erhalten? Oder soll es doch eher die Staatsanwaltschaft sein? Womöglich kann man sich auch eine spätere Tätigkeit in einer Großkanzlei vorstellen, auch wenn viele die dortige Tätigkeit – zu Unrecht (?) – mit einem hohen Leistungsdruck, langen Arbeitszeiten und einer gewissen Anonymität verbinden. Um dem vorzubeugen, bieten viele Großkanzleien ein- bis zweimal jährlich ein ansprechendes sechswöchiges Praktikantenprogramm an, sodass Studierende sich dort selbst ein Bild machen können. Auch ich habe mir diese Gedanken und Sorgen gemacht, mich aber schlussendlich für ein solches Praktikum in einer Bonner Großkanzlei entschieden.

In diesem Beitrag möchte ich euch – die ihr vielleicht vor einer ähnlichen Entscheidung steht – meine eigenen Erfahrungen, die ich als Teilnehmer des Programms „Interns‘ 22“ der Kanzlei Flick Gocke Schaumburg (FGS) gemacht habe, mitteilen und euch so die Entscheidung womöglich erleichtern.

I. Ein kurzer Blick auf Flick Gocke Schaumburg

FGS bietet Studierenden die Möglichkeit, sechs Wochen Teil eines Teams in einem Rechtsgebiet zu sein und dort aktiv praktische Erfahrungen machen zu können. Es handelt sich um eine 1972 in Bonn gegründete Kanzlei, die ihren Fokus insbesondere auf steuerzentrierte Rechtsberatung legt. Der steuerrechtliche Themenbereich wird durch unternehmensrelevante Gebiete des Wirtschaftsrechts ergänzt. Das umfasst Bereiche wie z.B. Gesellschaftsrecht, Kartellrecht und Arbeitsrecht. Bei FGS arbeiten daher neben Rechtsanwälten auch Steuerberater und Wirtschaftsprüfer zusammen, es wird ein interdisziplinärer Ansatz bei der Bewältigung der Aufgaben verfolgt. Aufregend ist, dass FGS nicht nur die Möglichkeit bietet, sich für den Hauptstandort Bonn zu bewerben, sondern man auch an andere Standorte in Deutschland wechseln kann. Mit den Orten Berlin, München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg oder Düsseldorf erhält man hier eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten, um außerhalb der Arbeitszeit auch neue Städte in Deutschland zu erkundigen.

II. Wie läuft das Bewerbungsverfahren ab?

Das Bewerbungsverfahren beginnt ca. ein halbes Jahr vor dem Start des Programms. Die Bewerbung umfasst ein ordentliches Anschreiben, das eine Motivation für das Praktikum bei FGS beinhaltet und das Rechtsgebiet, indem man gerne aktiv werden will. Dazu müssen noch ein paar weitere Dokumente, wie Lebenslauf, Notenübersichten, Studienbescheinigung und Abiturzeugnis eingereicht werden. In einem weiteren Schritt wurde ich zu einem Auswahlgespräch eingeladen. Jenes wird in der Regel mit Mitarbeitern aus der Personalabteilung geführt. Ziel ist vor allem, gegenseitiges Kennenlernen und zu schauen, ob ein Engagement als Praktikant für beide Seiten funktionieren würde. Auch wenn es sich um ein Auswahlgespräch handelt, habe ich von Anfang an gemerkt, dass FGS Interesse an dem Bewerber hat und es ihnen darauf ankommt, jungen Juristen, BWLern oder Law & Economic Studenten, eine Möglichkeit zu bieten, sich weiterentwickeln und eine gute Erfahrung machen zu können.

Das Bewerbungsgespräch war bei mir geprägt von einer entspannten Stimmung, sodass wir ungezwungen und locker über meinen eigenen Werdegang, meine bisherigen Entscheidung in meinem Leben, meine bisherigen Engagements und natürlich das Studium sprechen konnten. Zusätzlich durfte ich Fragen stellen, Vorstellungen äußern und es wurden auch individuelle Bedürfnisse berücksichtigt. Bei mir war es z.B. so, dass ich neben dem Praktikum weiterhin gerne einen Tag am Lehrstuhl arbeiten wollte. Ich konnte dies, ohne mir Sorgen machen zu müssen, erwähnen – die Anwälte und Anwältinnen waren selbst Studierende und kennen das, sodass sie für vieles Verständnis haben. Hier lässt sich für vieles eine Lösung finden.

Nachdem man das Auswahlgespräch erfolgreich hinter sich gebracht hat, muss man nur noch den Praktikumsvertrag unterschreiben und startet dann in die sechs Wochen.

III. Die Mitarbeit im Team

Am zweiten Tag des Praktikums trafen wir auf unsere Teams. Die Größe des Teams variiert je nach Bereich. Im Arbeitsrecht-Team, das von Herrn Dr. Tobias Nießen geleitet wird, gibt es z.Zt. insgesamt acht Anwältinnen und Anwälte. Zusätzlich gibt es noch die Assistenz, sowie Wissenschaftliche Mitarbeiter und Studentische Hilfskräfte. Nachdem ich von meiner Tutorin, Frau Dr. Siegfanz-Strauß, begrüßt wurde, stellte diese mich dem Team vor.

Danach startete auch direkt die aktive Mitarbeit. Die Aufgaben bekam ich nicht nur von meiner Tutorin, sondern auch von den anderen Anwälten und Anwältinnen. Dadurch, dass jeder mich mit in die Arbeit am Mandat einbezog, erhielt ich viele Einblicke in Frage- und Problemstellungen des individuellen Arbeitsrechts, des Tarif- und Betriebsverfassungsrechts. Zu meinen Aufgaben zählten neben Recherchen zu inhaltlichen Punkten und dem Übersetzen von Klageschriften auch das selbstständige Formulieren von Mandantenschreiben, insbesondere bzgl. rechtlicher Fragestellungen. Die vielen abwechslungsreichen und fordernden Aufgaben und die Herausforderung, sich immer wieder in neue Themengebiete einzuarbeiten, hat mir großen Spaß gemacht. Ich kam mit den Anwältinnen und Anwälten inhaltlich ins Gespräch, durfte selbst Lösungen erarbeiten und diese später präsentieren. Vor allem die aktive Beteiligung an Due Diligence- Prüfungen durch die Überprüfung von arbeitsvertraglichen Klauseln und die Verbindungen von Arbeits- und Gesellschaftsrecht hat mir besonders gefallen.

Weiterhin wurde mir durch die direkte Einbindung in die Kommunikation mit Mandanten der spannende, abwechslungsreiche und internationale Arbeitsalltag der Anwältinnen und Anwälte nähergebracht, denn nicht alle Mandanten befinden sich in Deutschland. Nichtsdestotrotz finden auch vor Ort immer wieder Gerichtstermine statt, so konnte ich etwa am Arbeitsgericht Koblenz an einer Güteverhandlung teilnehmen.

Neben der gelungenen Integration durch die vielen Aufgaben war aber auch die offene, direkte und freundliche Art und Weise, mit der ich aufgenommen wurde, ausschlaggebend dafür, dass ich mich direkt wohlfühlte. Meine Arbeit wurde immer wertgeschätzt, was ich unter anderem daran merkte, dass meine Meinungen und meine Sichtweisen den Anwältinnen und Anwälten wichtig waren und ich aktiv in Diskussionen mit eingebunden wurde. Zudem war jeder im Team stets offen für Fragen und nahm sich stets die Zeit, mir die Sachverhalte und Entwicklungen der unterschiedlichen Mandate zu erklären. Für das Studium und das Examen konnte ich im individuellen Arbeitsrecht einiges mitnehmen, z.B. zur Kündigung oder zur Gestaltung von arbeitsvertraglichen Klauseln. Weiterhin konnte ich im Bereich Argumentationsstruktur und Ausdrucksweise viel durch die Anwälte und Anwältinnen lernen und werde dies im weiteren Studium anwenden und mich verbessern können.

IV. Was wird noch vom Praktikantenprogramm umfasst?

Neben der Arbeit in den Teams zeichnet sich das Programm durch eine Vielzahl von Veranstaltungen und Events aus.

Am ersten Tag wurden zunächst alle Praktikanten aller Standort in Bonn empfangen und bekamen eine Führung durch das Bürogebäude. Danach durften wir uns auf einen Akademie-Vortrag von Herrn Graf von Hoyos freuen. Der Vortrag thematisierte richtige professionelle Umgangsformen, Networking und gute Kommunikation, sodass man eine Idee davon bekam, wie man sich z.B. gegenüber Geschäftspartnern, Mandanten und/ oder bei offiziellen Anlässen verhalten soll, wie man guten Smalltalk führt und sich ein gutes und weitreichendes Network aufbauen kann. Vor allem die lebendige und unterhaltenden Art und Weise des Vortrags, verbunden mit praktischen Anwendungsübungen, machten diesen zu einem Ereignis mit Mehrwert, von dem ich sowohl privat als auch für das spätere Berufsleben einiges mitnehmen werde.

Der Fokus der ersten beiden Tage lag allerdings darauf, dass alle gut ankommen und die Praktikanten sich untereinander kennenlernen. Nach einer Stadtrundfahrt in einem Cabrio-Bus endete der Tag mit einem gemeinsamen BBQ. Beide Veranstaltungen eröffneten uns Praktikanten die Chance untereinander ins Gespräch zu kommen. Schön war auch, dass beim BBQ neben dem herrlich sommerlichen Abendwetter und dem guten Essen zum Teil einige Tutoren und Tutorinnen hinzukamen, sodass man bei einer lockeren Atmosphäre und einem guten Glas Wein oder Kölsch in den gemeinsamen Austausch kam. Dadurch, dass das Programm am nächsten Tag erst um 10 Uhr fortgeführt wurde, konnten wir lange am Bonner Standort verweilen und es war genügend Zeit mit jedem in Kontakt treten zu können.

Auch in den darauffolgenden Wochen begleitete uns ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm. Wöchentlich gab es Fachvorträge, z.B. zur Wirtschaftsprüfung, zum Arbeitsrecht, Steuerrecht und Gesellschaftsrecht. Durch diese erhielt ich eine inhaltliche Vorstellung von und einen guten Überblick über die Bereiche in der Praxis. Beispielsweise wurde uns im Bereich „Steuern und M&A Transaktionen“ der Verkaufsprozesses eines Unternehmenskaufs von der Anbahnungsphase bis zum Vollzug (Closing) nähergebracht und wir lernten was einen „Asset Deal“ von einem „Share Deal“ unterscheidet und welcher wann sinnvoller ist.

Auch hier wurde immer ein steuerlicher Bezug hergestellt und die steuerlichen Vor- und Nachteile der Deals angesprochen. Außerdem gab es noch Schulungen zu Word, PowerPoint und Excel, bei denen man nicht ausschließlich Basiswissen, sondern auch tiefergehendes Knowhow vermittelt bekam. Abschließend wurde zu jedem Thema eine ausgiebige Q&A Session durchgeführt. Zudem konnten wir alle zwei Wochen in kleineren Gruppen einen Legal-English-Kurs teilnehmen, bei dem wir grammatikalisch und sprachlich gefördert und uns die Unterschiede zwischen „legal“ und „regular“ Englisch erklärt wurden. Hierbei kam es unserem muttersprachlichen Englischlehrer auf viel Kommunikation untereinander an, bei der ihm aber immer auch der Spaß wichtig war. Des Weiteren nahmen wir an einem Auftrittskompetenztraining teil. Letzteres schulte uns unter anderem zu den Themen freie Rede, Stegreifreden, Auftritte in virtuellen Veranstaltungen und Vorträge vor einem Publikum. Dabei wurde auch auf Besonderheiten im virtuellen Raum, in dem man z.B. die Wirkung nur durch Kopf und Oberkörper erzeugen kann, und auf das richtige Setting & Verhalten vor der Kamera eingegangen. So sollte man bei virtuellen Vorträgen unter anderem einen Raum mit Tiefe nutzen und auf den passenden Bildausschnitt achten. Durch interaktive Aufgaben und Übungen hatte man zudem die Möglichkeit das Gelernte bei kleinen Vorträgen umzusetzen und bekam dafür konstruktive Feedbacks. All das wird mir bei zukünftigen mündlichen Prüfungen und/oder Präsentationen eine Hilfe sein.

In besonderer Erinnerung bleiben mir der Bonner Firmenlauf mit anschließendem Ausklang, bei dem FGS mit über 80 Teilnehmern vertreten war, und die 50-jährige Jubiläumsfeier, zu der wir Praktikanten auch eingeladen wurden. Mit ca. 1000 Gästen startete dieser nachmittags im Atrium des FGS-Gebäudes. Alle Standorte wurden zudem durch lokale kulinarische Leckerbissen repräsentiert. So wurde unter anderem Weißwurst mit Brezeln für den Standort München und Currywurst für Berlin angeboten. Begleitet wurde die Veranstaltung durch Livemusik im Hintergrund. Zu meinem persönlichen Highlight zählt der weitere Ablauf des Abends. Nachdem Ausklang der Veranstaltung machten sich viele von uns auf den Weg in die Bonner Altstadt, wo wir zunächst noch eine Kneipe besuchten und später in einem Club endeten. Getragen wurde der gesamte Tag dabei von einer lustigen und gelösten Stimmung, großartigen Gesprächen und jeder Menge Spaß.

V. Ein Praktikums-Fazit

Das Praktikum bei FGS hat mir gezeigt, dass Großkanzlei zwar ein forderndes, motiviertes und anspruchsvolles, aber trotzdem angenehmes Umfeld sein kann, bei dem das Miteinander und die gute juristische Arbeit im Vordergrund steht. In positiver Erinnerung wird mir die professionelle und kommunikative sowie sehr kollegiale Zusammenarbeit zwischen den Anwälten bleiben. Teilweise bestätigten sich zwar längerer Arbeitszeiten (ca. 19-20 Uhr) und Stress, dennoch konnte man immer die Freude der Anwälte und Anwältinnen an der Juristerei erkennen.

Teil eines großen Teams zu sein, täglich seinen Beitrag zu diversen spannenden Projekten zu leisten und die Atmosphäre einer Großkanzlei über diesen Zeitraum mitzuerleben, sind Erfahrungen, die mich auch in Zukunft begleiten und die mir Motivation für das weitere Studium geben werden. Dank der vielen Veranstaltungen, der gemeinsamen Mittagessen und Spaziergänge war das Praktikum ebenfalls wertvoll, um Freundschaften zu schließen und Studenten und Studentinnen aus anderen Semestern kennenzulernen

Insgesamt blicke ich auf eine abwechslungsreiche, aufregende und bereichernde Zeit zurück, die mich als Juristen und als Person weitergebracht hat und die ich jedem weiterempfehlen kann.

VI. Ein kurzes Interview

Meine Tutorin Frau Dr. Siegfanz-Strauß aus dem Arbeitsrecht-Team geht hier noch einmal auf einige Fragen rund um das Praktikantenprogramm ein:

  1. Was erhofft man sich, insbesondere im Bereich Arbeitsrecht von dem Praktikantenprogramm – ergeben sich dadurch Möglichkeiten?

Wir hoffen, den Praktikanten im Praktikantenprogramm einen möglichst umfassenden Einblick in unsere Arbeit – inhaltlich und „organisatorisch“ – zu ermöglichen und gestalten dabei die Zeit bei uns möglichst interessant und lehrreich. Dabei versuchen wir, den Praktikanten als Team-Mitglied vollständig zu integrieren. Auch ist es wichtig, Möglichkeiten zu gestalten, die im Programm und im Team gewonnenen Kontakte auszubauen und bereits in diesem frühen Stadium dabei zu unterstützen, ein persönliches Netzwerk zu schaffen.  Dieses soll ehemaligen Praktikanten insbesondere die Möglichkeit geben, einen/mehrere Ansprechpartner für persönliche oder „strategische“ Fragen in Bezug auf die weiteren Schritte der juristischen Ausbildung zu gewinnen.

  1. Welche Erwartungen werden an den Praktikanten im Team gestellt?

Wir hoffen, dass es den Praktikanten gelingt, sich gut in das Team zu integrieren und Aufgaben zu verstehen und bestmöglich umzusetzen. Dabei kommt es uns bei den Praktikanten noch nicht darauf an, dass wir das Ergebnis 1:1 verwerten können, sondern vielmehr darauf, dass wir sehen, dass der Praktikant Engagement und Interesse an unserem Rechtsgebiet zeigt sowie Problemfelder erkennt und lernt, mit diesen umzugehen. Dabei setzen wir auf einen engen Austausch mit den Anwälten/Anwältinnen und Feedback, damit auch in der kurzen Zeit Fortschritte erzielt werden, die zu weiteren Einblicken und Zufriedenheit des Praktikanten führen. 

  1. Welche Möglichkeiten bestehen über das Praktikantenprogramm hinaus in Kontakt zu bleiben?

Bei FGS schaffen wir den weiteren Kontakt insbesondere über das KIT-Programm (keep-in-touch). Mit diesem Programm möchten wir mit Teilnehmern das gegenseitige Kennenlernen vertiefen und im Idealfall künftig in gleicher oder anderer Funktion wieder zusammenkommen. Die Programmteilnehmer werden deswegen zu verschiedenen FGS-Veranstaltungen eingeladen, erhalten aktuelle Informationen zu Entwicklungen bei FGS und bleiben auch mit dem für sie zuständigen Partner in Kontakt.

Darüber hinaus besteht aber auch in den einzelnen Abteilungen die weitergehende Möglichkeit, persönlich in Kontakt zu bleiben. Es ist uns wichtig, unsere Praktikanten auch im Anschluss an das Praktikantenprogramm weiterhin auf ihrem Weg zu begleiten und freuen uns immer, wenn wir immer einmal wieder kontaktiert werden, wenn unser Rat gefragt ist oder sich die Möglichkeit ergibt, gemeinsam weitere Karriereschritte zu planen. Dies kann über das Telefon, per E-Mail aber auch über Plattformen wie LinkedIn erfolgen.

  1. Was ist dir persönlich besonders wichtig (bzgl. des Programms, des Praktikanten)?

Mir persönlich ist es wichtig zu sehen, dass es ein Praktikant schafft, sich ins Team zu integrieren und sich bemüht, Aufgaben zu lösen und dabei auch aus Feedback zu lernen. Unsere Aufgabe dabei ist es, dem Praktikanten diese Möglichkeiten zu eröffnen, indem wir ihn offen aufnehmen, für Rückfragen jederzeit zur Verfügung stehen und ihm Aufgabenstellungen erläutern und diese in den Kontext einordnen. Wir hoffen, in der Praktikumszeit einen so weitgehenden Einblick in unsere Arbeit liefern zu können, dass der Praktikant am Ende weiß, dass die Tätigkeit als Anwalt/Anwältin im Bereich Arbeitsrecht bei FGS eine sehr interessante Option für den späteren Karriereweg ist.

03.01.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-01-03 07:26:222023-01-04 10:57:01Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“
Dr. Yannick Peisker

Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung

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Mit Beschluss vom 21. Juli 2022 hat das BVerfG entschieden, dass die Masernimpfpflicht nach § 20 IfSG verfassungsmäßig ist. Angesichts der noch ausstehenden Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-Impfpflicht besitzt die Entscheidung nicht nur Bedeutung für Examenskandidaten, sondern eine weit darüberhinausgehende Relevanz für die Gesamtgesellschaft, womöglich auch mit nicht zu unterschätzender sozialer Sprengkraft. Ein Blick in die Entscheidungsgründe lohnt sich daher umso mehr.

Der hiesige Beitrag setzt sich mit der Entscheidung technisch auseinander und beinhaltet eine klausurmäßige Aufbereitung für Examenskandidaten, damit die Bausteine der Entscheidung im juristischen Gutachten auch an der richtigen Stelle verortet werden. Dort wo Ausführungen in der Klausurlösung nicht unbedingt erwartet werden können oder wo davon auszugehen ist, dass der Sachverhalt hierzu keine Angaben macht oder machen kann, werden einige Passagen der Entscheidungsbegründung ausgelassen. Diese lassen sich natürlich hier aber noch einmal in der gesamten Länge nachlesen. Angesichts der Ausführlichkeit der Entscheidung wird hier auf eine Darstellung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verzichtet. Stattdessen wird sich auf eine Prüfung der Begründetheit konzentriert.

A. Der Sachverhalt

Die Beschwerdeführer richten sich gegen mehrere Regelungen des § 20 IfSG, im Einzelnen gegen § 20 Abs. 8 S. 1-3; Abs. 9 S. 1 und 6; Abs. 12 S. 1 und 3 sowie gegen Abs. 13 S. 1 IfSG.

Abs. 8 der Vorschrift regelt, dass Personen, die in einer bestimmten Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern, oder aber eine Immunität aufweisen müssen. Diese Pflicht gilt auch dann, wenn ausschließlich sogenannte Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die also mehrere Impfstoffkomponenten gegen verschiedene Krankheiten beinhalten. Für Personen, die in einer solchen Einrichtung tätig werden, gilt dies nach § 20 Abs. 9 ebenso. Kann eine betreute oder beschäftigte Person einen entsprechenden Nachweis nicht vorlegen, darf sie nach § 20 Abs. 9 S. 6 und 7 weder in der Einrichtung tätig werden, noch dort betreut werden. Es handelt sich also um eine sogenannte mittelbare Impfpflicht, da kein unmittelbarer Impfzwang ausgeübt wird, sondern lediglich nachteilige Maßnahmen an die Nichtimpfung geknüpft werden. Zu einer Impfung selbst zwingt das Gesetz nicht unmittelbar. Der Nachweis ist nach Abs. 12 S. 1 dem zuständigen Gesundheitsamt vorzulegen, ist das Kind minderjährig, trifft diese Pflicht die Eltern (§ 20 Abs. 13 S. 1).

Die hiesigen Beschwerdeführer waren die Eltern mehrerer Kinder, die in einer solchen Gemeinschaftseinrichtung untergebracht werden sollten. Die minderjährigen Kinder sind nicht geimpft und verfügen auch über keine Immunität gegen Masern. Gerügt wird die Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit der Kinder (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie eine Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Die Entscheidung setzt sich damit ausschließlich mit der Impfpflicht für betreute Personen, nicht aber für Beschäftigte auseinander. Die Erwägungen des BVerfG lassen sich aber übertragen. Sollte der Klausursachverhalt auf die Beeinträchtigung der Grundrechte der dort Beschäftigten abzielen, kann daher ähnlich verfahren werden. Zu prüfen wäre dann eine Verletzung des Art. 12 GG neben einer Verletzung des Art. 2 GG.

B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die behauptete Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt ist.

I. Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG

Zunächst könnte das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers […]. Träger dieses Rechts ist „jeder“, mithin auch ein Kleinkind […]. Kindern kommt außerdem ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu (Art. 2 Abs. 1 GG). Dabei bedürfen sie des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verpflichtet den Gesetzgeber, die hierfür erforderlichen Lebensbedingungen des Kindes zu sichern. Diese im grundrechtlich geschützten Entfaltungsrecht der Kinder wurzelnde besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen. Die vom Gesetzgeber näher auszugestaltende Schutzverantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist sie in erster Linie den Eltern zugewiesen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 78-79.

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, wenn durch zielgerichtetes staatliches Handeln in Form eines Rechtsaktes, welcher mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, unmittelbar in grundrechtlich geschützte Positionen eingegriffen wird. Nach dem modernen Eingriffsbegriff kann ein Eingriff auch dann vorliegen, wenn ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, unabhängig davon, ob die Wirkung final, unmittelbar, rechtlich erfolgt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, sofern die Grundrechtsbeeinträchtigung einer grundrechtsgebundenen Gewalt zugerechnet werden kann und nicht unerheblich ist. Nach diesen Maßstäben liegt hier ein Eingriff vor:

„Nach Art und Gewicht wirken die beanstandeten Vorschriften in einer Weise auf die den sorgeberechtigten Eltern anvertraute Sorge über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder ein, dass sie als zielgerichteter mittelbarer Eingriff in das Recht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu bewerten sind. Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf die Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Dadurch wäre eine gegenständliche Einwirkung auf die körperliche Integrität vermieden. Allerdings sind mit dieser Disposition über die körperliche Unversehrtheit der Kinder erhebliche nachteilige Folgen für diese verbunden. Wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots verlieren sie ihren eingeräumten Anspruch auf frühkindliche oder vorschulische Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII oder können diesen jedenfalls nicht mehr durchsetzen […]. Diesen Förderformen misst der Gesetzgeber aber selbst erhebliche Bedeutung für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte kindliche Persönlichkeitsentwicklung zu. Wird eine solche Betreuung und Förderung ‒ wie vorliegend ‒ von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, geht von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, kommt in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gleich. Da insbesondere der von dem Betreuungsverbot ausgehende Druck auf die entscheidungsbefugten Eltern nach den Vorstellungen des Gesetzgebers die Gestattung der Impfungen befördern soll, handelt es sich ebenfalls um einen zielgerichteten mittelbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 81

Mithin liegt ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor.

3. Rechtfertigung

Eine Verletzung des Grundrechts liegt nicht vor, wenn der Eingriff gerechtfertigt ist, dies wäre der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) Wahrung des Gesetzesvorbehalts

In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darf nach S. 2 nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, um ein solches handelt es sich bei den angegriffenen Regelungen des § 20 IfSG.

b) Formelle Verfassungsmäßigkeit

§ 20 IfSG müsste formell verfassungsmäßig sein.

aa) Zuständigkeit

Es handelt sich um ein Bundesgesetz, der Bund ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zuständig, es handelt sich um eine Maßnahme gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren.

bb) Verfahren

Die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren wurden eingehalten.

cc) Wahrung des Zitiergebots

Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wurde für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in § 20 Abs. 4 GG gewahrt.

c) Materielle Verfassungsmäßigkeit

Das Gesetz müsste materiell verfassungsmäßig sein.

aa) Verstoß gegen Art. 20 GG

Die Regelung des IfSG wäre nur dann verfassungsmäßig, wenn sie nicht gegen die Grundsätze des Art. 20 GG verstößt. In Betracht kommt vorliegend ein Verstoß gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Vorbehaltes des Gesetzes. Diese gebieten konkret, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. Zum einen ist der Gesetzgeber geboten die Fragen zu regeln, die wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind, zum anderen die Regelungen, die für Staat und Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung sind.

„Diesen Anforderungen genügte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nicht, wenn er so zu verstehen wäre, dass § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG auch gilt, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten […]. Der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG enthält keine ausdrücklichen Beschränkungen von Impfstoffkomponenten „gegen andere Krankheiten“ als Masern, die in auch zur Masernimpfung verwendeten Kombinationsimpfstoffen enthalten sind. So verstanden, wirkte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG ähnlich wie eine dynamische Verweisung, nach der die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung auch zukünftig bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen mit beliebig vielen weiteren Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern gölte. Die tatsächlichen Bedingungen der Erfüllung der Auf- und Nachweispflicht wären dann davon abhängig, welche Impfstoffe mit welchen Komponenten nach der jeweiligen Marktlage verfügbar sind. Dann fänden die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, den Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nachzukommen, jedoch keine hinreichende Grundlage mehr im Gesetz […]. Das Gewicht des Eingriffs in die hier betroffenen Grundrechte der Kinder und ihrer Eltern wird aber durch die Anzahl der in einem Kombinationsimpfstoff enthaltenen Impfstoffkomponenten mitbestimmt. Die Frage, durch welche Impfstoffe die Pflicht erfüllt werden kann, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, ist daher wesentlich für die Grundrechte und grundsätzlich durch den Gesetzgeber zu klären. Inwieweit er darin den Verordnungsgeber einbeziehen kann, bestimmt sich nach Art. 80 Abs. 1 GG.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 96

Ein Verstoß kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG verfassungskonform ausgelegt werden kann:

„§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG kann verfassungskonform so auslegt werden, dass die Pflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Allein auf Mehrfachimpfstoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich die vom Gesetzgeber des Masernschutzgesetzes getroffenen grundrechtlichen Wertungen […]. Damit werden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthält der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürfen. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen wird jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen, noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt, oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt […].

So bietet die Entstehungsgeschichte der Vorschrift ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Erfüllung der Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen auf die genannten Kombinationen beschränken wollte. Die Begründung des Gesetzentwurfs nennt allein Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln oder Masern-Mumps-Röteln-Windpocke […] und geht von der Anwendbarkeit von Satz 1 bei Verfügbarkeit nur dieser Kombinationsimpfstoffe aus. […] Die vom Paul-Ehrlich-Institut geführte Liste zugelassener Kombinationsimpfstoffe weist zudem aus, dass es sich bei den auch masernwirksamen Kombinationsimpfstoffen seit langem ausschließlich um solche mit den weiteren Komponenten gegen Mumps, Röteln und Windpocken handelt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass sich die seit Jahren unveränderte Lage dahingehend verändern könnte, dass sich Wirkstoffkombinationen der in Deutschland zugelassenen Masernimpfstoffe in absehbarer Zeit ändern und zu den Mumps-, Röteln- und Windpocken-Impfstoffkomponenten weitere hinzukommen könnten.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 98-100

Berücksichtigt man diese Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung, liegt kein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vor. Dieses Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung ist auch für die nachfolgenden Ausführungen zu unterstellen, die Norm besitzt ausschließlich diesen Rechtsgehalt.

bb) Verhältnismäßigkeit der Regelung

Die angegriffenen Normen müssten auch verhältnismäßig sein. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber einen legitimen Zweck verfolgt, die Regelung zur Verfolgung dieses Zwecks geeignet und erforderlich ist und die Regelung angemessen ist, das heißt die Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu den ihn rechtfertigenden Gründen steht.

(1) Legitimer Zweck

Der Gesetzgeber müsste einen legitimen Zweck verfolgen:

 „Die angegriffenen Vorschriften des Masernschutzgesetzes bezwecken einen verbesserten Schutz vor Maserninfektionen, insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen […]. Das soll nicht nur die Einzelnen gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, was eine ausreichend hohe Impfquote in der Bevölkerung erfordert. So können auch Personen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe im Fall einer Infektion drohen. […] Zudem will der Gesetzgeber das von der Weltgesundheitsorganisation verfolgte Ziel unterstützen, die Masernkrankheit in den Mitgliedstaaten sukzessiv zu eliminieren, um die Krankheit schließlich weltweit zu überwinden […]. […] Damit kommt der Gesetzgeber erkennbar seiner in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Schutzpflicht nach. Lebens- und Gesundheitsschutz sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz Einzelner vor Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Gesundheit umfasst, kann daher auch eine Schutzpflicht des Staates folgen, Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu treffen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 106-107.

Die Impfpflicht verfolgt daher einen legitimen Zweck.

(2) Geeignetheit

Die gesetzliche Regelung müsste geeignet zur Erreichung dieses Zwecks sein, das heißt sie müsste in der Lage sein, diesen Zweck zu fördern:

„Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen als auch dazu, diejenige in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben. Werden dort künftig grundsätzlich nur noch Kinder mit Impfschutz oder Immunität betreut, trägt das ‒ ebenso wie das Betreuungsverbot des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG ‒ zu einer Reduzierung der Ansteckungsgefahr mit dem Masernvirus bei. Angesichts einer Betreuungsquote in Kindertagesbetreuung von 34,3 % bei unter 3-Jährigen und von 93 % bei 3- bis 5-Jährigen […] erhöht sich hierdurch auch insgesamt die Impfquote in der Bevölkerung. Bei einer von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG vorgegebenen zweifachen Impfung gegen Masern wird nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen von einer Impfeffektivität von 95 bis 100 % im Mittel ausgegangen. Das gilt auch bei der Verwendung eines von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG erfassten Kombinationsimpfstoffs […] Der Impfschutz wirkt lebenslang.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 114-115

Die Impfpflicht ist zur Zielerreichung geeignet.

(3) Erforderlichkeit

Dies gesetzliche Regelung müsste erforderlich sein, das heißt es dürften keine gleich geeigneten, milderen Mittel zur Zweckerreichung zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht dabei grundsätzlich eine Einschätzungsprärogative zu, die umso weiter reicht, je komplexer die zu regelnde Materie ist.

„Aus den ihm vorliegenden wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen konnte der Gesetzgeber daher […] den Schluss ziehen, dass diese Maßnahmen bislang nicht genügt haben, um eine Herdenimmunität gegen Masern herzustellen. […] Der Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen steht nicht entgegen, dass § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG den Aufweis einer durch Impfung erlangten Masernimmunität auch dann verlangt, wenn lediglich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen und es im Inland seit einigen Jahren auch keine zugelassenen Monoimpfstoffe mehr gibt. […] Denn die Frage der gleichen Eignung muss anhand des Gesetzeszwecks beurteilt werden. Die Bekämpfung sonstiger Krankheiten ist aber nicht Zweck der allein gegen Masern gerichteten Regelung. Gegen die gleiche Eignung einer nur auf Monoimpfstoffe gerichteten Regelung spricht jedoch, dass es im Inland mittlerweile keine Masernmonoimpfstoffe mehr gibt, für früher angebotene Monoimpfstoffe inzwischen mangels Nutzung sogar die Zulassung entfallen ist. Vor diesem Hintergrund wäre der Zweck des Gesetzes mit einer auf Monoimpfstoffe beschränkten Verpflichtung weniger gut zu erreichen, weil alle Kinder ungeimpft blieben, deren Eltern der Verwendung eines Kombinationsimpfstoffs nicht freiwillig zustimmen. Auch eine gesetzliche Verpflichtung zuständiger staatlicher Stellen, solche Monoimpfstoffe herstellen zu lassen oder sonst für deren Verfügbarkeit im Inland zu sorgen, wäre keine gleich geeignete Maßnahme im Sinne der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit […] Ist allerdings der von § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG geforderte Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt worden, ist dies regelmäßig als zur Erreichung des Gesetzeszwecks ebenso geeignetes Mittel anzusehen […]. Die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Mehrfachimpfstoff ist dann nicht erforderlich und darf zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht gefordert werden.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 125-128

Die Impfpflicht ist daher zur Zielerreichung erforderlich.

(4) Angemessenheit

Die gesetzliche Regelung müsste angemessen sein, das heißt die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der verfolgten Zwecke stehen:

(aa) Eingriffsintensität

Fraglich ist, als wie gewichtig die Eingriffsintensität der Impfpflicht zu beurteilen ist.

„Der Eingriff in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgt mittelbar durch die Einwirkung auf die Ausübung des die Gesundheitssorge betreffenden Elternrechts. Entscheiden sich die sorgeberechtigten Eltern zwecks Meidung des Betreuungsverbots aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, ihr in einer betroffenen Einrichtung betreutes Kind impfen zu lassen, geht dies mit einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes einher. Allerdings ist dieser mittelbare Eingriff weder nach der Art der sich anschließenden körperlichen Einwirkung selbst noch aufgrund der Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit über die körperliche Unversehrtheit besonders schwerwiegend. Zwar kann selbst eine Impfung mit erprobten, weitgehend komplikationslosen Impfstoffen […] nicht ohne Weiteres als unbedeutender vorbeugender ärztlicher Eingriff eingeordnet werden […]. Die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion ist jedoch um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Etwas häufiger vorkommende harmlose Impfreaktionen erhöhen das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht maßgeblich […]. […] Zwar gewährleistet das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz auch, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten […]. Zur Wahrnehmung dieser Autonomie ist ein Kind anfangs allerdings zunächst entwicklungsbedingt nicht in der Lage. […] Mit dem Grundrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbindet sich darum kein ebenso weitreichendes Recht auf medizinisch unvernünftige Entscheidung wie bei Erwachsenen, die über den Umgang mit ihrer eigenen Gesundheit nach eigenem Gutdünken entscheiden können […]. Dem stärker an medizinischen Standards auszurichtenden körperlichen Kindeswohl dienlich ist regelmäßig die Vornahme empfohlener Impfungen, nicht ihr Unterbleiben. Das gilt auch für die Verabreichung von Kombinationsimpfstoffen […]. Daher kann den angegriffenen, gerade zur Vornahme einer empfohlenen Impfung anreizenden gesetzlichen Regelungen kein besonders hohes Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beigemessen werden. Dabei wird das Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch dadurch abgemildert, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufheben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belassen. Sie ordnen keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an […]. Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 142-145

Die Eingriffe wiegen nicht besonders schwer.

(bb) Überwiegen die verfolgten Interessen diese Intensität?

Die verfolgten Interessen müssten diese Eingriffsintensität überwiegen.

„Trotz der nicht unerheblichen Eingriffe in das Abwehrrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG konnte der Gesetzgeber der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen den Vorrang einräumen. Für die Schutzpflicht streiten die hohe Übertragungsfähigkeit und Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis, SSPE) zu erleiden. Bei Kindern unter fünf Jahren liegt dieses Risiko bei etwa 0,03 und bei Kindern unter einem Jahr bei etwa 0,17 % […].

Demgegenüber treten bei einer Impfung nur milde Symptome und Nebenwirkungen auf; ein echter Impfschaden ist extrem unwahrscheinlich […]. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die realistische Möglichkeit der Eradikation der Masern die staatliche Schutzpflicht stützt, weshalb selbst bei einer sinkenden Inzidenz von Krankheitsfällen – zu einem Sinken dürfte es kommen, je näher das Ziel der Herdenimmunität durch eine steigende Impfquote rückt – das Abwehrrecht der Beschwerdeführenden, in das die Auf- und Nachweispflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger mittelbar eingreift, aufgrund geringerer Gefahrennähe weniger Gewicht für sich beanspruchen kann, als der vom Gesetzgeber verfolgte Schutz impfunfähiger Grundrechtsträger. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Prognose die Gefahren in der Weise bewertet, dass das geringe Restrisiko einer Impfung im Vergleich zu einer Wildinfektion mit Masern bei gleichzeitiger Beachtung der – auch den betroffenen Kindern zugutekommenden – Impfvorteile zurücksteht. Im Ergebnis führt die Masernimpfung daher zu einer erheblich verbesserten gesundheitlichen Sicherheit des Kindes. […]

Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht ihrer sorgeberechtigten Eltern sind auch nicht insoweit unzumutbar, als § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Auf- und Nachweispflicht selbst dann vorsieht, wenn zur Erlangung des Masernimpfschutzes – wie es derzeit in Deutschland der Fall ist – ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen […]. Zwar führt dies faktisch dazu, dass die Kinder bei entsprechender Entscheidung ihrer Eltern die Impfung mit zusätzlichen Wirkstoffen hinnehmen müssen, derer es zum Erfüllen der Auf- und Nachweispflicht aus § 20 Abs. 8 und 9 IfSG nicht bedarf und auf deren Schutzeffekte das Gesetz nicht zielt. Das führt jedoch nicht zur Unangemessenheit der angegriffenen Regelungen. Sofern Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt wurde, ist die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Kombinationsimpfstoff ohnehin nicht erforderlich und darf dessen Verwendung nicht gefordert werden.

Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, überwiegen im Ergebnis die für den Aufweis anhand eines Mehrfachimpfstoffs sprechenden Argumente. Denn die aktuell in den Mehrfachimpfstoffen enthaltenen weiteren Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene, also eine positive Risiko-Nutzen-Analyse aufweisende Impfungen. Sie sind deshalb ihrerseits grundsätzlich kindeswohldienlich, wenngleich insoweit weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht noch entsprechende schwere Krankheitsverläufe eintreten können. Ausweislich der Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts und der Ständigen Impfkommission besteht zwischen dem Nebenwirkungsprofil eines Monoimpfstoffs und den in Deutschland zugelassenen Kombinationsimpfstoffen jedenfalls kein wesentlicher Unterschied. Dem steht die Dringlichkeit gegenüber, diejenigen Personen, die sich nicht selbst durch Impfung schützen können, mittels Gemeinschaftsschutz zu schützen. Für diesen bedarf es der genannten Impfquote von 95 %, die gerade auch in den Altersgruppen nicht erreicht ist, die in den hier betroffenen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden. Würde die Pflicht zum Auf- und Nachweis der Masernimpfung auf Situationen beschränkt, in denen ein Monoimpfstoff zur Verfügung steht, würde die erforderliche Impfquote weniger gut erreicht. In der Gesamtabwägung ist es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz für vulnerable Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dafür auch die Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den vom Gesetzgeber mit der Anordnung in § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG in Kauf genommenen Einsatz der aktuell einzig verfügbaren Kombinationsimpfstoffe hinzunehmen sind. Auch weil damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren durch Kombinationsimpfstoffe erfassten Krankheiten verbunden ist, ist das Interesse, dass mangels verfügbarer Monoimpfstoffe Kombinationsimpfstoffe zum Einsatz kommen, höher zu gewichten als die Interessen der betroffenen Kinder und Eltern, diese nicht verwenden zu müssen. Angesichts des die Beeinträchtigungen deutlich überwiegenden Interesses am Schutz vulnerabler Personen gegen Masern erscheint zudem derzeit auch zur Wahrung der Angemessenheit nicht geboten, dass der Staat durch Beschaffung, Herstellung oder Marktintervention die Verfügbarkeit von Monoimpfstoff sichert.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 149-152
(cc) Zwischenergebnis

Die verfolgten Zwecke überwiegen damit das Gewicht des Eingriffs, die verfassungskonform ausgelegte Regelung ist angemessen.

(5) Zwischenergebnis

Die Regelung ist verhältnismäßig.

cc) Zwischenergebnis

Die Regelung ist materiell verfassungsmäßig.

4. Ergebnis

Die Regelung ist nach verfassungskonformer Auslegung sowohl formell als auch materiell verfassungsmäßig. Der Eingriff in das Grundrecht ist mithin gerechtfertigt. Die Beschwerdeführer sind in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht verletzt.

II. Verletzung von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG

Es könnte jedoch eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen […]. Das Elternrecht unterscheidet sich allerdings von den anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs wesentlich dadurch, dass es keine Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern, sondern eine solche zum Schutze des Kindes und in dessen Interesse gewährt […]. Dazu gehört im Grundsatz die Sorge für das körperliche Wohl, worunter die Gesundheitssorge insgesamt und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen fällt […]. Schon wegen der möglichen Auswirkungen von Impfungen auf die weitere Entwicklung des Kindes ([…] handelt es sich bei der elterlichen Entscheidung darüber um ein wesentliches Element des Sorgerechts.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 67-69

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen:

„Wollen Eltern ihren vorhandenen Wunsch nach solcher Betreuung umsetzen, ist dies rechtlich grundsätzlich nur dann möglich, wenn sie einen Nachweis über die Masernimpfung ihrer Kinder vorlegen (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG). Die Entscheidung selbst, Kinder impfen zu lassen, ist wiederum wesentlicher Teil des durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten elterlichen Sorgerechts, das die Entscheidungsbefugnis über die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder umfasst. Bei Ausbleiben des Nachweises wirken die angegriffenen Vorschriften erheblich auf die Entschließungsfreiheit der Eltern bei der Ausübung des Elternrechts in beiden Komponenten ein. Die gesetzlichen Regelungen über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das Betreuungsverbot bei Ausbleiben dieses Nachweises kommen in Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 74-75

Auch ein Eingriff in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG liegt mithin durch § 20 IfSG vor.

3. Rechtfertigung

Der Eingriff in das Grundrecht ist nicht verfassungswidrig, wenn er gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) formelle Verfassungsmäßigkeit

Hinsichtlich Zuständigkeit und Verfahren wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Fraglich ist jedoch, ob auch in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG das Zitiergebot eingehalten wurde.

Dafür müsste es für Art. 6 Abs. 2 S. 1 jedoch überhaupt Anwendung finden.

„Das Zitiergebot dient der Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines spezifischen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden können […]. Von solchen Grundrechtseinschränkungen grenzt es andersartige grundrechtsrelevante Regelungen ab, die der Gesetzgeber in Ausführung ihm obliegender, im Grundrecht vorgesehener Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt […]. Kommt es danach für die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich auf das Vorhandensein grundrechtsspezifischer Gesetzesvorbehalte an, fällt das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in den Anwendungsbereich. Es unterliegt gerade keinem solchen Gesetzesvorbehalt und ist deshalb lediglich sich aus der Verfassung selbst ergebenden Einschränkungen zugänglich […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 92

Das Zitiergebot musste daher nicht gewahrt werden, es kann der Verfassungsmäßigkeit nicht entgegenstehen.

b) materielle Verfassungsmäßigkeit

Ein Verstoß gegen Art. 20 GG liegt bei verfassungskonformer Auslegung der Regelung nicht vor. Es handelt sich um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, welches nur durch verfassungsimmanente Schranken im Wege der praktischen Konkordanz eingeschränkt werden kann. Eine Rechtfertigung des Eingriffs im Wege der praktischen Konkordanz setzt voraus, dass ein kollidierendes Verfassungsgut vorliegt und ein verhältnismäßiger Ausgleich der kollidierenden Güter gewählt wurde. Dies ist der Fall, wenn die Maßnahme zum Ausgleich geeignet, erforderlich und angemessen ist.

aa) Verfolgung des Schutzes eines anderen Verfassungsgutes.

In Gestalt der staatlichen Schutzpflicht verfolgt die gesetzliche Regelung den Schutz eines anderen Verfassungsgutes.

bb) Eignung

Die Maßnahme ist zur Herstellung praktischer Konkordanz geeignet, siehe oben.

cc) Erforderlichkeit

Selbiges gilt für die Erforderlichkeit

dd) Angemessenheit

Der Interessenausgleich müsste angemessen erfolgt sein, dies ist der Fall, wenn die Einschränkung des einen Verfassungsgutes nicht außer Verhältnis zum Gewicht des den Eingriff rechtfertigenden Verfassungsgutes steht.

(1) Eingriffsgewicht

Fraglich ist, wie gewichtig der Eingriff ist.

„Die angegriffenen Regelungen greifen in das vom Elternrecht umfasste Recht auf Gesundheitssorge ein, da sie gebieten, dass Eltern einer Impfung ihrer Kinder zustimmen. Zwar sind sie letztlich nicht unausweichlich verpflichtet, einer Impfung zuzustimmen. Tun sie dies aber nicht, ist dies jedoch mit spürbaren Nachteilen für sie selbst und ihre Kinder verbunden. […] Mit der angegriffenen Nachweispflicht verengt das Infektionsschutzrecht die Wahlmöglichkeit der Eltern nicht unbeträchtlich, indem der Betreuungsanspruch ohne Impfnachweis entfällt oder zumindest nicht durchgesetzt werden kann […]. Dabei dient die Nachweispflicht nicht ihrerseits der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern im Alter vor Schuleintritt, sondern bezweckt neben deren Eigenschutz gegen eine Maserninfektion vor allem den Gemeinschaftsschutz vor den Gefahren von Maserninfektionen […]. Das verstärkt die Intensität des Eingriffs in das Elternrecht, weil die betroffenen Eltern im fremdnützigen Interesse des Schutzes der Bevölkerung entgegen den eigenen Vorstellungen zu einer Disposition über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder gedrängt werden. Da die Wahrnehmung des Betreuungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 IfSG an den Auf- und Nachweis der Masernimpfung geknüpft ist (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG), wirken die beanstandeten Vorschriften auch auf das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht ein. […] (135) Bei den hier zu beurteilenden Regelungen ist das Gewicht des die Gesundheitssorge treffenden Eingriffs in das Elternrecht dadurch reduziert, dass die Impfung nach medizinischen Standards gerade auch dem Gesundheitsschutz der auf- und nachweisverpflichteten Kinder selbst dient. Nach fachgerichtlicher Einschätzung bilden die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission den medizinischen Standard ab, und der Nutzen der jeweils empfohlenen „Routineimpfung“ überwiegt das Impfrisiko […]. Regelmäßig ist damit die Vornahme empfohlener Impfungen dem Kindeswohl dienlich. Davon geht auch die fachgerichtliche Rechtsprechung für Sorgerechtsentscheidungen bei Streitigkeiten über empfohlene Schutzimpfungen zwischen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern aus […]. Das lässt den Eingriff in das Gesundheitssorgerecht der Eltern zwar nicht entfallen. Deren Entscheidungen in Fragen der Gesundheitssorge für ihr Kind bleiben auch bei entgegenstehenden medizinischen Einschätzungen im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich schutzwürdig. Da das Grundgesetz ihnen aber die Gesundheitssorge wie alle anderen Bestandteile der elterlichen Sorge im Interesse des Kindes ‒ insoweit zum Schutz seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit ‒ überträgt, ist es jedoch für die Eingriffstiefe von Bedeutung, wenn die Einschränkung der Gesundheitssorge ihrerseits nach medizinischen Standards gerade den Schutz der Gesundheit des Kindes fördert. […] Das Elternrecht bleibt ein dem Kind dienendes Grundrecht. Ein nach medizinischen Standards gesundheitsförderlicher Eingriff in die elterliche Gesundheitssorge wiegt weniger schwer als ein Eingriff, der nach fachlicher Einschätzung die Gesundheit des Kindes beeinträchtigte. Dieser objektiv vorhandene Impfvorteil für die Kinder mindert daher das Gewicht des Eingriffs in die elterliche Gesundheitssorge durch das Betreuungsverbot. […]

Eingriffsintensivierend wirkt dagegen unter einem anderen Aspekt des Elternrechts das bei ausbleibendem Impfnachweis geltende Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG. Denn dadurch wird die Vereinbarkeit von Familie und Elternschaft mit der Erwerbstätigkeit der Eltern […] beeinträchtigt. […] Betroffene Eltern müssen daher entweder auf Betreuung außerhalb von Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG ausweichen oder die eigene Erwerbstätigkeit umgestalten, um die Kinderbetreuung selbst wahrnehmen zu können. Daher geht mit dem Betreuungsverbot wegen der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheit von Eltern, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen, ein nicht unerhebliches Eingriffsgewicht einher. Das Gewicht des Eingriffs in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unter diesem Aspekt wird durch die Beeinträchtigung damit korrespondierender Rechtspositionen der Kinder verstärkt. […] Das Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG versperrt aber betroffenen Kindern, auch den jeweiligen Beschwerdeführenden zu 3), die Wahrnehmung ihres Anspruchs, wenn die Eltern eine das Verbot auslösende Entscheidung zur Gesundheitssorge getroffen haben. Dem kommt Gewicht auch deshalb zu, weil nicht allein der dargestellte fachrechtlich eingeräumte Förderanspruch von Kindern betroffen ist, sondern wegen der in § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfolgten Ausgestaltung auch das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde, gegen den Staat gerichtete Recht von Kindern auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Person in der sozialen Gemeinschaft […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 134-139

Der Eingriff ist daher nicht besonders schwerwiegend, aber auch nicht unerheblich.

(2) Ausgleich der Interessen

In Bezug auf den Interessenausgleich lässt sich weitestgehend nach oben verweisen, die dort angeführten Argumente lassen sich hier erneut platzieren.

ee) Zwischenergebnis

Die gesetzliche Regelung stellt einen angemessenen Ausgleich her, der Eingriff ist im Wege praktischer Konkordanz gerechtfertigt.

4. Ergebnis

Auch der Eingriff in das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist gerechtfertigt

III. Gesamtergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet, die Beschwerdeführer sind nicht in ihren verfassungsrechtlich geschützten Rechten verletzt.

C. Eine kurze und abschließende Summa

Die wesentlichen Kernaussagen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine Impfpflicht für Masern ist zumutbar, auch wenn nur ein Kombinationsimpfstoff zur Verfügung steht. Die Vorschrift ist verfassungskonform so auszulegen, dass nur die Kombinationsimpfstoffe verwendet werden dürfen, die im Zeitpunkt des Erlasses der Norm vorliegen. Ein Impfstoff, der ausschließlich Wirkstoffe gegen Masern enthält, wäre jedoch ein milderes und gleichgeeignetes Mittel, sobald diese in Deutschland verfügbar sind, müssen diese verimpft werden. Letztlich sind sowohl Eingriffe in das Elternrecht, aber auch Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit angesichts der staatlichen Schutzpflicht für vulnerable Gruppen – also für Menschen, die nicht durch eine Impfung geschützt werden können – gerechtfertigt. Dies dürfte auch auf eine denkbare Beeinträchtigung der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG zu übertragen sein. Auch mit Blick auf die Corona-Impfpflicht der in Gesundheitseinrichtungen tätigen Personen nach § 20a IfSG dürfte das BVerfG die entscheidenden Weichen gestellt haben.

18.08.2022/3 Kommentare/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-08-18 11:03:272022-08-18 15:18:28Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung
Dr. Yannick Peisker

Versammlungsfreiheit: Auch die Infrastruktur unterfällt dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG

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Das BVerwG (Az. 6 C 9.20) befasste sich erneut mit dem Umfang der prüfungsrelevanten Versammlungsfreiheit. Es hatte zu prüfen, ob auch die infrastrukturellen Einrichtungen eines Protestcamps dem Schutzgehalt des Art. 8 Abs. 1 GG unterfallen. Erstmals stand nun eine höchstrichterliche Entscheidung an, nachdem die Vorinstanz Art. 8 Abs. 1 GG für einschlägig erachtete. Eine Entscheidung des BVerfG steht in diesen Fällen noch aus, es ließ in sämtlichen Eilentscheidungen eine abschließende Bewertung offen und bezeichnete dies ausdrücklich als weitgehend ungeklärt. Die Examensrelevanz dürfte daher nicht zu unterschätzen sein, bietet sich die Versammlungsfreiheit aufgrund der besonderen grundrechtlichen Verschränkungen mit dem Polizei- und Ordnungsrecht in zahlreichen Fallgestaltungen an.

I. Die zu entscheidende Sachlage

Die Klägerin meldete im August 2017 ein Klimacamp als öffentliche Versammlung unter freiem Himmel bei dem Polizeipräsidium Aachen an. Es ordnete auf Grundlage des § 15 VersG eine Ortsauflage an und wies einen benachbarten Sportplatz als Versammlungsfläche zu, dort durften Übernachtungszelte errichtet werden. Nachdem der Sportplatz belegt war, mietete die Klägerin privat ein Feld als weitere Fläche an und informierte die zuständige Behörde. Mit einer nach Beginn der Versammlung erlassenen weiteren Verfügung wurde dieses Feld als Versammlungsfläche abgelehnt, es bestehe kein Grund, diese Fläche dem vorsorglich als Versammlung bewerteten Klimacamp zugehörig zu erklären.

Hiergegen erhob die Klägerin Klage auf Feststellung, dass die Verfügung des Polizeipräsidiums Aachen rechtswidrig gewesen sei, soweit das Feld als Versammlungsfläche abgelehnt worden sei. Das VG Aachen hatte die Klage zunächst abgewiesen, das OVG Münster hat auf die Berufung hin die Entscheidung in Form eines Beschlusses nach § 130a VwGO geändert und dem Feststellungsantrag entsprochen. Nunmehr stand die Entscheidung des BVerwG über die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils an.

Die zulässige Revision wurde durch das BVerwG jedoch als unbegründet verworfen. Ausführungen zur Zulässigkeit können Sie hier nachlesen (Az. beim BVerwG 6 C 9.20). Vielmehr soll sich auf den wesentlichen materiellen Inhalt der Entscheidung beschränkt werden. Dies ist zum einen die Frage, ob das Klimacamp selbst eine Versammlung iSd. Art. 8 Abs. 1 GG war und darüber hinaus, ob auch die für das Klimacamp vorgesehenen Schlafplätze auf dem angemieteten Feld als infrastrukturelle Einrichtung vom Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG erfasst werden.

II. Protestcamps als Versammlung iSd. Art. 8 Abs. 1 GG

Bei einem Klimacamp handelt es sich um eine erst seit jüngerer Zeit auftretende Form des kollektiven Protests. Diese Protestcamps werden insbesondere durch ihre zeitliche Dauer geprägt, sie dauern von einigen Tagen bis hin zu mehreren Monaten oder sogar Jahren an. Aufgrund dieser besonderen zeitlichen Lage erwächst, anders als bei zeitlich eng begrenzten Versammlungen, ein spezifisches Bedürfnis nach Infrastruktureinrichtungen, wie etwa Sanitäreinrichtungen, Übernachtungsplätzen und Verpflegungseinrichtungen. Das Bundesverfassungsgericht, welches bisher nur im Eilrechtsschutz mit diesen Camps befasst war, hatte diese als versammlungsrechtlich weitgehend ungeklärt bezeichnet (BVerfG, Beschl. v. 28.6.2017 – 1 BvR 1387/17; Beschl. v. 21.9.2020 – 1 BvR 2152/20; Beschl. v. 30.8.2020 – 1 BvQ 94/20).

Zu der Eigenschaft des Klimacamps als Versammlung schreibt des BVerwG das Folgende:

bb. Vor dem Hintergrund des in Art. 8 GG wurzelnden Rechts des Veranstalters einer Versammlung, selbst unter anderem über deren Zeitpunkt und damit auch über deren Dauer zu bestimmen, sowie dem hieraus weithin abgeleiteten Grundsatz, dass es keine zeitlichen Höchstgrenzen für Versammlungen gibt […], steht allein der Charakter eines Protestcamps als einer auf längere Dauer angelegten Veranstaltung seiner rechtlichen Einordnung als Versammlung grundsätzlich nicht entgegen.

Im Rahmen der außerhalb des Selbstbestimmungsrechts des Veranstalters liegenden, den zuständigen Behörden und ggf. angerufenen Gerichten zustehenden rechtlichen Beurteilung, ob eine Veranstaltung den Versammlungsbegriff erfüllt […], kann eine andere Annahme in dem Fall eines Camps mit einer absehbar sehr langen, etwa auf viele Monate oder gar Jahre angelegten Dauer gerechtfertigt sein. Eine solche extrem lange Dauer kann ein Indiz dafür sein, dass mit dem Camp tatsächlich kein versammlungsspezifischer Zweck verfolgt wird. In diesem Zusammenhang kommt es auf die Erklärungen an, die der Veranstalter bei der Anmeldung oder im Rahmen von anschließenden Kooperationsgesprächen gegenüber der Versammlungsbehörde abgegeben hat. Der Veranstalter eines Protestcamps muss zwar nicht – gleichsam einem Schema gehorchend – mit der Anmeldung ein lückenloses Konzept mit konkreten Programmpunkten vorlegen […]. Seinen Angaben muss sich jedoch nach objektivem Verständnis ein auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteter kommunikativer Zweck entnehmen lassen. Da es sich bei einem Protestcamp um eine Dauerveranstaltung handelt, ist der Veranstalter gehalten, den versammlungsspezifischen Zweck im Sinne einer auf die voraussichtliche Dauer bezogenen Gesamtkonzeption zu substantiieren.

Zur Verhinderung von durch die Dauer eines Protestcamps hervorgerufenen, nicht hinnehmbaren Beeinträchtigungen von Rechten Dritter oder öffentlichen Belangen bedarf es keines Ansetzens an dem Versammlungsbegriff. Denn die Versammlungsbehörde kann das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters über die Dauer einer als Versammlung zu qualifizierenden Veranstaltung nach § 15 Abs. 1 VersammlG bei einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in angemessener Weise einschränken. Der Erlass einer die Dauer eines Protestcamps beschränkenden Verfügung stellt ein probates Mittel dar, um unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls eine praktische Konkordanz zwischen dem durch eine solche Veranstaltung ausgeübten Grundrecht der Versammlungsfreiheit und den Rechten Dritter sowie den betroffenen öffentlichen Belangen herzustellen. Dabei erlangen die letztgenannten Rechte und Belange im Rahmen der Abwägung ein umso höheres Gewicht, je länger ein Protestcamp absehbar dauern wird.“

BVerwG Urt. v. 24.5.2022 – 6 C 9.20, BeckRS 2022, 16178 Rn. 22-24

Das durchgeführte Klimacamp ist daher zurecht durch das OVG Münster als Versammlung eingeordnet worden. Unerheblich ist die zeitliche Dauer, diese lässt sich auf Ebene der Interessenabwägung in der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen.

III. Schutz der Infrastruktur des Protestcamps

Auch die infrastrukturelle Einrichtung kann dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG unterfallen. Maßgeblich für die Zuordnung von infrastrukturellen Einrichtungen ist nach Auffassung des BVerwG, ob ein funktionaler bzw. symbolischer Bezug zur Versammlung selbst besteht. Wann ein solcher Bezug vorliegt, ist hingegen umstritten:

Nach einer Ansicht ist ein derartiger Bezug zu bejahen, wenn eine inhaltliche Verknüpfung der Infrastruktureinrichtung mit der konkreten Meinungskundgabe besteht. Nach anderer Auffassung soll hingegen ausreichend sein, wenn eine solche Einrichtung für die Versammlung logistisch erforderlich ist, ein inhaltlicher Bezug sei damit erst Recht möglich, nicht aber zwingend von Nöten.

Das BVerwG schließt sich mit seiner Entscheidung, wie bereits das OVG Münster, der letztgenannten Ansicht an, dies überzeugt. Denn wenn der Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG in Bezug auf die Versammlung nicht leerlaufen soll, dann müssen auch die infrastrukturellen Einrichtungen geschützt sein, die zur Durchführung der Versammlung logistisch erforderlich sind. Anderenfalls könnte die Versammlung bereits nicht durchgeführt werden. Man stelle sich etwa vor, dass eine mehrstündige Versammlung ohne Toilettenwagen oder Imbissstände durchgeführt wird. Diese sind für die Durchführung der Versammlung letztlich nicht weniger wichtig als das Rednerpult selbst (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 16.12.1993 – 1 S 1957/93). Durch einen solchen logistischen Bezug zwischen der Einrichtung und der Durchführung der Versammlung selbst wird auch ausgeschlossen, dass Personen, die anderweitige Zwecke verfolgen und die Infrastruktur zu Versammlungszwecken nutzen, in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG einbezogen werden. Sofern ein solcher Konnex zwischen der Einrichtung und der Durchführbarkeit der Versammlung besteht, ist auch die infrastrukturelle Einrichtung selbst einschließlich ihrer Nutzung vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG erfasst.

Auch Schlafplätze und Sanitäreinrichtungen sind für die Durchführung des Protestcamps von zentraler Bedeutung. Sie sind zur Durchführung eines mehrwöchigen Protestcamps logistisch zwingend erforderlich, anderenfalls könnte dieses nicht in der Form stattfinden. Sie unterfallen daher auch unmittelbar dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG.

IV. Ausblick: Geplantes Klimacamp in Hamburg

Die Entscheidung des BVerwG stammt zwar bereits aus dem Monat Mai, nichtsdestotrotz hat jüngst die Hamburger Versammlungsbehörde mit Bescheid vom 29. Juli 2022 ein Klimacamp im Stadtpark Hamburg nur mit vielen Auflagen bestätigt. Unter anderem soll – so der Veranstalter laut einem Bericht des Spiegels – das Übernachten sowie die Versorgung mit Essen und Trinken verboten sein, darüber hinaus soll das Camp in einem anderen Stadtpark stattfinden. Derzeit läuft ein Eilverfahren vor dem VG Hamburg, dieses hat die Erwägungen des BVerwG in jedem Falle zu berücksichtigen. Zwar ist Versammlungsrecht Landesrecht, sodass die Landesversammlungsgesetze einschlägig sind, die Ausführungen des BVerwG beziehen sich jedoch explizit auf Art. 8 Abs. 1 GG, welcher ohnehin umfassend durch die zuständigen Landesbehörden zu berücksichtigen ist. Die Ausführungen des BVerwG sind damit aktueller denn je – und werden es auch für die Zukunft sein. Dass das BVerfG den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG hier reduziert und hinter dem BVerwG zurückbleibt, ist wohl kaum zu erwarten.

05.08.2022/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-08-05 06:26:052022-08-05 08:15:59Versammlungsfreiheit: Auch die Infrastruktur unterfällt dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG
Dr. Yannick Peisker

Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht – Oder: Warum Bayern sich der Impfpflicht nicht entziehen kann

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Impfpflichten beschäftigen die Öffentlichkeit spätestens seit es Impfstoffe gegen COVID-19 gibt. Hieß es zunächst noch, niemand wolle eine Impfpflicht einführen, haben mehrere Virusvarianten und immer höher steigende Infektionszahlen den Wind gedreht und die Diskussion neu befeuert. Nun hat die sog. einrichtungsbezogene Impfpflicht Einzug in das Infektionsschutzgesetz gefunden: Die Regelung des § 20a IfSG entfaltet ihre Wirkung mit Ablauf des 15.3.2022.

A. Die Aussage Markus Söders

Auf einer Videoschalte des CDU-Vorstands verkündete Markus Söder, er werden „großzügigste Übergangsregelungen“ (zitiert nach ZDF heute, letzter Abruf: 9.2.2022) schaffen. Doch bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht handelt es sich um eine Norm des Bundesrechts. Daher ist jede neu geschaffene landesrechtliche Regelung, die eine solche Impfpflicht abschafft oder ihren Regelungsgehalt beschränkt, bereits wegen Verstoßes gegen Art. 31 GG, der den Vorrang von Bundesrecht gegenüber Landesrecht normiert, verfassungswidrig.
Anknüpfungspunkt eines bayerischen Alleinganges kann daher nur der Vollzug des Bundesrechts sein, der nach Art. 83 und Art. 30 GG grundsätzlich Aufgabe der Länder ist.

B. Die derzeitige Ausgestaltung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht

Bevor sich der Verfassungsmäßigkeit einer fehlenden Umsetzung gewidmet wird, müssen zunächst die Grundzüge der einrichtungsbezogenen Impfpflicht erläutert werden. Sofern nämlich ein Umsetzungsspielraum verbleiben sollte, spricht zunächst nicht zwangsläufig etwas gegen eine zurückhaltende Umsetzung.
Die Impfpflicht ist Regelungsgegenstand des § 20a IfSG. Abs. 1 präzisiert dabei die Tätigkeitsbereiche, die von der Impfpflicht erfasst sind, u.a. Krankenhäuser (Nr. 1 lit. a) und Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter oder pflegebedürftiger Menschen (Nr. 2).

Zur Kontrolle der Einhaltung der Impfpflicht sieht § 20a Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 IfSG sowohl für die von Abs. 1 S. 1 erfassten Personen, die bereits in den genannten Einrichtungen tätig sind, als auch für diejenigen, die dort erst noch tätig werden sollen, die Pflicht vor, bis zum 16. März 2022 einen Nachweis einer COVID-19-Impfung gegenüber der Leitung der Einrichtung vorzulegen.
Rechtliche interessant ist: An eine Verletzung der Nachweispflicht hat der Gesetzgeber unterschiedliche Folgen geknüpft, je nachdem, ob die betroffene Person bereits in einer von § 20a Abs. 1 S. 1 IfSG erfassten Einrichtung tätig ist oder dort erst noch tätig werden soll. Nur in letzterem Fall tritt ipso iure ein Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbot nach § 20a Abs. 3 S. 4, 5 IfSG ein (Siehe auch Fuhlrott, GWR 2022, 22 (24). Im Hinblick auf Personen, die bereits in der jeweiligen Einrichtung tätig sind, besteht hingegen zunächst nur die Verpflichtung der Einrichtungs- oder Unternehmensleitung, das zuständige Gesundheitsamt über den fehlenden (oder u.U. gefälschten oder unrichtigen) Nachweis zu informieren, § 20a Abs. 2 S. 2 IfSG. Die Entscheidung über ein Tätigkeits- oder Betretungsverbot liegt sodann nach erneuter Anforderung des Nachweises im Ermessen des Gesundheitsamtes, § 20a Abs. 5 S. 3 IfSG.

Damit besteht ein Ermessensspielraum der Behörde, im Einzelfall ein solches Verbot anzuordnen. Wie weit dieser reicht, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Nach der Gesetzesbegründung ist von einem Verbot abzusehen, wenn das Paul-Ehrlich-Institut einen Lieferengpass bei den Impfstoffen bekannt gemacht hat (BT-Drucks. 20/188, S. 42.) – ob dies allerdings der einzige Grund ist, um insbesondere von einem Tätigkeitsverbot abzusehen, das für Personen nach § 20a Abs. 3 IfSG ja bereits aus dem Gesetz selbst folgt, ist unklar.

Festzuhalten bleibt in praktischer Hinsicht: Die Anordnung eines Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbots für bereits beschäftigte Personen wird eine Einzelfallentscheidung sein, die angesichts der bereits jetzt herrschenden Überbelastung der Gesundheitsämter die Durchsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht vor enorme praktische Herausforderungen stellen wird.
Ein solcher Entscheidungsspielraum besteht jedoch nicht bei Neueinstellungen ab dem 16. März. Dort besteht bereits ipso iure ein Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbot, der Arbeitgeber darf den Beschäftigten bereits von Gesetzes wegen nicht einsetzen. Anknüpfungspunkt einer bayerischen Weigerung kann daher nur die Kontrolle dieser Verbote sein.

C. Verstoß gegen Art. 83 GG und den Grundsatz der Bundestreue

Bei der in § 20a IfSG normierten einrichtungsbezogenen Impfpflicht handelt es sich um Bundesrecht. Die Aufgabe, dieses zu vollziehen und im Einzelfall durchzusetzen, ist ausweislich der Art. 30 und Art. 83 GG Sache der Länder.
Damit ist zutreffend: Der Bund ist grundsätzlich auf die Länder angewiesen, wenn es um die Umsetzung der Impfpflicht geht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Länder in ihrer Umsetzung frei sind.
Vielmehr geht mit der Kompetenz auch eine Verpflichtung zum Vollzug einher. So entschied des BVerfG bereits am 25.06.1974,

„daß die Länder nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet sind, zur Ausführung von Bundesgesetzen tätig zu werden.“ (BVerfGE 37, 363, 385)

Auch die Behauptung, die Gesundheitsbehörden seien nicht in der Lage, die Impfpflicht durchzusetzen und zu kontrollieren, trägt nicht. Denn Folge der Ausführungspflicht der Länder ist ebenfalls die Pflicht, ihre Verwaltung nach Art, Umfang und Leistungsvermögen einer sachgerechten Erledigung des sich aus der Bundesgesetzgebung ergebenden Aufgabenbestands einzurichten (BVerfGE 55, 274, 318). Ein etwaiger Einwand, die Umsetzung sei in der Form nicht möglich, vermag nicht zu überzeugen, erfolgte der Beschluss der einrichtungsbezogenen Impfpflicht noch im Jahr 2021.Eine vollständige Nichtumsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht stellt damit bereits einen Verstoß gegen Art. 83 GG dar.

Ebenfalls würde der Freistaat Bayern gegen den Grundsatz der Bundestreue und des bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen. Aus dem Bundesstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 GG wird der Grundsatz abgeleitet, dass die Glieder des Bundes sowohl einander als auch dem größeren Ganzen und der Bund den Gliedern die Treue halten und sich verständigen müssen (BVerfG 1, 299, 315). Bund und Länder sind insbesondere zu gegenseitiger Rücksichtnahme und Unterstützung in wechselseitiger Loyalität verpflichtet.

D. Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG

Art. 20 Abs. 3 GG statuiert die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz. Art. 20 Abs. 3 GG in Gestalt des Rechtsstaatsprinzips formuliert daher den Grundsatz „Vorrang des Gesetzes“. Jedes staatliche Handeln der Exekutive darf daher rechtlichen Regelungen nicht zuwiderlaufen. Zu beachten ist, dass zumindest bei bereits beschäftigten Personen ein Ermessensspielraum der zuständigen Behörde verbleibt. Solange dieser noch in einem zulässigen Maße ausgeübt wird, muss ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG verneint werden. Sofern es jedoch nicht bei einer Einzelfallentscheidung bleibt, sondern Verwaltungsvorschriften das Gebot formulieren, grundsätzlich keine Tätigkeits- und Beschäftigungsverbote auszusprechen, greift der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes ein.
Da die Aussage Söders ein solches Verhalten vermuten lässt, verstößt dies gegen das Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Vorrangs des Gesetzes gem. Art. 20 Abs. 3 GG.

E. Reaktionsmöglichkeiten des Bundes

Dem Bund steht zunächst einmal die Möglichkeit offen, vor dem BVerfG ein Bund-Länder-Streitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG einzuleiten. Erlässt die Landesregierung Bayerns ein Landesgesetz, welches die einrichtungsbezogene Impfpflicht konterkariert, kann zudem eine abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auf Antrag der Bundesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages erstrebt werden.
In der Examensprüfung ist zudem an die Möglichkeit des Bundeszwangs gem. Art. 37 GG zu denken – selbst wenn dieses Instrument in der Geschichte des Grundgesetzes noch nicht zum Einsatz kam. Der Bundeszwang setzt ausweislich des Wortlautes von Art. 37 Abs. 1 GG voraus, dass das Bundesland zurechenbar Bundespflichten – hier die Vollzugspflicht – verletzt. Problematisch kann im Einzelfall jedoch werden, dass die Bundesregierung Maßnahmen des Bundeszwangs nur mit Zustimmung des Bundesrates treffen kann, wobei das betroffene Bundesland im Bundesrat selbst mitwirken kann (BeckOK GG/Hellermann, 49. Ed., Art. 37 GG Rn. 8.4). Zur Durchführung des Bundeszwangs besitzt die Bundesregierung nach Art. 37 Abs. 2 GG ein umfassendes Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und Behörden.
Neben dem Bundeszwang kann der Bund zudem auf verwaltungstechnische Maßnahmen zurückgreifen. Die Bundesregierung übt nach Art. 84 Abs. 3 die Bundesaufsicht über die Länder bei dem Vollzug von Bundesrecht aus. Hierzu steht der Bundesregierung nach Art. 84 Abs. 3 S. 2 die Möglichkeit offen, einen Beauftragten zu den obersten Landesbehörden zu entsenden. Stellt die Bundesregierung bei der Ausführung des Bundesrechts durch die Länder rechtliche Mängel fest, kann der Bundesrat gemäß Abs. 4 wiederum auf Antrag der Bundesregierung beschließen, dass das jeweilige Bundesland Bundesrecht verletzt hat (sog. Mängelrüge).

F. Summa: Das Land Bayern wird die Impfpflicht umsetzen müssen

Die vorangegangenen Erwägungen zeigen, die Nichtumsetzung der Impfpflicht begegnet mehreren verfassungsrechtlichen Hürden. Verfassungsrechtlich nicht von vornherein ausgeschlossen ist lediglich die zurückhaltende Anordnung von Beschäftigungs- und Tätigkeitsverboten durch die Gesundheitsbehörden im Einzelfall. Aber auch hier muss der Vorrang des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG beachtet werden. Der Gesetzgeber geht eben grundsätzlich von der Anordnung eines solchen Verbots aus. Daher dürften allgemeine Anordnungen und Verwaltungsvorschriften, die der zuständigen Behörde aufgeben, nur zurückhaltend hiervon Gebrauch zu machen, ebenfalls verfassungswidrig sein.

09.02.2022/0 Kommentare/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-02-09 12:00:002022-07-21 08:58:14Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht – Oder: Warum Bayern sich der Impfpflicht nicht entziehen kann
Alexandra Ritter

Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 3: Der Lieferantenregress

Aktuelles, Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Kaufrecht, Lerntipps, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Zivilrecht

Jurastudenten und auch Praktiker werden die Nachricht mit gemischten Gefühlen entgegengenommen haben – mit dem Beginn des Jahres 2022 stehen größere Änderung im allseits prüfungs- und praxisrelevanten Kaufrecht an. Juraexamen.info gibt einen Überblick über die wichtigsten Änderungen, die aufgrund der Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 im Kaufrecht der §§ 433 ff. BGB erfolgen. Hierzu veröffentlichen wir eine Reihe von Beiträgen – in diesem dritten Teil der Reihe steht der Regressanspruch des Verkäufers gegen seinen Lieferanten im Fokus.
 
I.       Vorbemerkungen
Auch im Lieferantenregress des BGB hat die Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/711 Änderungen bewirkt: Die Meisten sind redaktioneller Natur, um bspw. die Änderungen von § 439 BGB aufzunehmen. Dennoch werfen sie klärungsbedürftige Rechtsfragen auf. Der Prüfungsaufbau jedoch bleibt unverändert.
Die Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/711 enthält in ihrem Art. 18 die Vorgaben für die Umsetzung des Regresses des Verkäufers auf den Lieferanten. Dort steht:

„Haftet der Verkäufer dem Verbraucher aufgrund einer Vertragswidrigkeit infolge eines Handelns oder Unterlassens einer Person in vorhergehenden Gliedern der Vertragskette, einschließlich des Unterlassens, Aktualisierungen für Waren mit digitalen Elementen gemäß Artikel 7 Absatz 3 zur Verfügung zu stellen, ist der Verkäufer berechtigt, bei den oder dem innerhalb der Vertragskette Haftenden Rückgriff zu nehmen. Bei welcher Person der Verkäufer Rückgriff nehmen kann, sowie die diesbezüglichen Maßnahmen und Bedingungen für die Geltendmachung der Rückgriffsansprüche bestimmt das nationale Recht.“

Die unionsrechtlichen Vorgaben haben erkennbar einen geringen Umfang und gem. Art. 18 S. 2 RL (EU) 2019/711 werden einige Regelungsaspekte den Mitgliedstaaten überlassen.
Der Lieferantenregress im Kaufrecht wird weiterhin in den §§ 445a, 445b und 478 BGB geregelt.
 
II.    § 445a Abs. 1 BGB
In § 445a BGB beschränken sich die Änderungen auf den ersten Absatz; Die Absätze 2 und 3  bleiben unverändert.
 
1.      Erweiterung der Bezugnahme auf § 439 BGB
Zunächst wird die Bezugnahme von § 445a Abs. 1 BGB auf § 439 BGB erweitert, sodass auch die Rücknahmekosten des Verkäufers gem. § 439 Abs. 6 S. 2 BGB (zu dieser Änderung s. den zweiten Beitrag dieser Reihe) in den Anwendungsbereich des Regressanspruchs fallen.
 
2.      Regressmöglichkeit für Aufwendungen des Verkäufers wegen § 475b Abs. 4 BGB
§ 445a aE BGB gibt dem Verkäufer nunmehr die Möglichkeit Regress beim Lieferanten zu nehmen für Aufwendungen, die ihm im Verhältnis zum Käufer wegen eines Mangels, der auf der Verletzung einer objektiven Aktualisierungspflicht gem. § 475b Abs. 4 BGB beruht, entstehen.
Diese Ergänzung am Ende von § 445a Abs. 1 BGB kann problematisch gesehen werden: Der Regressanspruch des Verkäufers gegen den Lieferanten beruht auf dem Gedanken, dass der Grund für die Inanspruchnahme des Verkäufers durch den Käufer ein Mangel ist, der aus der Sphäre des Lieferanten stammt (Looschelders, Schuldrecht BT, 15. Aufl. 2020, § 9 Rn. 1). Dies geht auch daraus hervor, dass gem. § 445a Abs. 1 BGB der Mangel bereits beim Übergang der Gefahr vom Lieferanten auf den Letztverkäufer vorgelegen haben muss. Der Lieferant haftet also über den Regressanspruch, weil er eine Pflicht, die er bereits gegenüber dem Verkäufer hatte, verletzt hat.
Eine Aktualisierungspflicht gem. § 475b Abs. 4 BGB hat der Lieferant gegenüber dem Verkäufer jedoch nicht (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067). In den Gesetzesmaterialien heißt es hierzu:

„Da in der Regel nicht der Verkäufer, sondern der Hersteller technisch und rechtlich in der Lage ist, die erforderlichen Aktualisierungen anzubieten, ist eine Aktualisierungsverpflichtung nur dann tatsächlich effektiv, wenn die Pflicht, Aktualisierungen bereitzustellen, durch die Lieferkette bis zum Hersteller weitergereicht wird.“ (BT-Drucks. 19/27424, S. 27)

Man geht also davon aus, dass der Verkäufer die Aktualisierung nicht anbieten kann. Dann allerdings stellt sich ein Folgeproblem: § 445a Abs. 1 BGB i.V.m. § 475b Abs. 4 BGB verpflichtet den Lieferanten nicht unmittelbar zur Vornahme der Aktualisierung, sondern zum Ersatz der Aufwendungen, die der Verkäufer im Rahmen der Nacherfüllung zu tragen hat. Solche Aufwendungen können einem Verkäufer, der die Aktualisierung nicht anbieten kann, jedoch gar nicht erst entstehen. Das vom umsetzenden Gesetzgeber angestrebte Ergebnis, eine Aktualisierungsverpflichtung herbeizuführen, kann mit § 445a Abs. 1 aE BGB nicht erreicht werden (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2068). Insbesondere bei einer längeren Lieferantenkette, müsste eine solche Pflicht über § 445a Abs. 3 BGB, also vermittelt über die gesamte Lieferkette bis zum Hersteller, hergestellt werden.
Der Lösungsvorschlag von Lorenz (NJW 2021, 2065, 2068) begegnet dem Problem mit einer teleologische Reduktion des § 445a Abs. 1 aE BGB, Der Regress des Verkäufers gegen den Lieferanten ist dann zu untersagen, „wenn das unterlassene Zurverfügungstellen von Aktualisierungen beim Verbraucher allein aus der Sphäre des Verkäufers selbst herrührt und nicht auf den Lieferanten oder einen Dritten zurückzuführen ist.“ (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2068). Diese Lösung steht in Einklang mit dem Wortlaut von Art. 18 S. 1 RL (EU) 2019/771. Denn nach Art. 18 S. 1 RL (EU) 2019/771 soll ein Regressanspruch bestehen, wenn ein voriges Glied der Vertragskette es unterlassen hat, „Aktualisierungen für Waren mit digitalen Elementen gemäß Artikel 7 Absatz 3 zur Verfügung zu stellen“, das heißt, es darf nicht allein der Verkäufer selbst für die unterlassene Aktualisierung verantwortlich sein.
 
III. § 445b BGB
§ 445b BGB regelt weiterhin Besonderheiten der Verjährung von Ansprüchen des Verkäufers gegen den Lieferanten nach § 445a BGB. § 445b Abs. 1 BGB wurde nicht geändert. In § 445b Abs. 2 BGB dagegen wurde Satz 2 aF gestrichen. Das bedeutet die Ablaufhemmung für die Ansprüche des Verkäufers gegen den Lieferanten aus gem. § 445a Abs. 1 BGB und gem. § 437 BGB ist nicht mehr auf fünf Jahre begrenzt.
Diese Änderung ist durch die Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 nicht vorgegeben. Hintergrund ist die soeben erläuterte Vorstellung des Gesetzgebers, dass über § 445a Abs. 1 aE BGB eine Verpflichtung des (Hersteller-)Lieferanten zur Aktualisierung bestehe und solche Aktualisierung über eine Dauer von mehr als fünf Jahren notwendig sein können (vgl. BT-Drucks. 19/27424, S. 28).
 
IV. § 478 BGB
Zuletzt sind die Änderungen von § 478 BGB zu betrachten. § 478 BGB modifiziert die Regelungen der §§ 445a und 445b BGB für den Fall, dass der letzte Verkauf in der Kette ein Verbrauchsgüterkauf i.S.v. § 474 Abs. 1 S. 1 BGB ist. Während § 478 Abs. 1 und Abs. 3 BGB unverändert sind, wurde in Absatz 2 ein Verweis auf die §§ 475b und 475c BGB eingefügt.
478 Abs. 2 BGB regelt die Haftungsbeschränkung des Lieferanten, bzw. deren Unwirksamkeit. Der Lieferant kann sich nicht auf eine Vereinbarung berufen, die vor Mitteilung des Mangels getroffen wurde und zum Nachteil des Unternehmers (Verkäufers) von §§ 478 Abs. 1, 433 bis 435, 437, 439 bis 443, 445a Absatz 1 und 2 sowie den §§ 445b, 475b und 475c BGB abweicht, wenn dem Rückgriffsgläubiger kein gleichwertiger Ausgleich eingeräumt wird. Neu ist die Aufnahme der §§ 475b und 475c BGB. Jedoch kommen diese Normen bei dem Regress des Unternehmers gegen den Lieferanten nicht zur Anwendung (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2068). Fraglich ist insoweit, wie zum Nachteil des Unternehmerverkäufers von den §§ 475b und 475c BGB abgewichen werden soll, wenn dem Unternehmerverkäufer die entsprechenden Rechte gar nicht zustehen. In den Gesetzesmaterialien beschränkt man sich auf den Hinweis, dass es sich um „Folgeänderungen“ handele, mit denen „der Einfügung der §§ 475b und 475c BGB-E Rechnung getragen“ werde (BT-Drucks. 2019/27424, S. 44). Die Ergänzung um §§ 475b und 475c BGB ist auch nicht für einen effektiven Verbraucherschutz notwendig, da seine Rechte aus §§ 475b und 475c BGB schon durch § 476 Abs. 1 S. 2 BGB geschützt sind.
 
V.    Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass es wie auch bezüglich der Nacherfüllung gem. § 439 BGB keine grundlegenden Änderungen im Lieferantenregress durch die Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (RL) 2019/771 gibt.
Problematisch ist aber die Ergänzung von § 445a Abs. 1 aE BGB um den pauschalen Verweis auf § 475b Abs. 4 BGB. Hier gilt es zu beobachten, wie Rechtsprechung und weitere Stimmen der Literatur dazu Stellung beziehen werden und welche Auswirkungen der Verweis in der Praxis haben wird.
Zudem ist der Verweis in § 478 Abs. 2 BGB auf die §§ 475b und 475c BGB kritisch zu hinterfragen. Für Studierende in der Klausursituation gilt es hier – wie immer in Konstellationen mit mehreren Beteiligten –, die einzelnen Vertrags- und Leistungsbeziehungen klar zu ordnen. Auch wenn es banal erscheinen mag, sollte eine Fallskizze mit den einzelnen Beziehungen der Beteiligten angefertigt und bei der Anfertigung der Lösung im Auge behalten werden.

18.01.2022/1 Kommentar/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2022-01-18 09:00:522022-01-18 09:00:52Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 3: Der Lieferantenregress
Tobias Vogt

Erstes BGH-Urteil zur Gewerberaummiete während Coronalockdown

BGB AT, Examensvorbereitung, Mietrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

Muss ein gewerblicher Mieter die Ladenmiete weiterzahlen während er sein Ladengeschäft aufgrund einer staatlichen Maßnahme zur Bekämpfung der Coronapandemie nicht für den Kundenverkehr öffnen darf? Diese Frage stellten sich nicht nur die betroffenen Mieter und Vermieter sondern auch Öffentlichkeit und Juristen seit dem Beginn der Coronakrise im Frühjahr 2020. Mit Spannung erwartet wurde daher die brandaktuelle Entscheidung des BGH – zumal sich die Oberlandesgerichte in dieser Rechtsfrage nicht einig waren. Die Examensrelevanz dürfte damit auf der Hand liegen.
Sachverhalt und bisheriger Verfahrensgang:
Dem Urteil liegt ein Rechtstreit zwischen Kik (Einzelhandel für Textilien aller Art sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs) und dessen Vermieterin zugrunde. Aufgrund einer Allgemeinverfügung anlässlich der Coronapandemie musste das Ladengeschäft im Zeitraum vom 19. März bis zum 19. April 2020 geschlossen bleiben. Die Vermieterin verlangte auch für diesen Zeitraum die Zahlung der vollen Miete, wozu Kik nicht bereit war.
Das erstinstanzlich zuständige Landgericht verurteilte Kik zur Zahlung der Miete in voller Höhe (LG Chemnitz Urteil vom 26.8.2020 – 4 O 639/20).
Mit der Berufung hatte Kik jedoch teilweise Erfolg: Das OLG Dresden (OLG Dresden Urteil vom 24.2.2021 – 5 U 1782/20) sah nur die Hälfte der Miete als geschuldet an. Das OLG Dresden stütze sich hierbei auf eine Vertragsanpassung wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB. In der Regel sei bei einer coronabedingten Schließung eine Reduzierung der Kaltmiete um 50 % gerechtfertigt, weil keine der Vertragsparteien eine Ursache für die Störung der Geschäftsgrundlage gesetzt oder sie vorhergesehen hat. Es sei demzufolge angemessen, die damit verbundene Belastung gleichmäßig auf beide Parteien zu verteilen.
Divergierende OLG-Rechtsprechung:
Andere Ansicht als das OLG Dresden und das mit diesem auf einer Linie liegende Kammergericht Berlin (KG Urteil vom 1.4.2021 – 8 U 1099/20) ist das OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe Urteil vom 24.2.2021 – 7 U 109/20, Revision anhängig beim BGH unter dem Az. XII ZR 15/21): Die Karlsruher Oberlandesrichter kamen zum Ergebnis, dass die volle Miete zu zahlen sei. Eine Anpassung des Vertrags gemäß § 313 Abs. 1 BGB lehnten sie ab. Dem Mieter sei das unveränderte Festhalten am Gewerberaummietvertrag in der Regel erst dann unzumutbar, wenn dessen Inanspruchnahme zur Vernichtung seiner Existenz führen würde; unter Umständen genüge auch bereits eine schwere Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Fortkommens. Hierbei zu berücksichtigen sei auch, ob der Mieter öffentliche oder sonstige Zuschüsse erhalten hat, mit denen er die Umsatzausfälle infolge staatlicher Beschränkung jedenfalls teilweise kompensieren kann, und ob er Aufwendungen erspart hat (zB wegen Kurzarbeitergeld oder weggefallenen Wareneinkaufs).
Urteil des BAG vom 12.01.2022, Az. XII ZR 8/21:
Auf die Revisionen der Vermieterin, die nach wie vor die volle Miete verlangt, und der Beklagten Kik, die ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt, hat der Bundesgerichtshof das Urteil des OLG Dresden aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
Zunächst stellt der für gewerbliches Mietrecht zuständige XII. Zivilsenat klar, dass die Anwendbarkeit der mietrechtlichen Gewährleistungsvorschriften und der Regelungen des allgemeinen schuldrechtlichen Leistungsstörungsrechts, insbesondere des § 313 BGB zum Wegfall der Geschäftsgrundlage, nicht durch die für die Zeit vom 1. April 2020 bis zum 30. September 2022 geltende Vorschrift des Art. 240 § 2 EGBGB ausgeschlossen ist. Diese Regelung habe nach seinem eindeutigen Wortlaut und seinem Gesetzeszweck allein eine Beschränkung des Kündigungsrechts des Vermieters zum Ziel und sage nichts zur Höhe der geschuldeten Miete aus.
Bevor der BGH auf eine mögliche Anpassung nach § 313 BGB zu sprechen kommt, äußert er sich zum Vorliegen eines Mangels nach § 536 Abs. 1 S. 1 BGB, der zum Wegfall oder zur Minderung der Miete qua Gesetz führen würde:
Ein Mangel liege nicht vor, so der BGH. Ergeben sich aufgrund von gesetzgeberischen Maßnahmen während eines laufenden Mietverhältnisses Beeinträchtigungen des vertragsmäßigen Gebrauchs eines gewerblichen Mietobjekts, kann dies zwar einen Mangel i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB begründen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die durch die gesetzgeberische Maßnahme bewirkte Gebrauchsbeschränkung unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage des Mietobjekts in Zusammenhang steht (so bereits BGH Urteil vom 13.7.2011 – XII ZR 189/09). Die mit der Schließungsanordnung verbundene Gebrauchsbeschränkung der Beklagten erfülle diese Voraussetzung nicht. Denn die behördlich angeordnete Geschäftsschließung knüpfe allein an die Nutzungsart und den sich daraus ergebenden Publikumsverkehr an, der die Gefahr einer verstärkten Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus begünstigt und der aus Gründen des Infektionsschutzes untersagt werden sollte.
Der BGH weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass durch die Allgemeinverfügung weder der Vermieterin die Nutzung der angemieteten Geschäftsräume im Übrigen noch der Mieterin tatsächlich oder rechtlich die Überlassung der Mieträumlichkeiten verboten wird. Das Mietobjekt stand daher trotz der Schließungsanordnung weiterhin für den vereinbarten Mietzweck zur Verfügung.
Das Vorliegen eines Mangels i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich nach der Entscheidung des BGH auch nicht aus dem im vorliegenden Fall vereinbarten Mietzweck der Räumlichkeiten zur „Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts für Textilien aller Art, sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs“. Der Mieter könne nicht davon ausgehen, dass die Vermieterin mit der Vereinbarung des konkreten Mietzwecks eine unbedingte Einstandspflicht auch für den Fall einer hoheitlich angeordneten Öffnungsuntersagung im Falle einer Pandemie übernehmen wollte.
Da demnach grundsätzlich nach dem Mietvertrag die volle Miete geschuldet ist, bliebe nur noch die Möglichkeit der Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB. Dies komme in Fällen der coronabedingten Geschäftsschließung grundsätzlich in Betracht, betont der XII. Zivilsenat.
Auch bejaht der BGH das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzung des § 313 Abs. 1 BGB – der schwerwiegenden Störung der Geschäftsgrundlage des Mietvertrags durch die behördliche Schließung des Ladengeschäfts aufgrund der Coronapandemie. Hierfür spreche auch die als Reaktion auf die Coronapandemie vom Gesetzgeber neu eingefügte Regelung des Art. 240 § 7 EGBGB, wonach vermutete wird, dass sich ein Umstand im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat, wenn vermietete Grundstücke oder vermietete Räume, die keine Wohnräume sind, infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar sind.
Eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB erfolgt jedoch nur, wenn auch die weitere – normative – Voraussetzung der Vorschrift erfüllt ist. Dies setzt voraus, dass dem betroffenen Vertragspartner unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
Hierbei konnte der BGH nicht auf die Vermutungsregel des Art. 240 § 7 EGBGB zurückgreifen. Denn diese führt aber nicht etwa dazu, dass stets von dem Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen des § 313 BGB auszugehen wäre: Die Regelung schafft eine tatsächliche Vermutung, dass sich ein Umstand iSd § 313 Abs. 1 BGB, der Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsabschluss schwerwiegend verändert hat. Die Vermutung ist widerleglich und gilt nur für dieses reale Merkmal des § 313 Abs. 1 BGB. Das normative Merkmal des § 313 Abs. 1 BGB, dass dem einen Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen und gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann, wird von der Vermutungsregelung nicht erfasst (OLG Karlsruhe Urteil vom 24.2.2021 – 7 U 109/20; so auch Brinkmann/Thüsing, NZM 2021, 5).
Der BGH stellt ausdrücklich klar, dass – wie in § 313 Abs. 1 vorgesehen – auch in Fällen der coronabedingten Ladenschließung stets eine umfassende Einzelfallabwägung erforderlich ist. Einer pauschalen Halbierung der Miete, wie sie das OLG Dresden vorgenommen hatte, schiebt der BGH damit einen Riegel vor.
Zwar ist auch nach der Ansicht des BGH regelmäßig eine Anpassung vorzunehmen, da sich durch die Covid-19-Pandemie letztlich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht hat und die Betriebsschließung gerade nicht auf einer unternehmerischen Entscheidung oder enttäuschten Gewinnerwartung des Mieters beruhe. Daher könne das hiermit verbundene Risiko regelmäßig keiner Vertragspartei allein zugewiesen werden. Die Entscheidung darüber, ob und in welcher Höhe eine Reduzierung der Miete erfolge, bedarf jedoch stets einer Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls.
Der BGH nennt in seiner Pressemitteilung sogleich die maßgeblichen Faktoren für die Einzelfallabwägung:
Zunächst ist zu untersuchen, welche konkreten Nachteile dem Mieter durch die Geschäftsschließung und deren Dauer entstanden sind. Hierbei ist auf den konkreten Umsatzrückgang in dem konkreten Mietobjekt abzustellen – ein möglicher Konzernumsatz ist nicht von Belang.
Zu berücksichtigen sei auch, welche Maßnahmen der Mieter ergriffen hat oder ergreifen konnte, um die drohenden Verluste während der Geschäftsschließung zu vermindern. In der Pressemitteilung sind noch keine konkreten Maßnahmen benannt. Man könnte hier etwa an Kurzarbeit oder verstärkten Onlinehandel denken.
Da eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage aber nicht zu einer Überkompensierung der entstandenen Verluste führen darf, sind bei der Prüfung der Unzumutbarkeit grundsätzlich auch die finanziellen Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erlangt hat. Dabei können auch Leistungen einer ggf. einstandspflichtigen Betriebsversicherung des Mieters zu berücksichtigen sein. Staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die nur auf Basis eines Darlehens gewährt wurden, bleiben hingegen bei der gebotenen Abwägung außer Betracht, weil der Mieter durch sie keine endgültige Kompensation der erlittenen Umsatzeinbußen erreicht.
Zudem seien auch die Interessen des Vermieters in den Blick zu nehmen.
Nicht erforderlich sei eine tatsächliche Gefährdung der Existenz des Mieters. Somit erteilt der BGH bereits in diesem Verfahren auch der Rechtsprechung des OLG Karlsruhe eine Absage, über die er noch gesondert zu entscheiden hat.
Fazit:
Die Grundsätze dieser Entscheidung sollte aufgrund der enormen medialen Aufmerksamkeit sowie der Bezugspunkte zu den beliebten Prüfungsfeldern des Mietrechts sowie des allgemeinen Teils des BGB jeder Examenskandidat beherrschen.
Im Gutachten sollten der Reihe nach sämtliche Probleme geprüft werden. Stürzen sich Examenskandidaten bei der Falllösung sofort auf das Hauptproblem des § 313 BGB, so begehen sie einen großen Fehler. Ansonsten werden kostbare Punkte für die übrigen Probleme des Falls liegengelassen.
Was man aus dem Urteil auf jeden Fall mitnehmen sollte:

  • Sofern keine ausdrückliche vertragliche Regelung zur Einstandspflicht des Vermieters für den Fall einer coronabedingten Ladenschließung besteht, liegt kein Mangel gemäß § 536 Abs. 1 BGB vor.

 

  • Für eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB bedarf es neben dem tatsächlichen Element der erheblichen Störung der Geschäftsgrundlage zudem eines Vorliegens des normativen Elements der Unzumutbarkeit des Festhaltens am unveränderten Vertrag.

 

  • Das tatsächliche Element dürfte unproblematisch Vorliegen, diesbezüglich greift auch die Vermutung des Art. 240 § 7 EGBGB.

 

  • In der Regel ist das allgemeine Lebensrisiko der coronabedingten Ladenschließung von keiner Vertragspartei voll zu tragen. Einer Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz des Mieters bedarf es für eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB nicht.

 

  • Für die Feststellung der Unzumutbarkeit und die Bemessung der Höhe der etwaigen Reduzierung der Miete bedarf es stets einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Eine pauschale Halbierung der Miete kommt nicht in Betracht.

 

  • Maßgeblich sind insbesondere der konkrete Umsatzrückgang des gewerblichen Mieters bezogen auf das konkrete Mietobjekt, die getroffenen oder möglichen Maßnahmen des Mieters zur Verringerung des Verlustes, das Eingreifen von staatlichen Leistungen oder einer Betriebsversicherung des Mieters (nicht jedoch eines Darlehens) sowie die Interessen des Vermieters.

12.01.2022/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2022-01-12 11:41:392022-01-12 11:41:39Erstes BGH-Urteil zur Gewerberaummiete während Coronalockdown
Gastautor

Schriftformerfordernisse in Klausur und Praxis

BGB AT, Examensvorbereitung, Lerntipps, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Zivilrecht

Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Tashina Kopf veröffentlichen zu können. Die Autorin hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Jura studiert und ist derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Flick Gocke Schaumburg.
Die Schriftform ist im juristischen Studium ab dem ersten Semester Vorlesungsstoff und prüfungsrelevant. Auch in längeren Klausuren des fortgeschrittenen Studiums können Schriftformprobleme gut eingebaut werden. Der folgende Beitrag soll daher einen abstrakten Überblick über die Regelungen der §§ 126, 126a BGB geben. Insbesondere die elektronische Form nach § 126a BGB soll näher erläutert werden.
I. Allgemeines
Die Schriftform ist in § 126 BGB geregelt. Nach Absatz 1 muss danach „die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet werden“. Die Schriftform kann auf zwei Weisen ersetzt werden: nach Absatz 3 durch die elektronische Form (siehe unten), nach Absatz 4 durch die notarielle Beurkundung.
II. Anforderungen
Die Anforderungen gelten einheitlich für alle gesetzlichen Schriftformerfordernisse. Dabei ist es unerheblich, wie die einzelne Norm formuliert ist, z.B. „schriftliche Erklärung“ oder „schriftliche Mitteilung“.
1. Urkunde
Die rechtsgeschäftliche Erklärung muss in einer Urkunde niedergeschrieben werden. Eine Urkunde ist jede durch Schriftzeichen dauerhaft verkörperte Willenserklärung, die einen Aussteller erkennen lässt und geeignet sowie bestimmt ist, im Rechtsverkehr Beweise zu erbringen. Die Art und Weise der Niederlegung der Schriftzeichen auf dem Urkundenmaterial spielt für das Schriftformerfordernis keine Rolle – sie können handschriftlich, aber auch durch einen Computerausdruck oder sonstige Weise aufgebracht werden. Das Rechtsgeschäft muss in einer Urkunde niedergelegt werden; bei mehreren Blättern muss die Verbindung deutlich gemacht werden (z.B. durch zusammenheften, aber auch Nummerierung der Seiten, einheitliche optische Gestaltung).
2. Inhalt
Die Urkunde muss das gesamte formbedürftige Rechtsgeschäft mit allen Einzelheiten darlegen. Nicht nötig ist hingegen die Angabe von Ort und Datum der Erstellung der Urkunde. Der notwendige Inhalt bestimmt sich nach dem jeweiligen Zweck des Schriftformerfordernisses im Einzelfall.
3. Unterzeichnung
Der Aussteller muss auf der Urkunde unterschreiben. Dies muss in der Regel am Ende der Urkunde geschehen, um einen räumlichen Abschluss darzustellen. Unter eine Unterschrift ergänzte Nachträge müssen erneut unterschrieben werden. Die Unterschrift kann jedoch auch bereits vor der schriftlichen Niederlegung des Inhalts erfolgen. Dabei kann sowohl ein teilweise fertiger Text unterschrieben werden, der später noch vervollständigt werden muss, sowie eine Blankounterschrift abgegeben werden. Bei einer solchen ist zu beachten, dass sich aus dem Zweck des Schriftformerfordernisses ergeben kann, dass auch die Ausfüllungsermächtigung der Schriftform genügen muss (z.B. Bürgschaft oder Kreditvertrag).
Der Aussteller hat mit seinem Namen zu unterzeichnen, um sich kenntlich zu machen. Dabei ist erforderlich, dass die Person zweifelsfrei feststellbar ist. Es ist deshalb auch ausreichend, mit nur einem Teil des Namens (insbesondere dem Nachnamen) zu unterschreiben oder einem Künstlernamen, wenn dieser hinreichenden Bezug auf die Person des Unterzeichners nimmt.
III. Elektronische Unterschrift
Im heutigen vermehrt digitalen Geschäftsverkehr ist das Festhalten an der händischen Unterschrift für die Erklärenden häufig mit zusätzlichen Umständen verbunden. Dies hat auch der Gesetzgeber erkannt, der mit § 126a BGB die Möglichkeit einer elektronischen Form eingeführt hat. Davon abzugrenzen sind bloße, nicht digital signierte elektronische Textdateien. Diese genügen NICHT der elektronischen Form.
1. Arten
Es gibt verschiedene Arten elektronischer Signaturen, die je nach Anwendungsbereich genutzt werden können. Neben der einfachen elektronischen Signatur kennt die eIDAS-Verordnung der Europäischen Union zu digitalen Unterschriften die fortgeschrittene elektronische Signatur sowie die qualifizierte elektronische Signatur. Die qualifizierte elektronische Signatur enthält alle Merkmale einer fortgeschrittenen elektronischen Signatur sowie erhöhte Sicherheitsanforderungen.
Mit der qualifiziert elektronischen Signatur wird auch das Schriftformerfordernis eingehalten (§§ 126 Abs. 3, 126a Abs. 1 BGB). Eine einfache elektronische Signatur, z.B. durch Unterschrift auf einem Tablet oder Scannen einer handschriftlichen Unterschrift, ist für die Einhaltung der gesetzlichen Schriftform nie ausreichend. Durch sie wird das Sicherheitserfordernis der Schriftform nicht eingehalten, da sie ohne weiteres von einer anderen Person kopiert und weiterverwendet oder aus dem Dokument gelöscht werden kann. Sie kann also lediglich im Interesse der Vertragsparteien verwendet werden.
Die qualifiziert elektronische Signatur setzt hohe Anforderungen für ein digitales Sicherheitszertifikat, Identifizierung und Verschlüsselung. Die qualifizierte elektronische Signatur muss einem einzigen, dadurch identifizierbaren Schlüsselinhaber zugeordnet sein. Eine nachträgliche Veränderung muss erkennbar sein. Sie kann nur durch einen dazu qualifizierten Vertrauensdiensteanbieter hergestellt werden, welcher ein Signaturschlüssel-Zertifikat ausstellt. Der genaue Vorgang des elektronischen Signierens befindet sich im dauernden Wandel. Eine Möglichkeit ist beispielsweise das Einführen einer Chipkarte in ein Kartenlesegerät und die anschließende Eingabe einer PIN.
Der Adressat der Willenserklärung, der Kenntnis über den öffentlichen Schlüssel des Erklärenden erhält, kann sich durch Einsichtnahme in das Zertifikat über die Identität des Unterzeichnenden versichern. Wegen des hohen zeitlichen und technischen Aufwands wird die qualifizierte elektronische Signatur deshalb bisher in der Praxis nicht viel eingesetzt. Ferner sind die Kosten nicht zu vergessen: eine Komplettausstattung mit Kartenlesegerät, Signaturkarte und Zertifikat mit einer Gültigkeitsdauer von drei Jahren kosten circa 120 bis 160€ (Quelle: Umweltministerium, abrufbar unter https://www.bmu.de/faq/was-kostet-eine-ausstattung-zur-qualifizierten-elektronischen-signatur, letzter Abruf v. 13.12.2021). Nach Ablauf der Gültigkeit muss eine Nachfolgekarte beantragt werden.
2. Keine Ersetzungsmöglichkeit
Jedoch gibt es auch weiterhin Vorschriften, die eine Schriftform vorschreiben, welche nicht durch die elektronische Form ersetzt werden kann (s.u. „QES –“). Dies ist der Fall, um die Zwecke der Schriftform einzuhalten, z.B. Schutz vor Übereilung.
3. Verwendung
Die elektronische Form setzt ein elektronisches Dokument voraus. Darunter sind elektronische Daten zu verstehen, die auf einem Schriftträger dauerhaft gespeichert sind und ohne technische Geräte nicht lesbar sind. Eine elektronische Wiedergabemöglichkeit muss bestehen.
Auch die qualifizierte elektronische Signatur muss das zu unterzeichnende Dokument abschließen. Sie kann deshalb erst hinzugefügt werden, nachdem das Dokument fertiggestellt ist. Dadurch erübrigt sich aber die Voraussetzung, dass die Unterschrift einen räumlichen Abschluss unter der Urkunde darstellen muss. Sie kann mithin an beliebiger Stelle eingefügt werden.
Bei gegenseitigen Verträgen müssen entgegen des unmittelbaren Verständnisses von § 126a Abs. 2 BGB die Vertragsparteien dasselbe elektronische Vertragsdokument signieren. Es reicht jedoch aus, wenn mehrere identische elektronische Exemplare eines Vertrages erstellt werden, und jeder Vertragspartner die Ausführung für den anderen Teil signiert.
Es ist nicht notwendig, dass beide Vertragsparteien die elektronische Form verwenden. Es ist möglich, dass eine Partei das Vertragsdokument elektronisch signiert, und der andere Teil ein identisches physisches Exemplar in der Schriftform nach § 126 Abs. 1 BGB unterschreibt.
4. Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr
Für die Verwendung der elektronischen Form ist kein Einverständnis des anderen Teils erforderlich. Dem Empfänger einer Willenserklärung kann die Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr jedoch nicht aufgezwungen werden. Er ist grundsätzlich auch nicht verpflichtet, Vorrichtungen bereitzustellen, die für den Empfang von elektronischen Willenserklärungen notwendig sind. Hat der Empfänger keinerlei Vorrichtungen dafür, kann ihm die Willenserklärung auch nicht nach § 130 Abs. 1 S. 1 BGB zugehen. Die fehlenden Vorkehrungen gehen also grundsätzlich zulasten des Erklärenden.
In der Praxis wird die elektronische Form deshalb regelmäßig nur verwendet, wenn die Beteiligten sich ausdrücklich oder durch ihren bisherigen Geschäftsverkehr konkludent darauf geeinigt haben.
IV. Examensrelevante Schriftformerfordernisse

  • 409 Abs. 1 S. 2 BGB – Abtretungsanzeige
  • 492 Abs. 1 – Verbraucherdarlehensvertrag (QES -)
  • 568 Abs. 1 BGB – Kündigung eines Mietvertrages
  • 623 BGB – Kündigung eines Arbeitsvertrages (QES -)
  • 766 S. 1 BGB – Bürgschaftsvertrag (QES -)
  • § 14 Abs. 4, 15 TzBfG – Befristung eines Arbeitsvertrages; umstritten, ob eine elektronische Unterschrift zulässig ist
11.01.2022/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2022-01-11 08:43:042022-06-07 06:27:22Schriftformerfordernisse in Klausur und Praxis
Dr. Yannick Peisker

Schwarzfahren und das Erschleichen von Leistungen – Ein Grundlagenbeitrag

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A. Allgemeine Einführung
Gegenstand des heutigen Grundlagenbeitrags ist der Straftatbestand „Erschleichen von Leistungen“ gemäß § 265a StGB. Die Studierenden zwar im zweiten Semester bereits begegnete, wahrscheinlich aber in Vergessenheit geratene Norm, soll – auch angesichts aktueller Diskussionen – klausurtypisch aufbereitet werden.
In der Praxis erfolgt jedoch in regelmäßigen Abständen die durchaus lebhafte Diskussion, inwiefern das tatbestandlich erfasst Verhalten, insbesondere in Bezug auf das „Schwarzfahren“, einer Entkriminalisierung bedarf.
So hatte die Fraktion DIE LINKE im Jahr 2016 im Deutschen Bundestag beantragt,

„den Tatbestand der Leistungserschleichung aus § 265a StGB so abzuändern, dass die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein auch im Wiederholungsfall nicht als Straftat geahndet wird. Auch eine Ahndung als Betrug gemäß § 263 StGB ist auszuschließen.“[1]

Selbst Jan Böhmermann nahm sich zuletzt in seiner Satire-Fernsehshow „ZDF Magazin Royale“ vom 3. Dezember 2021 der Strafbarkeit des Fahrens ohne Fahrschein an.[2]
Gegenstand der Diskussionen ist dabei häufig die Frage, ob es an der Erforderlichkeit einer Strafe fehle. Die betroffenen Leistungserbringer hätten bereits ausreichende Möglichkeiten, zivilrechtlich gegen Leistungserschleicher vorzugehen, ebenso bestehe die Möglichkeit, durch technisch präventive Einrichtungen wie Zugangssperren o.ä. – so aus einigen Städten bekannt – die unbefugte Nutzung der Beförderungsmittel zu verhindern.[3]
Geschütztes Rechtsgut des § 265a StGB ist das Vermögen des Leistungserbringers.[4] Es handelt sich um ein Erfolgsdelikt, tatbestandlicher Erfolg ist das Erschleichen der vermögenswerten Leistung selbst, sowie um ein Dauerdelikt, welches mit Beginn der Leistungserbringung vollendet und mit der vollständigen Erbringung beendet ist.[5]
Die Norm fungiert als Auffangtatbestand insbesondere gegenüber § 263 StGB, denn in den heute typischen Fällen der Leistungserschleichung – so auch beim „Schwarzfahren“ – fehlt es aufgrund des reduzierten Personaleinsatzes an zu täuschenden natürlichen Personen.[6] Eine betrugsnahe Auslegung ist daher naheliegend.[7]
 
B. Prüfungsschema:
Die Prüfung des § 265a StGB gestaltet sich wie folgt:

I. Objektiver Tatbestand

1. Taugliches Tatobjekt: Entgeltliche Leistung

a) Eines Automaten

b) Eines öffentlichen Zwecken dienenden Kommunikationsnetzwerks

c) Beförderung durch ein Verkehrsmittel

d) Zutritt zu einer Veranstaltung oder Einrichtung

e) Entgeltlichkeit

2. Tathandlung: Erschleichen

II. Subjektiver Tatbestand

III. Rechtswidrigkeit und Schuld

IV. Strafantrag, § 265a StGB

 
C. Objektiver Tatbestand
Die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes erfordert die Erschleichung einer entgeltlichen Leistung, wobei diese Leistung in vier verschiedenen tatbestandlichen Varianten durch den Leistenden erbracht werden kann. Erfasst wird die Leistung eines Automaten (Var. 1), die eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationsnetzes (Var. 2), die Beförderung durch ein Verkehrsmittel (Var. 3) sowie den Zutritt zu Veranstaltungen oder Einrichtungen (Var. 4).
Statistisch am häufigsten erfolgt dabei die Beförderungserschleichung in Form des klassischen „Schwarzfahrens“. Im Jahr 2020 wurden deutschlandweit 179.267 Fälle wegen Verstoßes gegen § 265a StGB erfasst, davon waren 177.037 Fälle Beförderungserschleichungen.[8]
I. Leistung eines Automaten
Ein Automat ist grundsätzlich ein Gerät, welches nach menschlicher Bedienung selbsttätig aufgrund eines (mechanischen oder elektronischen) Steuerungssystems Funktionen erfüllt.[9]
Notwendig ist, dass der Automat die Leistung selbst(tätig) erbringt – nicht erfasst werden daher Automaten, die lediglich zur Unterstützung von menschlichem Personal genutzt werden, oder bei denen die Leistungserbringung erst später erfolgt.[10] Als aus diesem Grund nicht erfasste Beispiele zu nennen sind Fahrkartenautomaten, Pfandautomaten, Parkscheinautomaten. Die Leistung für welche das Entgelt erhoben wird (Beförderung, Anspruch auf Pfandgeld, Parkmöglichkeit) werden nicht durch den Automaten gewährt, sondern nur vermittelt.[11]
Problematisch ist, welche Automatenarten erfasst werden. Differenziert wird zwischen sog. Leistungsautomaten und sog. Warenautomaten.
Leistungsautomaten sind Automaten, bei welchen das Entgelt für die selbsttätig erbrachte Leistung gezahlt wird (Bsp.: Musikbox, Spielautomat, Münztelefon, Münzfernglas), dagegen wird bei sog. Warenautomaten das Entgelt für eine Ware bezahlt, die der Automat wiederum freigibt (Bsp.: Getränkeautomat, Zigarettenautomat, Fahrscheinautomat).[12]
Nach überwiegender Auffassung werden nur die zuvor beschriebenen Leistungsautomaten, nicht jedoch Warenautomaten vom Tatbestand erfasst.[13] Hierfür wird angeführt, dass die Entnahme der Waren regelmäßig von §§ 242, 246 StGB tatbestandlich erfasst werde, sodass es der Auffangfunktion der Norm nicht bedürfe.[14] Ebenso würden auch die anderen Varianten nur unkörperliche Leistungen erfassen.[15] Dem kann entgegengehalten werden, dass der Wortlaut der Norm durchaus offen ist und der Erfassung von Warenautomaten nicht entgegensteht. Ferner bestehe bereits mit der gesetzlichen Subsidiaritätsklausel in § 265a Abs. 1 2. Hs. StGB ein Instrument, um dem Auffangcharakter des § 265a StGB gerecht zu werden, eine Einschränkung bereits auf Tatbestandsebene sei nicht erforderlich.[16] Auch lasse sich nicht trennscharf zwischen Leistungs- und Warenautomaten abgrenzen. Ein Wechselautomat gebe zwar Geld heraus, zivilrechtlich handele es sich jedoch um einen Tauschvertrag, sodass der Leistungscharakter im Vordergrund steht.[17] So gebe auch eine Waschanlage, um den Leistungsvorgang „Waschen“ zu erbringen, Wasser und Seife als Gegenstände ab.[18]
Klausurtaktisch ist es einerlei, welcher Ansicht gefolgt wird, auf der Ebene der Konkurrenzen wird § 265a StGB bei Warenautomaten regelmäßig von konkurrierenden Delikten wie § 242 StGB und § 246 StGB verdrängt.
II. Leistung eines öffentlichen Zwecken dienendes Telekommunikationsnetzwerk
Telekommunikationsnetze sind alle Datenübertragungssysteme im Fernmeldebereich (Breitbandnetz, Kabelnetz, also insbesondere Internet und Telefon).[19]
Der Öffentlichkeit dient dieses, wenn es für die Allgemeinheit errichtet wurde.[20] Irrelevant ist, ob der konkrete Netzzugang nur gegen Entgelt nutzbar ist (Pay-TV-Abo, auch dieses wird über das Internet betrieben, welches allen offensteht).[21] Nicht erfasst werden aber interne Netze, die selbst ohne Entgeltleistung nicht der Nutzung zugänglich sind (Betriebsinterne Netze).[22]
III. Beförderung durch ein Verkehrsmittel
Der Begriff des Verkehrsmittels erfasst nicht nur den öffentlichen Nahverkehr als Massenverkehr, sondern auch Individualverkehr wie z.B. Taxen, wobei im Bereich des Individualverkehrs regelmäßig eine Betrugsstrafbarkeit gemäß § 263 StGB vorliegen wird.[23]
Beförderung meint jede Form des Transports.[24]
IV. Zutritt zu Veranstaltungen oder Einrichtungen
Veranstaltungen werden definiert als ein einmaliges oder zeitlich begrenztes Geschehen, dass sich räumlich gegenständlich von seiner Umwelt abgrenzt (Konzerte, Theater, Sportereignisse).[25] Einrichtungen dagegen sind auf eine gewisse Dauer angelegte, einem bestimmten Zweck dienende Personen- oder Sachgesamtheiten (Museen, Bibliotheken, Zoos, Parkhäuser).[26]
V. Entgeltlichkeit
Erforderlich ist weiterhin, dass die jeweilige Leistung entgeltlich ist. Auch, wenn sich dieses objektive Tatbestandsmerkmal nicht explizit im Wortlaut finden lässt, ist dieses aus dem bezweckten Schutz fremder Vermögensinteressen sowie dem subjektiven Absichtserfordernis des Täters, das Entgelt nicht zu entrichten, abzuleiten.[27]
Der Begriff des Entgelts wird in § 11 Abs. 1 Nr. 9 StGB definiert. Entgelt ist danach jede in einem Vermögenswert bestehende Gegenleistung. Erforderlich ist also, dass die Leistung, die der jeweilige Automat freigibt, entgeltlich ist, also nur gegen einen vermögenswerten Vorteil erworben werden kann.
Damit fallen bereits Geldwechselautomaten aus dem Tatbestand heraus, die das Geld lediglich wechseln, sofern sie hierfür keine Gebühr nehmen.[28] Selbiges gilt für Schließfächer, die nach Benutzung das eingeworfene Münzstück ausspucken.[29]
Nicht notwendig ist, dass das Entgelt direkt am Tatobjekt (Automaten, Telekommunikationsnetz, Verkehrsmittel, Einrichtung, Veranstaltung) entrichtet wird. Ausreichend ist, wenn dieses gegenüber einer anderen Person oder in einer anderen Einrichtung gezahlt wird.[30] Erforderlich und geradezu entscheidend ist jedoch, dass das Entgelt als Gegenleistung für die erbrachte Leistung entrichtet wird.
So stellt der Rundfunkbeitrag keine Gegenleistung für die Möglichkeit des Fernsehens oder Radio Hörens dar, sodass das „Schwarzsehen“ und „Schwarzhören“ tatbestandlich mangels entgeltlicher Leistung nicht erfasst werden.[31]
Unproblematisch bejaht werden kann dieses Merkmal dagegen bei der Beförderungserschleichung, denn nahezu jedes öffentliche Verkehrsmittel darf nur gegen (vorherige) Entrichtung des Ticketpreises genutzt werden.
Selbiges gilt für den Zutritt zu einer Einrichtung oder Veranstaltung. Interessante Konstellation ist hier jedoch der Zutritt zu einem Parkhaus. Da der Zutritt selbst hier nicht entgeltpflichtig ist, sondern erst das Verlassen des Parkhauses, kann sich der Zutritt zum Parkhaus mangels eines zu zahlenden Entgelts nicht tatbestandlich erschlichen werden.[32] Auch das spätere Umgehen der Schranke zur Ausfahrt ist tatbestandlich nicht erfasst, da das Entgelt nicht für das Hochfahren der Schranke, sondern für die Parkmöglichkeit geleistet wird.[33]
Hier gilt daher für die Klausur: Eine präzise Differenzierung und eine Betrachtung unter Berücksichtigung einer Anschauung des täglichen Lebens vermag zu einer deutlich überdurchschnittlichen Note zu führen.
VI. Tathandlung: Erschleichen
Nachdem die tauglichen Tatobjekte bereits ausführlich erläutert wurden, muss sich nun zwingend der Tathandlung Erschleichen zugewendet werden.
Ein Erschleichen setzt jedenfalls ein Handeln gegen den Willen des Berechtigten voraus. Mithin hat ein Einverständnis keine rechtfertigende, sondern bereits tatbestandsausschließende Wirkung.[34] Zudem erfordert der Wortsinn, dass nicht gewalttätig vorgegangen wird.[35]
Allgemein wird unter einem Erschleichen das Erlangen der Leistung unter Überwindung oder Umgehung einer den entgegenstehenden Willen des Leistenden sichernden Vorkehrung verstanden.[36] Aufgrund der inhaltlichen Nähe zum Betrugstatbestand muss die Überwindung oder Umgehung täuschungsähnlich erfolgen.[37]
Tatbestandlich erfasst sind damit:

– Einwerfen von Falschgeld in einen Automaten[38]

– Verwendung von nicht autorisierten Karten zur Entschlüsselung von Pay-TV[39]

– Nutzung gefälschter Handy-Chip-Karten[40]

Bei der Zutrittserschleichung finden sich regelmäßig zumindest automatisierte Kontrollen, sodass auch hier insbesondere das Übersteigen einer Absperrung oder die Benutzung eines Notausgangs oder anderen unbenutzten Eingangs tatbestandlich erfasst sind.[41]
Tatbestandlich nicht erfasst ist:

– Das bloße Ausnutzen eines Gerätedefekts[42]

– Die unberechtigte Inanspruchnahme bei ordnungsgemäßer Bedienung, wie z.B. das Bedienen eines Glücksspielautomaten in Kenntnis des Programms[43]

– Störanrufe mangels Umgehung einer Sicherheitsvorkehrung[44]

Problematisch – und zentraler Problempunkt des § 265a StGB – ist, ob von diesem Verständnis im Rahmen der Beförderungserschleichung abgewichen werden soll.
Nach einer vorwiegend in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung soll es bereits ausreichen, wenn der Täter die Leistung in Anspruch nimmt und sich dabei mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt – unerheblich ist die Überwindung oder Umgehung eines Hindernisses.[45]
Nach Auffassung des BGH sprechen die folgenden Argumente für ein solch weites Verständnis:

„Der Wortlaut der Norm setzt weder das Umgehen noch das Ausschalten vorhandener Sicherungsvorkehrungen oder regelmäßiger Kontrollen voraus. Nach seinem allgemeinen Wortsinn beinhaltet der Begriff der „Erschleichung” lediglich die Herbeiführung eines Erfolges auf unrechtmäßigem, unlauterem oder unmoralischem Wege [..]. Er enthält allenfalls ein „täuschungsähnliches” Moment dergestalt, dass die erstrebte Leistung durch unauffälliges Vorgehen erlangt wird; nicht erforderlich ist, dass der Täter etwa eine konkrete Schutzvorrichtung überwinden oder eine Kontrolle umgehen muss.
[…] Da das Tatbestandsmerkmal schon im Hinblick auf seine Funktion der Lückenausfüllung eine weitere Auslegung zulässt, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, unter dem Erschleichen einer Beförderung jedes der Ordnung widersprechende Verhalten zu verstehen, durch das sich der Täter in den Genuss der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt […].
Die Vorschrift des § 265a StGB geht, soweit sie das „Schwarzfahren” unter Strafe stellt, auf Art. 8 der Strafgesetznovelle vom 28. 6. 1935 zurück (RGBl. I, 839, 842). Sie sollte vor allem die Lücke schließen, die sich bei der Erschleichung von Massenleistungen bezüglich der Anwendung des § 263 StGB ergaben […].
Die im Jahre 1935 eingeführte Vorschrift des § 265a StGB entsprach fast wörtlich dem § 347 StGB (Erschleichen freien Zutritts) des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, in dessen Begründung es u.a. heißt: „Erschleichen ist nicht gleichbedeutend mit Einschleichen. Auch wer offen durch die Sperre geht, sich dabei aber so benimmt, als habe er das Eintrittsgeld entrichtet, erschleicht den Eintritt. Auch ein bloß passives Verhalten kann den Tatbestand des Erschleichens erfüllen; so fällt auch der Fahrgast einer Straßenbahn unter die Strafdrohung, der sich entgegen einer bestehenden Verpflichtung nicht um die Erlangung eines Fahrscheins kümmert” (Materialien zur Strafrechtsreform, 4. Bd., Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1927 mit Begr. und 2 Anlagen [Reichstagsvorlage], 1954 [Nachdruck], S. 178, 179; Die Strafrechtsnovellen v. 28. 6. 1935 und die amtl. Begründungen, Amtl. Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz Nr. 10, S. 41).
Die Vorschrift sollte also gerade diejenigen Fälle erfassen, in denen es unklar bleibt, ob der Täter durch täuschungsähnliches oder manipulatives Verhalten Kontrollen umgeht. Der gesetzgeberische Wille ist nicht etwa deswegen unbeachtlich, weil sich die bei Schaffung des Gesetzes bestehenden Verhältnisse insoweit geändert haben, als heute, auch zu Gunsten einer kostengünstigeren Tarifgestaltung, auf Fahrscheinkontrollen weitgehend verzichtet wird […].“.[46]

Der Rechtsprechung entgegengehalten wird insbesondere, dass ein solcher Wortsinn nicht zwingend sei, vielmehr setze ein Erschleichen ein Ergaunern, Heimlichkeit oder List voraus, wovon bei der bloßen Inanspruchnahme der Leistung nicht ausgegangen werden könne.[47] Ferner könne es keinen Anschein der Ordnungsmäßigkeit geben, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass jeder Fahrgast einen Fahrschein mit sich führe. Insofern fehle es bereits an einer Verkehrsanschauung, wie sich ein ordnungsgemäßer Fahrgast verhalte.[48] Im Übrigen werde die Nähe zum Betrug so überdehnt, denn § 263 StGB schütze nicht bereits vor der unberechtigten Inanspruchnahme der Leistung, sondern vor Angriffen gegen die Entscheidungsfreiheit.[49]
Weiterhin bleibt unklar, wann und in welcher Form der Anschein der Ordnungsmäßigkeit durchbrochen werden kann. So reiche nach Auffassung des OLG Hamm selbst das vorherige Senden eines Briefes mit der Ankündigung der Schwarzfahrt an den Verkehrsbetrieb nicht aus, vielmehr sei der Anschein der Ordnungsmäßigkeit gegenüber den eingesetzten Kontrolleuren selbst maßgeblich.[50] Dies erscheint mit Blick auf die Tatsache, dass der Schutz des Vermögens der Leistungserbringer – also der Verkehrsbetriebe – geschützt werden soll, nicht konsistent.
Allerdings soll auch das Anbringen eines Aufnähers oder Kärtchens mit dem Text „Ich fahre umsonst“ an der Kleidung nicht ausreichen, um den Anschein der Ordnungsmäßigkeit zu durchbrechen.[51] Hierdurch würde der Täter nicht in offener und unmissverständlicher Art und Weise zum Ausdruck bringen, den Fahrpreis nicht zu entrichten.[52] Ein solcher Hinweis könne auch als bloße Provokation oder als ein Eintreten für freies Fahren in Bus und Bahn in Form einer politischen Stellungnahme verstanden werden.[53]
Zuletzt wird in systematischer Hinsicht gegen die Auffassung der Rechtsprechung angeführt, dass in allen anderen Varianten ein Erschleichen abgelehnt wird, wenn keine Zugangsbarriere besteht.[54] Dagegen hält der BGH, dass die übrigen Leistungen im Gegensatz zur Beförderung nur auf spezielle Anforderung hin erbracht werden, die Beförderungsleistung aber auch ohne ein konkretes Anfordern bereits vorhanden ist.[55]
Damit fordern weite Teile der Literatur auch innerhalb der Beförderungserschleichung ein Überwinden oder Umgehen präventiver Kontrollen oder sonstiger Vorrichtungen tatbestandlich zu prüfen.[56]
Der zuvor dargestellte Streit kann in der Klausur beliebig entschieden werden. Allerdings sollte, sofern der Sachverhalt Anhaltspunkte dafür liefert, dass der Klausurersteller eine Subsumtion zur Problematik des „offenen und unmissverständlichen zum Ausdruck bringen“ bezwecket, sich zwar argumentativ mit beiden Positionen auseinandergesetzt werden, im Ergebnis jedoch der Rechtsprechung gefolgt werden. Dies gilt erst Recht im Zweiten Staatsexamen.
D. Subjektiver Tatbestand
In subjektiver Hinsicht muss der gesamte objektive Tatbestand zunächst vom Vorsatz umfasst sein, hierfür genügt dolus eventualis.[57] Glaubt der Täter, er habe eine Fahrkarte dabei, handelt er nicht vorsätzlich.[58]
Weiterhin muss der Täter ausweislich des Wortlautes mit der Absicht handeln, dass Entgelt nicht zu entrichten. Hierfür bedarf es eines zielgerichteten Willens des Täters.[59] Entscheidend ist in Klausuren oftmals, dass der Vorsatz gerade zum Zeitpunkt der Tathandlung vorliegen muss (sog. Koinzidenzprinzip). Wer bereits ausreichend zur Bejahung der Absicht ist es jedoch, wenn die Entgeltvermeidung nicht das alleinige Ziel des Täters ist, sondern lediglich notwendiges Zwischenziel, um das eigentliche Ziel zu erreichen.[60]
E. Weiteres
Mit Erbringen der tatbestandlichen Leistung ist die Erschleichung vollendet, hierfür genügt der Beginn der Leistungserbringung.[61] Beendet ist die Tat mit dem Ende der Leistungserbringung.[62] Nicht erforderlich ist, dass der Täter die Leistung selbst entgegennimmt oder beansprucht, auch die Leistungserschleichung für Dritte ist ohne Weiteres erfasst.[63]
Die Strafbarkeit des Versuches ist – aufgrund der Eigenschaft des Deliktes als Vergehen – ausdrücklich in § 265a Abs. 2 StGB normiert.
265a Abs. 1 StGB enthält eine Subsidiaritätsklausel, sodass das Erschleichen von Leistungen formell subsidiär gegenüber ebenfalls verwirklichten Delikten ist, sofern die Tat dort mit schwererer Strafe bedroht ist. Die Subsidiaritätsklausel ist wörtlich zwar nicht beschränkt, nach teilweise vertretener Ansicht ist die Vorschrift jedoch nur gegenüber Delikten mit derselben Angriffsrichtung subsidiär, so etwa zu Vermögens- und Eigentumsdelikten wie z.B. §§ 263, 242, 263a StGB, nicht aber zu §§ 123, 146, 147, 267 StGB, denn Sinn und Zweck ist die Schließung von Strafbarkeitslücken insbesondere in Bezug auf § 263 StGB.[64] Zu anderen Delikten mit abweichender Angriffsrichtung soll daher Tateinheit möglich sein.[65] Andere vertreten, dass die Vorschrift gegenüber sämtlichen schwereren Delikten subsidiär ist.[66]
F. Summa
Der vorangegangene Grundlagenbeitrag zeigt, Diskussionen rund um die Strafwürdigkeit des tatbestandlich erfassten Verhaltens, insbesondere rund um die Beförderungserschleichung, sind durchaus begründet. Durch die weitreichende Position der Rechtsprechung – die sich jedoch aufgrund der vorgebrachten Argumente durchaus auch in der aktuellen Diskussion sehr gut vertreten lässt – wird nahezu jede Inanspruchnahme eines Beförderungsmittels ohne Fahrschein pönalisiert.
Allerdings darf nicht vergessen werden, auch abseits der Beförderungserschleichung besitzt die Norm einen – wenn auch praktisch nur geringen – Anwendungsbereich, der in der Klausur durchaus höher ausfallen kann.
Insgesamt betrachtet hält sich die Examensrelevanz des § 265a StGB in Grenzen, entscheidet das zuvor vermittelte Wissen regelmäßig nur über das Bestehen. Wird über den Klausurschwerpunkt hinaus jedoch auch der § 265a StGB sauber geprüft, sind gute Noten garantiert.
[1] BT-Drs. 18/7374, S. 1.
[2] ZDF Magazin Royal, abrufbar unter: https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-3-dezember-2021-100.html; ab Minute 11:20, letzter Abruf v. 23.12.2021.
[3] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 11 ff.; Hefendehl, JA 2011, 401, 406; Stolle, StudZR 2006, 27, 38.
[4] BayObLG, Urt. v. 18.7.1985 – RReg. 5 St 112/85, NJW 1986, 1504.
[5] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 4.
[6] Mitsch, NZV 2019, 70.
[7] Mitsch, NZV 2019, 70.
[8] Polizeiliche Kriminalstatistik 2020 Bund; abrufbar unter https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2020/PKSTabellen/BundFalltabellen/bundfalltabellen.html?nn=145506, letzter Abruf v. 23.12.2021.
[9] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 3.
[10] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 4.
[11] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 26.
[12] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Hellmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 18.
[13] U.a. BGH, Urt. v. 22.4.1952 – 2 StR 101/52, MDR 1952, 563; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.7.1999 – 5 Ss 291/98 – 71/98 I, NJW 2000, 158.
[14] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 19.
[15] Kudlich, JuS 2001, 20, 21.
[16] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 33.
[17] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 37; Kudlich, JuS 2001, 20, 22.
[18] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 6.
[19] Lackner/Kühl/ Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 3.
[20] RG, Urt. v. 10.12.1896 – 3777/96, RGSt 29, 244 f.
[21] BeckOK StGB/Valerius, Stand 1.11.2021, § 265a StGB Rn. 13.
[22] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 7.
[23] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 59.
[24] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 6.
[25] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 9.
[26] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 7; Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 9.
[27] BeckOK StGB/Valerius, Stand 1.11.2021, § 265a StGB Rn. 10.
[28] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.7.1999 – 5 Ss 291/98 – 71/98 II, NJW 2000, 158.
[29] Hichrichs, ZJS 2013, 407, 416.
[30] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 23, 89.
[31] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 30.
[32] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 92.
[33] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 7; MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 92.
[34] Etter, CR 1988, 1021, 2022.
[35] BVerfG, Beschl. v. 9.2.1998 – 2 BvR 1907/97, NJW 1998, 1135, 1136.
[36] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 10.
[37] Lackner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 6a.
[38] BGH, Beschl. v. 23.4.1985 – 1 StR 164/85, BeckRS 1985, 05500.
[39] MüKo StGB/ Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 146.
[40] MüKo StGB/ Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 146.
[41] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn. 19.
[42] MüKo StGB/ Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 138; Fischer, NJW 1988, 1828, 1829.
[43] LG Freiburg, Beschl. v. 17.4.1990 – IV Qs 33/90, NStZ 1990, 343.
[44] Schönke/Schröder/Perron, 10. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 10.
[45] BGH, Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08, NStZ 2009, 211; OLG Hamburg, Urt. v. 18.12.1990 – 2a Ss 119/90, NStZ 1991, 587; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.10.1991 – 130/91 I, NStZ 1992, 84; OLG Stuttgart, Urt. v. 10.03.1989 – 1 Ss 635/88, NJW 1990, 924; letztlich bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 9.2.1998 – 2 BvR 1907-97, NJW 1998, 1135.
[46] BGH, Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08, NStZ 2009, 211, Rn. 12 ff.
[47] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 162.
[48] Exner, JuS 2009, 990, 992 f.; MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 165.
[49] Exner, JuS 2009, 990, 993.
[50] OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2011 – 5 RVs 1/11, NStZ 3022, 206, 207.
[51] OLG Frankfurt, Urt. v. 23.12.2016 – 1 Ss 253/16, BeckRS 2016, 112425.
[52] OLG Frankfurt, Urt. v. 23.12.2016 – 1 Ss 253/16, BeckRS 2016, 112425 Rn. 9.
[53] KG, Beschl. v. 2.3.2011 – (4) 1 Ss 32/11 (19/11), NJW 2011, 2600.
[54] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 172.
[55] BGH, Beschl. v. 8.1.2009 – 4 StR 117/08, NStZ 2009, 211, Rn. 21.
[56] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 177; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 37; Lackner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 6a; Albrecht, NStZ 1988, 222, 224.
[57] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 45.
[58] OLG Koblenz, Beschl. v. 11.10.1999 – 2 Ss 250/99, NJW 2000, 86, 87.
[59] Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Heilmann, 5. Auflage 2017, § 265a StGB Rn. 46.
[60] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 192.
[61] BayObLG, Beschl. v. 4.7.2001 – 5 St RR 169/01, BeckRS 2001, 30190872.
[62] MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 205.
[63] MüKo StGB/Hefendehl,3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 200.
[64] Schönke/Schröder/Perron, 30. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 14.
[65] Kindhäuser/Böse, Strafrecht BT II, 11. Auflage 2020, § 33 Rn 21.
[66] Lackner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 265a StGB Rn. 8; MüKo StGB/Hefendehl, 3. Auflage 2019, § 265a StGB Rn. 213.

06.01.2022/1 Kommentar/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-01-06 09:00:332022-01-06 09:00:33Schwarzfahren und das Erschleichen von Leistungen – Ein Grundlagenbeitrag
Dr. Yannick Peisker

Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 2: Der Nacherfüllungsanspruch

Aktuelles, Examensvorbereitung, Schon gelesen?, Schuldrecht, Verbraucherschutzrecht, Zivilrecht

Jurastudenten und auch Praktiker werden die Nachricht mit gemischten Gefühlen entgegengenommen haben – mit dem Beginn des Jahres 2022 stehen größere Änderung im allseits prüfungs- und praxisrelevanten Kaufrecht an. Juraexamen.info gibt einen Überblick über die wichtigsten Änderungen, die aufgrund der Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 im Kaufrecht der §§ 433 ff. BGB erfolgen. Hierzu veröffentlichen wir eine Reihe von Beiträgen – in diesem zweiten Teil der Reihe steht der Nacherfüllungsanspruch des Käufers im Fokus.
I. Anforderungen der Richtlinie (EU) 2019/771 an die Nacherfüllung
Genuin unionsrechtliche Vorgaben und Anforderungen an die Nacherfüllung in Gestalt der Nachbesserung oder Nachlieferung trifft die Richtlinie (EU) 2019/771 in Art. 14.
Art. 14 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2019/771 beschreibt die Art und Weise der Erfüllung von Nachbesserung und Nachlieferung. Dies habe unentgeltlich (lit. a); innerhalb einer angemessenen Frist ab dem Zeitpunkt, zu dem der Verbraucher den Verkäufer über die Vertragswidrigkeit unterrichtet hat (lit. b) und ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für den Verbraucher zu erfolgen, wobei die Art der Waren sowie der Zweck, für den der Verbraucher die Waren benötigt, zu berücksichtigen sind (lit. c).
Abs. 2 regelt nunmehr die Frage, wie mit der mangelbehafteten Ware zu verfahren ist. Sofern die Vertragswidrigkeit durch Nachbesserung oder Ersatzlieferung beseitigt wird, stellt der Verbraucher die Ware dem Verkäufer zur Verfügung. Der Verkäufer muss diese ersetzten Waren auf seine Kosten zurücknehmen.
Abs. 3 betrifft die Problematik der Nacherfüllung bei eingebauten Waren. Erfordert die Nachbesserung deren Entfernung, umfasst die Nacherfüllungspflicht nunmehr ausdrücklich die Entfernung der mangelbehafteten Ware sowie Montage oder Installierung nach Nachbesserung oder Nachlieferung, oder aber auch eine entsprechende Kostenübernahme.
Zuletzt regelt Abs. 4, dass der Verbraucher für eine normale Verwendung der ersetzten Waren für die Zeit vor der Ersetzung nicht zu zahlen braucht.
Um diese in der Richtlinie (EU) 2019/771 getroffenen Anforderungen in nationales Recht umzusetzen, hat der Gesetzgeber einige Anpassungen des § 439 BGB vorgenommen.
II. Die Umsetzung in deutschen Recht
Textliche Änderungen hat der Gesetzgeber durch Gesetz v. 25.6.2021 (BGBl. I S. 2133) durch Anpassung des Abs. 3 S. 1, durch Streichung des Abs. 3 S. 2, durch Einfügen eines neuen Abs. 5 und die Verschiebung des bisherigen Abs. 5 in Abs. 6 verbunden mit der Einführung eines neuen Abs. 6 S. 2 vorgenommen. Nachfolgend sollen die einzelnen Änderungen untersucht und ihre Auswirkung auf die bisher geltende Rechtslage beurteilt werden.
1. Aufwendungen für den Aus- und Einbau, § 439 Abs. 3 BGB nF.
439 Abs. 3 BGB betrifft die klassischen Einbaufälle, in denen der Käufer die gekaufte Sache in eine andere Sache eingebaut, oder an eine andere Sache angebracht hat. Abs. 3 S. 1 verpflichtet in diesem Fällen, sofern der Einbau oder die Anbringung der Art der gekauften Sache und ihrem Verwendungszweck entspricht, den Verkäufer dazu, die erforderlichen Aufwendungen für das Entfernen der mangelhaften Sache und den Einbau oder das Anbringen der mangelhaften Sache zu tragen.
Wichtig ist: Diese Pflicht wird durch die Neuregelung des Abs. 3 im Grundsatz nicht angerührt.
Lediglich der Ausnahmetatbestand ist betroffen. So verwies § 439 Abs. 3 S. 2 BGB aF. auf § 442 Abs. 1, wobei es für die Kenntnis des Käufers auf den Zeitpunkt des Einbaus/Anbringens ankam. Dies hatte nach früherer Rechtslage zur Folge, dass der Anspruch des Käufers auf Aufwendungsersatz nach Abs. 3 S. 1 in den Fällen ausgeschlossen war, in denen er bereits bei Einbau oder Anbringen der gekauften Sache Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von ihrer Mangelhaftigkeit besaß. Mit dieser Vorschrift setzte der nationale Gesetzgeber seinerseits (überschießend, also nicht nur für Verbraucher, sondern für alle Käufe geltend) die Rechtsprechung des EuGH um, nach der ein Ersatz von Aus- und Einbaukosten nur bei Gutgläubigkeit des Verbrauchers bestehen könne (BT-Drs. 19/27424, 26).
Dieser Ausnahmetatbestand des S. 2 fällt nunmehr weg.
Stattdessen wurde Abs. 3 S. 1 dergestalt angepasst, dass ein Aufwendungsersatzanspruch nur besteht, wenn die Sache eingebaut oder angebracht wurde „bevor der Mangel offenbar wurde“. Was genau unter dieser Begrifflichkeit zu verstehen ist, bleibt ungeklärt. Die Richtlinie (EU) 2019/771 selbst verhält sich hierzu nicht, ebenso wenig die nationalen Regelungen.
Vertreten lässt sich sowohl eine objektive Sichtweise, sodass es auf die Erkenntnismöglichkeit eines Durchschnittskäufers ankomme (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067), jedoch scheint auch eine Betrachtungsweise aus Sicht des Käufers nicht ausgeschlossen.
Darüber hinaus ist fraglich, ob die positive Kenntnis entscheidend und erforderlich ist, oder ob bereits grob oder einfach fahrlässige Unkenntnis ausreichend ist. Mit Blick auf die EuGH Entscheidung zur Richtlinie (EG) 1999/44, der die Gutgläubigkeit des Käufers forderte (EuGH, Urt. v. 16.6.2011 – C-65/09, C-87/09, NJW 2011, 2269) und die frühere Umsetzung in nationales Recht durch Verweis auf § 442 BGB, ist davon auszugehen, dass auch vorliegend bereits grob fahrlässige Unkenntnis schädlich ist. Sofern der nationale Gesetzgeber eine anderweitige Regelung hätte treffen wollen, hätte er dies in der Gesetzesbegründung wohl deutlicher hervorgehoben.
Rechtlich bringt die Änderung des § 439 Abs. 3 BGB nach hier vertretener Auffassung daher keine Änderungen, das letzte Wort ist hier jedoch juristisch noch nicht gesprochen.
In dem Zusammenhang soll kursorisch erwähnt werden, dass die bisherige Regelung des § 475 Abs. 4 BGB aF. ersatzlos gestrichen wurde. Der dortige S. 2 sah die Möglichkeit des Verkäufers vor, den Aufwendungsersatz nach Abs. 3 S. 1 auf einen angemessenen Betrag zu beschränken, sofern die andere Art der Nacherfüllung wegen der Höhe der Aufwendungen nach § 439 Abs. 2 oder Abs. 3 S. 1 BGB unverhältnismäßig ist. Diese Vorschrift galt aufgrund ihrer Verortung in § 475 BGB ausschließlich für den Kauf einer Ware eines Verbrauchers von einem Unternehmer. Diese Schlechterstellung des Verbrauchers im Rahmen eines Verbrauchsgüterkaufes gegenüber anderen Käufern wird nunmehr aufgehoben. Eine Beschränkung auf einen angemessenen Betrag ist daher nicht mehr möglich.
2.Verweigerung der Nacherfüllung, § 439 Abs. 4 BGB nF.
§ 439 Abs. 4 BGB selbst bleibt unverändert. An dieser Stelle soll jedoch erneut auf den ersatzlosen Wegfall des § 475 Abs. 4 BGB aF. hingewiesen werden. Nach alter Rechtslage stand dem Unternehmer als Verkäufer, wenn die eine Art der Nacherfüllung nach § 275 Abs. 1 BGB ausgeschlossen war oder der Unternehmer sie nach § 275 Abs. 2 oder 3 BGB oder § 439 Abs. 4 S. 1 BGB verweigern konnte, in Bezug auf die andere Art der Nacherfüllung nicht der Einwand des § 439 Abs. 4 S. 1 BGB zu. Es bestand daher nur ein relatives Verweigerungsrecht des Verkäufers (BeckOK BGB/Faust, 60. Ed. Stand 1.11.2021, § 475 Rn. 33 ff.).
Mit der Abschaffung dieser Regelung kann sich der Verkäufer daher auch im Rahmen des Verbrauchsgüterkaufs auf eine Totalverweigerung berufen (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2069).
3. Pflicht des Käufers, dem Verkäufer die Sache zur Verfügung zu stellen, § 439 Abs. 5 BGB nF.
§ 439 Abs. 5 BGB regelt nunmehr ausdrücklich die Pflicht des Käufers, dem Verkäufer die Sache zum Zwecke der Nacherfüllung zur Verfügung zu stellen.
Dies stellt im Grundsatz eine Kodifikation bisher geltender Rechtsprechungsgrundsätze dar. Denn nach bisheriger Judikatur des BGH liegt kein taugliches Nacherfüllungsverlangen vor, solange der Käufer dem Verkäufer keine Gelegenheit biete, die Ware zu begutachten und sie ihm hierfür nicht am Erfüllungsort der Nacherfüllung zur Verfügung stelle (BGH, Urt. v. 19.7.2017 – VIII ZR 278/16, NJW 2017, 2758 Rn. 21). Nach bisher geltender Rechtslage handelt es sich bei der Überlassung der mangelbehafteten Kaufsache an den Verkäufer um eine Obliegenheit des Käufers. Ohne ein taugliches Nacherfüllungsverlangen liegt keine ordnungsgemäße Fristsetzung innerhalb der §§ 281, 323 BGB vor, sodass die Geltendmachung von Ansprüchen wegen Rücktritts, Schadensersatz und Minderung regelmäßig ausgeschlossen ist (Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067).
Wohingegen einige Autoren die nunmehr ausdrückliche Kodifikation weiterhin als Obliegenheit einordnen wollen (so wohl Lorenz, NJW 2021, 2065, 2067), spricht vieles dafür, nunmehr von einer erzwingbaren rechtlichen Pflicht auszugehen.
So wird in der Begründung zum Gesetzentwurf wie folgt formuliert:

„Mit § 439 Absatz 5 BGBE wird dies nunmehr gesetzlich geregelt. Systematik und Wortlaut der unionsrechtlichen Vorgabe deuten indes darauf hin, dass es sich nicht bloß um eine Obliegenheit des Käufers handelt, sondern um eine erzwingbare Pflicht.“

Eine rechtliche Pflicht genießt gegenüber einer Obliegenheit den Vorteil, dass sie vom Verkäufer (Schuldner) dem Käufer (Gläubiger) des Nacherfüllungsanspruches als Einrede gemäß § 273 BGB entgegengehalten werden kann – bereits dieser ist somit nicht durchsetzbar (Wilke, VuR 2021, 283, 289). Darüber hinaus ist ein Nacherfüllungsverlangen zur Geltendmachung der Rechte aus § 437 BGB insbesondere im Verbrauchsgüterkauf nicht immer notwendig (siehe § 475d BGB). Diese Rechte aus § 437 BGB, insbesondere § 323 und § 281 BGB, setzen jedoch einen fälligen und einredefreien Anspruch voraus, welcher im Falle der Einordnung als Pflicht – und damit nicht als Obliegenheit – aufgrund von § 273 BGB gerade nicht besteht. Dies zeigt die rechtliche Schwäche einer Einordnung als Obliegenheit auf.
4. Erfüllungsort der Nacherfüllung
Zum Erfüllungsort selbst verhält sich die Richtlinie (EU) 2019/771 oder auch das BGB nicht. Es ist daher davon auszugehen, dass auch in Zukunft die bisherige Rechtsprechung des BGH Geltung entfacht (nachzulesen in BGH, Urt. v. 19.7.2017 – VIII ZR 278/16, NJW 2017, 2758 Rn. 21 ff.). Danach gilt auch im Kaufrecht grundsätzlich die allgemeine Vorschrift des § 269 BGB. Bei einem Verbrauchsgüterkauf kommt es somit entscheidend darauf an, ob die Nacherfüllung mit solchen Unannehmlichkeiten verbunden ist, dass der Erfüllungsort ausnahmsweise am Wohnsitz des Verbrauchers liegt. Das Abstellen auf die mit der Nacherfüllung verbundenen Unannehmlichkeiten in diesem Rahmen findet in Art. 14 Abs. 1 lit. d Richtlinie (EU) 2019/771 erneut eine brauchbare Stütze im Wege der richtlinienkonformen Auslegung des § 269 BGB.
5. Rücknahmepflicht des Verkäufers, § 439 Abs. 6 S. 2 BGB nF.
Korrespondierend zur Überlassungspflicht des Käufers regelt § 439 Abs. 6 S. 2 BGB nF. die Pflicht des Verkäufers, die ersetzte Sache zurückzunehmen. Dieser S. 2 steht in Zusammenhang mit Abs. 6 S. 1. Es handelt sich hierbei um den § 439 Abs. 5 BGB aF. Nach dieser Norm kann der Verkäufer Rückgewähr der mangelhaften Sache nach Maßgabe der §§ 346 bis 348 BGB verlangen, sofern er zum Zwecke der Nacherfüllung eine mangelfreie Sache liefert.
Abs. 6 S. 2 betrifft damit die Konstellation, dass der Verkäufer eine neue Sache im Wege der Nachlieferung bereitstellt, er aber die alte Sache nicht zurücknimmt. Aus der Praxis dürfte dies insbesondere bei großen Versandhändlern der Fall sein, die den mit der Rücknahme einer defekten Sache verbundenen Aufwand nicht tragen wollen.
Bereits ohne ausdrückliche Normierung der Pflicht des Verkäufers, die ersetzte Sache zurückzunehmen, war jedoch nach alter Rechtslage anerkannt, dass die Rücknahmepflicht einer mangelhaften Sache Kehrseite der aus § 433 Abs. 2 BGB folgenden Abnahmeverpflichtung des Käufers darstellt (OLG Köln, Urt. v. 21.12.2005 – 11 U 46/05, NJW-RR 2006, 677; BeckOK BGB/Faust, 60 Ed. Stand 1.11.2021, § 439 Rn. 28). Nichtsdestotrotz tendierte der BGH bisher dazu, eine entsprechende Rücknahmeverpflichtung des Verkäufers nur bei einem berechtigten oder besonderen Interesse des Käufers anzunehmen (BGH, Urt. v. 9.3.1983 – VIII ZR 11/82, NJW 1983, 1479, 1480). Diese Position hat sich jedenfalls mit der ausdrücklichen Kodifizierung der Rücknahmeverpflichtung des Verkäufers erledigt.
6. Summa: Kaum rechtliche Änderungen
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die rechtliche Beurteilung des Nacherfüllungsanspruches sich auch nach dem 1.1.2022 größtenteils nicht ändern wird. Für das Examen bedarf es hier daher nur kaum einer inhaltlichen Auffrischung.
Neu sein dürfte die Einordnung der Überlassung der Kaufsache an den Verkäufer bei ihrer Mangelhaftigkeit als rechtliche Pflicht des Käufers sein, mit den oben dargestellten Folgen in Bezug auf die bisherige Rechtsprechung des BGH zur Frage des tauglichen Nacherfüllungsverlangens. Hier lohnt es sich, auch in der Klausur präzise zu arbeiten und den Unterschied zwischen Obliegenheit und rechtlicher Pflicht herauszuarbeiten.
Zur Rechtssicherheit trägt die Kodifikation der Verkäuferpflicht zur Rücknahme der mangelhaften Kaufsache bei Neulieferung bei, hier kommt es nun nicht mehr auf das Vorliegen eines berechtigten Käuferinteresses an.
Rechtsunsicherheit wird durch die Richtlinie (EU) 2019/771 und die mit ihr verbundenen Änderungen im nationalen Recht lediglich im Rahmen der klassischen Einbaufälle geschaffen. So bedarf es in Zukunft der gerichtlichen Klärung, wann der Mangel „offenbar“ wird. Einer Problematisierung bedarf es hier daher in jedem Falle auch in der Prüfungssituation.

03.01.2022/0 Kommentare/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-01-03 09:00:112022-01-03 09:00:11Das „neue“ Kaufrecht 2022 – Teil 2: Der Nacherfüllungsanspruch
Gastautor

Neues zum Dieselskandal: Rücktritt vom Kaufvertrag ohne Fristsetzung?

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Alexandra Ritter veröffentlichen zu können. Die Autorin studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist am Institut für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit am Lehrstuhl von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) tätig.
Mit Urteil vom 29.9.2021 (BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris) hat der BGH entschieden, dass Käufer eines vom Dieselskandal betroffenen Pkw nicht ohne Fristsetzung vom Kaufvertrag zurücktreten können. Dem Verkäufer müsse grundsätzlich Gelegenheit zur Nachbesserung gegeben werden. Der vom BGH entschiedene Fall ist wie gemacht für eine Klausur in Studium und Examen. Er bietet damit Anlass, sich anhand der aktuellen Problematik mit dem prüfungsrelevanten Thema des Rücktritts auseinanderzusetzen.
I. Der Sachverhalt
Vereinfacht dargestellt ging es in dem dem Urteil zugrunde liegenden Fall um Folgendes: Der Kläger (K) kaufte vom beklagten Autohändler (V) im Februar 2015 einen Škoda, dessen Motor von der Volkswagen AG hergestellt war. Der Motor ist mit einer Software versehen, die erkennt, ob sich das Fahrzeug im Normalbetrieb oder auf einem Prüfstand zur Messung der maßgeblichen Werte für eine Typgenehmigung befindet. In dem Fahrmodus, der für den Fall des Durchlaufens des Prüfstands programmiert ist, kommt es im Vergleich zum regulären Fahrbetrieb zu einer erhöhten Abgasrückführung und damit zu einer Verringerung des Stickoxidausstoßes. Dieser Umstand wurde im Herbst 2015 öffentlich bekannt gemacht.
Für die fehlerhafte Software wurde ein Update entwickelt, das die Fehler beseitigt. Dieses Update wurde von der zuständigen britischen Vehicle Certification Agency freigeben mit der Bestätigung, dass es zur Fehlerbehebung geeignet sei.
Der Kläger ließ das Software-Update nicht aufspielen, weil er befürchtete, dass dieses mit negativen Folgen für das Fahrzeug verbunden sei. Mit Schreiben vom 4. Oktober 2017 erklärte K gegenüber V den Rücktritt vom Kaufvertrag. V verweigerte die Rücknahme des Fahrzeugs und verwies K auf das zur Verfügung stehende Software-Update.
Hat K einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises?
II. Gutachterliche Lösung
K könnte gegen V einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises aus §§ 437 Nr. 2 Alt. 1, 346 I BGB haben.
1. Kaufvertrag
K und V haben im Februar 2015 einen Kaufvertrag i.S.v. § 433 BGB über den Škoda geschlossen.
2. Mangel bei Gefahrübergang
Damit K die Mängelgewährleistungsrechte der §§ 437 ff. BGB geltend machen kann, müsste die Kaufsache bei Gefahrübergang mangelhaft gewesen sein.
a) Mangel
Mangels Beschaffenheitsvereinbarung gem. § 434 I 1 BGB und vorausgesetzter besonderer Verwendung gem. § 434 I 2 Nr. 1 BGB, kommt ein Sachmangel gem. § 434 I 2 Nr. 2 BGB in Betracht.
Danach hat die Sache einen Mangel, wenn sie sich nicht für die gewöhnliche Verwendung eignet und nicht eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach der Art der Sache erwarten kann. Die unzulässige Abschalteinrichtung birgt die Gefahr einer Betriebsuntersagung gem. § 5 I FZV und führt so zu einer herabgesetzten Eignung des Fahrzeugs zur gewöhnlichen Verwendung (BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 20). Zudem ist eine solche Abschalteinrichtung bei Sachen der gleichen Art nicht üblich und der Käufer kann erwarten, dass der Wagen keine Abschalteinrichtung einprogrammiert hat. Somit liegt ein Sachmangel i.S.v. § 434 I 2 Nr. 2 BGB vor.
b) Gefahrübergang
Der Mangel müsste schon bei Gefahrübergang vorgelegen haben. Gem. § 446 S. 1 BGB geht die Gefahr mit Übergabe der Kaufsache auf den Käufer über. Die Abschalteinrichtung wurde schon vom Motorhersteller eingerichtet, sodass der Mangel bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorlag.
c) Zwischenergebnis
Der Anwendungsbereich für die Mängelgewährleistungsrechte gem. §§ 437 ff. BGB ist eröffnet
3. Weitere Rücktrittsvoraussetzungen
Gem. § 437 Nr. 2 Alt. 1 BGB kann K nach den §§ 440, 323, 326 V BGB vom Kaufvertrag zurückgetreten. Dazu müsste K den Rücktritt gem. § 349 BGB erklärt und gem. § 323 I BGB eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt haben.
a) Erklärung
Die Rücktrittserklärung gem. § 349 BGB ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Mit Schreiben vom 4.10.2017 hat K gegenüber V seinen Willen vom Vertrag zurückzutreten zum Ausdruck gebracht. Diese Erklärung ist V auch zugegangen (§ 130 I BGB). Eine Rücktrittserklärung des K liegt vor.
b) Frist
Gem. § 323 I BGB müsste K dem V zunächst eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt haben. Hier hat K dem V jedoch den Rücktritt erklärt, ohne ihm zuvor die Gelegenheit zur Nacherfüllung zu gewähren. Eine Fristsetzung liegt damit nicht vor.
Die Fristsetzung könnte jedoch entbehrlich sein.
aa) § 323 II Nr. 3 BGB
(1) Zunächst kommt eine Entbehrlichkeit der Fristsetzung gem. § 323 II Nr. 3 BGB wegen etwaigen arglistigen Verhaltens in Betracht. Gem. § 323 II Nr. 3 BGB ist die Fristsetzung entbehrlich, wenn im Falle einer nicht vertragsgemäß erbrachten Leistung besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen.
„Ein die sofortige Rückabwicklung des Kaufvertrags rechtfertigendes überwiegendes Käuferinteresse ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn der Verkäufer dem Käufer einen ihm bekannten Mangel bei Abschluss des Kaufvertrags arglistig verschwiegen hat […]. In diesen Fällen ist in aller Regel ein den Verkäuferbelangen vorgehendes Interesse des Käufers anzuerkennen, von einer weiteren Zusammenarbeit mit dem Verkäufer Abstand zu nehmen, um sich vor möglichen weiteren Täuschungsversuchen zu schützen […]. Denn durch das arglistige Verschweigen eines Mangels entfällt auf Seiten des Käufers regelmäßig die zur Nacherfüllung erforderliche Vertrauensgrundlage, während der Verkäufer die Möglichkeit zur nachträglichen Mangelbeseitigung in der Regel nicht verdient, wenn er den ihm bekannten Mangel vor Vertragsschluss hätte beseitigen können und damit im Vorfeld der vertraglichen Beziehungen bereits die Chance hatte, eine Rückabwicklung des später geschlossenen Vertrags zu vermeiden […].“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021– VIII ZR 111/20, juris Rn. 24)
V hatte als Händler im Zeitpunkt der Einigung zwischen V und K keine Kenntnis von der Mangelhaftigkeit des Wagens und diesen somit auch nicht arglistig verschwiegen.
Allerdings hatte der Hersteller des Wagens, die Volkswagen AG, Kenntnis von der Mangelhaftigkeit.
„Zwar kann die Vertrauensgrundlage zwischen einem Käufer und einem Verkäufer unter Umständen auch dann gestört sein, wenn der Verkäufer sich bei Vertragsabschluss ordnungsgemäß verhalten hat, jedoch der Hersteller des Fahrzeugs dieses mit einer ihm bekannten und verschwiegenen unzulässigen Abschalteinrichtung in den Verkehr gebracht hat und der Verkäufer nun allein eine Nachbesserung in Form eines von diesem Hersteller entwickelten Software-Updates anbietet. Dabei kommt es darauf an, ob spätestens bei Erklärung des Rücktritts […] die Vertrauensgrundlage zwischen den Parteien so gestört war, dass eine Nacherfüllung (vgl. § 323 Abs. 1 BGB), also eine Nachbesserung oder eine Ersatzlieferung, für den Käufer unter Einbeziehung des Herstellers nicht zumutbar war. Ob dies der Fall ist, hängt jedoch von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, die der Tatrichter nicht schematisch, sondern in sorgfältiger Abwägung zu würdigen hat.“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 27)
Solche Anhaltspunkte dafür, dass K die Nacherfüllung unter Einbeziehung des V nicht zumutbar war, lassen sich dem Sachverhalt nicht entnehmen.
V könnte sich allenfalls die Kenntnis von der Mangelhaftigkeit und ein arglistiges Vorgehen des Herstellers nach § 278 BGB, 166 BGB analog zurechnen lassen müssen.
Dazu müsste die Volkswagen AG als Herstellerin Erfüllungsgehilfin des V i.S.v. § 278 BGB gewesen sein. Erfüllungsgehilfe ist, wer nach den tatsächlichen Gegebenheiten mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird (BeckOK BGB/Lorenz, 59. Ed. Stand: 1.8.2021, § 278 Rn. 11). Die Volkswagen AG könnte bei der dem V gem. § 433 I BGB obliegenden Verbindlichkeit, dem K ein mangelfreies Fahrzeug zu übereignen, tätig geworden sein. Dagegen spricht aber, dass ein Hersteller bei der Herstellung künftiger Kaufsachen eigene Aufgaben erfüllt und nicht solche des späteren Händlerverkäufers. Eine Stellung der Volkswagen AG als Erfüllungsgehilfin des V ist somit abzulehnen.
Damit muss sich V etwaiges arglistiges Verhalten der Herstellerin nicht zurechnen lassen. Eine Entbehrlichkeit der Frist lässt sich aus der Kenntnis der Mangelhaftigkeit der Herstellerin somit nicht begründen.
(2) Eine Entbehrlichkeit der Fristsetzung gem. § 323 II Nr. 3 BGB könnte aus dem Umstand herrühren, dass die Installation des Software-Updates zu anderen Mängeln am Wagen führen könnte. Ob das Software-Update solche Konsequenzen hat, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen. Es genügt nach Auffassung des BGH hier auch nicht, dass solche sich anschließenden Mängel nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ausgeschlossen sind (BGH, Urteil v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 33 ff.).

– die Ausführungen des BGH beziehen sich hier auch auf Fehler der Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht. Für die Ausführungen im Gutachten kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Entbehrlichkeitsgrund nach § 323 II Nr. 2 BGB eine umfassende Interessenabwägung im Einzelfall fordert. Ein nicht hinreichend belegter Verdacht einer Vertragspartei, wie in diesem Fall, genügt nicht, um die Entbehrlichkeit zu begründen (BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 38).

Hilfsweise sei an dieser Stelle die Interessenabwägung bei angenommener Unzumutbarkeit der Nacherfüllung durch Nachbesserung für K aufgezeigt.
„Selbst wenn die Nacherfüllung für den Kläger unzumutbar wäre, träte damit das Interesse der Beklagten an einer vom Gesetzgeber durch das Instrument der Nacherfüllung grundsätzlich eingeräumten „zweiten Andienung“ nicht automatisch zurück. Denn der Beklagten war das Vorhandensein der unzulässigen Abschalteinrichtung vor oder bei Vertragsschluss nicht bekannt. Sie hatte daher nicht die Möglichkeit, diesen Mangel frühzeitig zu beseitigen. Gerade diesem Umstand kommt aber nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung entscheidendes Gewicht für ein Zurücktreten der Belange des täuschenden Verkäufers im Rahmen der Interessenabwägung nach § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB zu […]-. Der Beklagten ist eine Berufung auf eine „zweite Andienung“ auch nicht per se deswegen zu versagen, weil ihr eine mögliche Arglist des Herstellers zuzurechnen wäre. Denn eine Zurechnung eines solchen Herstellerverhaltens gemäß § 278 BGB, § 166 BGB analog scheidet aus […].“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 37)

Die Fristsetzung war auch unter Berücksichtigung der Behauptung des K entbehrlich gem. § 323 II Nr. 3 BGB.
bb) § 440 BGB
Die Fristsetzung könnte entbehrlich sein gem. § 440 BGB. Hiernach bedarf es einer Fristsetzung zur Nacherfüllung nicht, wenn dem Käufer die ihm zustehende Art der Nacherfüllung unzumutbar ist. Eine solche Unzumutbarkeit lässt sich aus den geschilderten Umständen – wie dargestellt – aber gerade nicht begründen. Die Frist ist somit auch nicht gem. § 440 BGB entbehrlich.
cc) § 326 V BGB
Zuletzt könnte die Fristsetzung entbehrlich sein gem. § 326 V BGB. Dazu müssten beide Arten der Nacherfüllung unmöglich i.S.v. § 275 I – III BGB sein.
„Vorliegend steht nicht fest, ob eine mangelfreie Nachlieferung des ursprünglichen Modells zum Zeitpunkt des Rücktritts noch möglich war oder nicht. Auch hat das Berufungsgericht nicht festgestellt, ob eine Nachbesserung durch das Software-Update oder gegebenenfalls durch andere Methoden (etwa „Hardware-Lösung“) unmöglich war […].“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 42)

– Auch hier sind unzureichende Erhebungen des Berufungsgerichts Grundlage der Bewertung durch den BGH. In der Klausur kann es dieser Stelle zu einer Inzidentprüfung der Unmöglichkeit der Nacherfüllung kommen. Dann ist deutlich darzustellen, dass der Bezugspunkt für die Unmöglichkeit i.S.v. § 275 BGB nicht der ursprüngliche Erfüllungsanspruch, sondern der Nacherfüllungsanspruch gem. § 439 I BGB ist.

dd) Zwischenergebnis
Die Setzung einer Frist zur Nacherfüllung war nicht entbehrlich. K ist somit nicht wirksam vom Kaufvertrag zurückgetreten.
– Hilfsgutachten –
5. Kein Ausschluss
Bei der Annahme einer Entbehrlichkeit der Fristsetzung wäre schließlich noch zu prüfen, ob der Rücktritt durch K ausgeschlossen ist. In Betracht kommt ein Ausschluss des Rücktritts gem. § 323 V 2 BGB. Demnach kann der Gläubiger bei nicht vertragsgemäßer Leistungserbringung durch den Schuldner nicht vom Vertrag zurücktreten, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist. Dies
„erfordert eine umfassende Interessenabwägung auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls […]. Bei behebbaren Mängeln ist von einer Geringfügigkeit und damit von einer Unerheblichkeit in der Regel auszugehen, wenn die Kosten der Mangelbeseitigung im Verhältnis zum Kaufpreis geringfügig sind, was jedenfalls regelmäßig nicht mehr anzunehmen ist, wenn der Mangelbeseitigungsaufwand einen Betrag von fünf Prozent des Kaufpreises übersteigt […]. Bei unbehebbaren Mängeln ist regelmäßig auf das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung abzustellen […].“ (BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 44).
Für die Annahme einer Geringfügigkeit könnte sprechen, dass das Software-Update ohne größere Schwierigkeiten und mit geringen Zeitaufwand durchführbar ist.
„Jedoch steht derzeit nicht fest, dass das Software-Update zu einer ordnungsgemäßen Nachbesserung führt, also nicht mit dem Auftreten von (nicht zu vernachlässigenden) Folgemängeln verbunden wäre. Eine Nachbesserung im Sinne von § 439 Abs. 1 BGB setzt eine vollständige, nachhaltige und fachgerechte Behebung des vorhandenen Mangels voraus […] und liegt nicht vor, wenn zwar der ursprüngliche Mangel beseitigt, hierdurch aber Folgemängel hervorgerufen werden. Ob dies der Fall ist, ist mangels rechtsfehlerfreier Feststellungen des Berufungsgerichts offen. Damit kann nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon ausgegangen werden, dass sich die unzulässige Abschalteinrichtung mit geringem Kostenaufwand folgenlos in dem vorbeschriebenen Sinne beseitigen ließe.“
(BGH, Urt. v. 29.9.2021 – VIII ZR 111/20, juris Rn. 47)
Im Ergebnis kann die Unerheblichkeit der Pflichtverletzung nicht angenommen werden. Der Ausschluss gem. § 323 V 2 BGB ist somit nicht einschlägig.
– Ende des Hilfsgutachtens –
6. Ergebnis
K hat gegen V keinen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises aus §§ 437 Nr. 2 At. 1, 346 I BGB.
III. Fazit
Auch wenn viele Bewertungen des BGH bezüglich der Entbehrlichkeit der Frist auf den Umstand zurückzuführen sind, dass bestimmte Umstände auf Tatsachenebene von den Vorinstanzen nicht hinreichend erforscht wurden, lassen sich einige Ausführungen finden, die im Gutachten hilfreich sein können.
Zum einen macht der Fall deutlich, dass zwischen den am Sachverhalt beteiligten genau zu unterscheiden ist. Das Verhalten und die Kenntnis des Herstellers/Lieferanten von der Mangelhaftigkeit der Kaufsache, kann dem Händlerverkäufer nach Auffassung des BGH nicht zugerechnet werden.
Zum anderen ist festzuhalten, dass für die Entbehrlichkeit der Fristsetzung gem. § 323 II Nr. 3 BGB eine umfassende Abwägung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist. Für die Klausur bedeutet dies insbesondere die Informationen des Sachverhalts hierzu fruchtbar zu machen und einen eher strengen Maßstab anzulegen. Dabei darf die Bedeutung des Rechts des Schuldners zur zweiten Andienung nicht übersehen werden. Da es hier auf eine Wertung im Einzelfall ankommt, ist das Ergebnis bei sorgfältiger Verwertung der Informationen des Sachverhalts und Gewichtung der Argumente eher nebensächlich. Hier gilt es, das Ergebnis klausurtaktisch zu wählen und ggf. weitere Probleme des Sachverhalts im Hilfsgutachten zu besprechen.

04.11.2021/3 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-11-04 08:22:272021-11-04 08:22:27Neues zum Dieselskandal: Rücktritt vom Kaufvertrag ohne Fristsetzung?
Dr. Lena Bleckmann

BGH zum Widerrufsrecht beim Werkvertrag sowie zur Abgrenzung von Kauf- und Werklieferungsverträgen

Examensvorbereitung, Lerntipps, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Verbraucherschutzrecht, Werkvertragsrecht, Zivilrecht

Vergangene Woche hat der BGH in einer Entscheidung zu Treppenliften grundlegende Fragen im Bereich des Verbraucherwiderrufsrechts geklärt. Die Entscheidung liefert darüber hinaus wertvolle Erkenntnisse zur Abgrenzung von Kaufverträgen, Werkverträgen und Werklieferungsverträgen.  An Klausur- und Examensrelevanz dürfte eine solche Entscheidung kaum zu übertreffen sein.
I. Der Sachverhalt
Der Sachverhalt ist schnell erzählt. A vertreibt sog. Kurventreppenlifte – es handelt sich um Vorrichtungen, die an Treppenaufgängen befestigt werden, um insbesondere Personen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sind, den Treppenauf- und –abstieg zu erleichtern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. Die Schienen werden hierbei individuell an im jeweiligen Treppenhaus zu befahrende Kurven angepasst. A weist Verbraucher in Bezug auf diese Kurventreppenlifte darauf hin, dass im Rahmen des jeweiligen Vertrags, abgesehen von einem bestimmten Modell, kein gesetzliches Widerrufsrecht bestehe. Hiergegen wendet sich die Verbraucherzentrale V. Sie ist der Ansicht, dass sehr wohl ein gesetzliches Widerrufsrecht besteht und nimmt die A  auf Unterlassung in Anspruch.

Anm.: Hierbei mag es sich um eine für eine Zivilrechtsklausur eher ungewöhnliche Konstellation handeln. Bearbeiter müssten sich mit der Anspruchsberechtigung der Verbraucherzentralen nach § 8 Abs. 3 Nr. 4 i.V.m. § 4 UKlaG auseinandersetzen. Dass dies gefordert wird, ist nicht ausgeschlossen, aber selten. Der Fall lässt sich jedoch ohne größere Probleme abwandeln, indem man eine tatsächliche Bestellung eines solchen Kurventreppenlifts durch einen Verbraucher mit anschließender Ausübung eines möglichen Widerrufsrechts konstruiert. Die eher unübliche Einkleidung sollte mithin nicht dazu verleiten, die Klausurrelevanz der Entscheidung zu verkennen.

II. Widerrufsrechte und Informationspflichten
Eine kurze Wiederholung der Fragen rund um das Widerrufsrecht im Verbraucherschutzrecht: Die verbraucherschützenden Vorschriften der §§ 312 ff. BGB sind nach § 312 Abs. 1 BGB auf Verbraucherverträge anwendbar, die eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand haben. Was Verbraucherverträge sind, definiert § 310 Abs. 3 BGB: Es handelt sich um Verträge zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer. Die übrigen Absätze des § 312 BGB enthalten sodann Einschränkungen des Anwendungsbereichs, die vorliegend aber keine weitere Beachtung finden sollen.
Möchte der Verbraucher nach Abschluss eines Vertrags i.S.d. § 312 Abs. 1 BGB von diesem Abstand nehmen, kann ihm dies aufgrund eines Widerrufsrechts möglich sein. § 312g Abs. 1 BGB sieht ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge und Fernabsatzverträge vor. In der Klausur ist an dieser Stelle daher eine saubere Subsumtion unter die Begriffe des außerhalb des Geschäftsräume geschlossenen Vertrags nach § 312b BGB bzw. des Fernabsatzvertrags nach § 312c BGB erforderlich. Für den konkreten Fall würde der Sachverhalt dann nähere Angaben enthalten, welche die Zuordnung zu dem einen oder anderen Begriff ermöglichen. Liegt ein Fernabsatzvertrag oder außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag vor, greift grundsätzlich  § 312g Abs. 1 BGB i.V.m. § 355 BGB: Wird der Widerruf fristgerecht unter Wahrung der Anforderungen des § 355 Abs. 1 BGB erklärt, sind die Parteien an ihre auf Abschluss des Vertrags gerichteten Willenserklärungen nicht mehr gebunden. Der Unternehmer ist nach § 312d Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 246a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB verpflichtet, den Verbraucher über die Bedingungen, die Fristen und das Verfahren für die Ausübung des Widerrufsrechts zu informieren. Das alles gilt jedoch nicht, wenn das Bestehen eines Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2, 3 BGB ausgeschlossen ist.
III. Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB
Zurück zum Fall: Die Verbraucherzentrale V stützt sich für den geltend gemachten Unterlassungsanspruch (§ 8 Abs. 1 UWG, § 3 Abs. 1 UWG, § 3a UWG) auf die Informationspflicht des Unternehmers bei bestehenden Widerrufsrechten nach § 312d Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 246a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB. Sofern im Falle der Bestellung eines Kurventreppenlifts ein Widerrufsrecht bestünde, würde der Hinweis von Seiten der A, dass ein solches gerade nicht besteht, wettbewerbswidriges Verhalten darstellen (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19, MMR 2021, 350). Zentrale Frage ist mithin, ob denn ein solches Widerrufsrecht bestünde, wenn es mit einem Verbraucher zum Abschluss eines Vertrags über Anfertigung und Einbau eines Kurventreppenlifts durch die A käme.
Die Vorinstanz hat das noch abgelehnt: Das OLG Köln sah die Voraussetzungen des Ausschlusses nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB als erfüllt an (OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19, MMR 2021, 350, 351 f). Nach dieser Norm besteht ein Widerrufsrecht nicht bei Verträgen zur Lieferung von Waren, die nicht vorgefertigt sind und für deren Herstellung eine individuelle Auswahl oder Bestimmung durch den Verbraucher maßgeblich ist oder die eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zugeschnitten sind. Dass die Laufschienen für Kurventreppenlifte individuell angefertigt werden und an die konkreten Gegebenheiten vor Ort angepasst werden, wird nicht bezweifelt. Der Problempunkt ist ein anderer: Bei dem Vertrag, der bei Bestellung eines Kurventreppenlifts abgeschlossen wird, müsste es sich um einen Vertrag zur Lieferung von Waren i.S.d. § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB handeln. Der Begriff geht auf Art. 16 lit. c Richtlinie 2011/83/EU zurück, der den Ausschluss des Widerrufsrecht vorsieht, wenn „Waren geliefert werden“.  Nun existieren im deutschen Zivilrecht mehrere Vertragstypen, die eine Lieferung von Waren umfassen: Sowohl ein Kaufvertrag nach § 433 BGB, als auch ein Werklieferungsvertrag nach § 650 BGB und ein Werkvertrag nach § 631 BGB kann Waren (es handelt sich hierbei ausschließlich um bewegliche Gegenstände, siehe § 241a Abs. 1 BGB) zum Gegenstand haben. Nicht alle dieser Vertragstypen fallen jedoch nach Ansicht des BGH unter den Begriff des Vertrags zur Lieferung von Waren, den § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB verwendet. In einer Entscheidung aus dem Jahre 2018 hinsichtlich des Einbaus eines Senkrechtslifts äußerte sich der BGH dahingehend, dass § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB Kaufverträge und Werklieferungsverträge, in aller Regel aber nicht Werkverträge umfasse.

 „Dem Wortlaut nach umfasst § 312 g II 1 Nr. 1 BGB Verträge, die auf die Lieferung von Waren gerichtet sind. Damit werden nach dem allgemeinen Sprachgebrach Kaufverträge (§ 433 BGB) und Verträge über die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen (Werklieferungsverträge, § 651 BGB) erfasst.

 Dies entspricht der Verbraucherrechte-RL, deren Umsetzung unter anderem § 312g BGB dient. Nach Art. 2 Nr. 5 Verbraucherrechte-RL ist ein „Kaufvertrag“ jeder Vertrag, durch den der Unternehmer das Eigentum an Waren an den Verbraucher überträgt oder deren Übertragung zusagt und der Verbraucher hierfür den Preis zahlt oder dessen Zahlung zusagt, einschließlich von Verträgen, die sowohl Waren als auch Dienstleistungen zum Gegenstand haben. Damit werden von dieser Definition Kauf- und Werklieferungsverträge umfasst, und zwar auch dann, wenn sich der Unternehmer gegenüber dem Verbraucher zur Montage der zu liefernden Waren verpflichtet hat. Eine entsprechende Regelung enthalten §§ 474 I 2, 434 II 1, 433, 651 S. 1 BGB.

 In Abgrenzung zum „Kaufvertrag“ ist dagegen ein „Dienstleistungsvertrag“ jeder Vertrag, der kein Kaufvertrag ist und nach dem der Unternehmer eine Dienstleistung für den Verbraucher erbringt oder deren Erbringung zusagt und der Verbraucher hierfür den Preis zahlt oder dessen Zahlung zusagt, Art. 2 Nr. 6 Verbraucherrechte-RL. Nach dieser Definition sind Werkverträge (§ 631 BGB) jedenfalls regelmäßig nicht als auf die Lieferung von Waren gerichtete Verträge einzustufen. Ob Werkverträge im Sinne des deutschen Rechts in Ausnahmefällen als Verträge über die Lieferung von Waren iSd § 312g II 1 Nr. 1 BGB einzustufen sind, braucht nicht entschieden zu werden.

 (BGH, Urt. v. 30.8.2018 – VII ZR 243/17, NJW 2018, 3380, 3381)

Zur Begründung führte der BGH auch ein systematisches Argument an: Zum Schutz der Unternehmer, die Werkverträge erbringen, sei ein Ausschluss des Widerrufsrechts nicht in § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB geregelt, sondern vielmehr in § 357 Abs. 3 S. 1 BGB.
Somit ist eine Abgrenzung der drei Vertragstypen notwendig. Grundsätzlich gilt: Der Verkäufer schuldet nach § 433 Abs. 1 S. 1 BGB allein Übergabe und Übereignung einer Sache, während ein Werklieferungsvertrag nach § 650 S. 1 BGB auf die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender Sachen gerichtet ist. Der Unternehmer des Werkvertrags ist nach § 631 BGB zur Herstellung des versprochenen Werks verpflichtet. Für eine Zuordnung zu einem dieser Vertragstypen muss der Vertragsschwerpunkt betrachtet werden: „Liegt der Schwerpunkt des Vertrags auf der mit dem Warenumsatz verbundenen Übertragung von Eigentum und Besitz, liegt ein Kauf- oder Werklieferungsvertrag vor. Liegt der Schwerpunkt des Vertrags dagegen nicht auf dem Warenumsatz, sondern schuldet der Unternehmer die Herstellung eines funktionstauglichen Werks, ist ein Werkvertrag anzunehmen“ (BGH, Urt. v. 30.8.2018 – VII ZR 243/17, NJW 2018, 3380, 3381).
Die Vorinstanz ist auf Basis dieser Rechtsprechung zu dem Ergebnis gelangt, es handle sich um einen Werklieferungsvertrag. Die Lieferung des Treppenlifts stehe im Vordergrund, die Montage könne durch jede Fachfirma mit geringem Aufwand erfolgen (OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19, MMR 2021, 350, 352). Der BGH ist anderer Ansicht. In der Pressemitteilung heißt es:

„Im Streitfall liegt der Schwerpunkt des angestrebten Vertrags nicht auf der mit dem Warenumsatz verbundenen Übertragung von Eigentum und Besitz am zu liefernden Treppenlift, sondern auf der Herstellung eines funktionstauglichen Werks, das zu einem wesentlichen Teil in der Anfertigung einer passenden Laufschiene und ihrer Einpassung in das Treppenhaus des Kunden besteht. Auch der hierfür, an den individuellen Anforderungen des Bestellers ausgerichtete, erforderliche Aufwand spricht daher für das Vorliegen eines Werkvertrags. Bei der Bestellung eines Kurventreppenlifts, der durch eine individuell erstellte Laufschiene auf die Wohnverhältnisse des Kunden zugeschnitten wird, steht für den Kunden nicht die Übereignung, sondern der Einbau eines Treppenlifts als funktionsfähige Einheit im Vordergrund, für dessen Verwirklichung die Lieferung der Einzelteile einen zwar notwendigen, aber untergeordneten Zwischenschritt darstellt.“

(BGH, Pressemitteilung Nr. 191/2021 v. 20.10.2021)

Demnach handelt es sich bei der Bestellung eines Kurventreppenlifts regelmäßig um einen Werkvertrag, auf den der Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht anwendbar ist. Der Hinweis der A, ein gesetzliches Widerrufsrecht bestehe nicht, ist daher unrichtig und wettbewerbswidrig. Der von V  geltend gemachte Unterlassungsanspruch nach § 8 Abs. 1, § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 312d Abs. 1 S. 1, § 312g Abs. 1 BGB und Art. 246a § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB besteht.
IV. Ausblick
Der BGH knüpft mit dieser Entscheidung an seine viel diskutierte Rechtsprechung aus dem Jahr 2018 an und bleibt dabei, dass sich der Ausschluss des Widerrufsrechts in § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB i.d.R. nicht auf Werkverträge bezieht. Das macht im konkreten Fall jeweils eine Zuordnung zum Vertragstyp des Kauf-, Werklieferungs- oder Werkvertrags erforderlich. Von Studenten und Examenskandidaten ist in vergleichbaren Fällen eine genau Auswertung des Sachverhalts zu fordern. Die Ausführung der Vorinstanz zeigen hier, dass auch abweichende Ergebnisse durchaus vertretbar hergeleitet werden können. Entscheidend ist – wie so oft – eine fundierte Argumentation.

25.10.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-10-25 08:00:182021-10-25 08:00:18BGH zum Widerrufsrecht beim Werkvertrag sowie zur Abgrenzung von Kauf- und Werklieferungsverträgen
Dr. Yannik Beden, M.A.

Verwaltungsrecht / Verwaltungsprozessrecht: Die 15 wichtigsten Definitionen für Klausur und Examen

Für die ersten Semester, Lerntipps, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Wer das juristische Studium erfolgreich absolvieren will, muss Zusammenhänge verstehen und auch für Unbekanntes praktikable Lösungsansätze entwickeln können. Bloßes Auswendiglernen führt nicht zum Ziel. Trotzdem gilt, dass einige wesentliche Begrifflichkeiten in fast jedem Rechtsgebiet bekannt sein sollten – nicht zuletzt, um in der Klausur wertvolle Zeit einzusparen. Für die Klausur im Öffentlichen Recht ist eine überschaubare Anzahl an Begriffen, die jeder ambitionierte Student und Examenskandidat im Handumdrehen schnell abrufen können sollte, zu beherrschen. Die nachstehende Auflistung enthält diejenigen Definitionen, die für die Klausur im Verwaltungsrecht bzw. Verwaltungsprozessrecht notwendig sind. Wer diese beherrscht, ist für den Ernstfall bestens gewappnet:
(1) Öffentlich-rechtliche Streitigkeit
Nach der modifizierten Subjektstheorie liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor, wenn die streitentscheidende Norm dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist. Eine Norm ist dann öffentlich-rechtlicher Natur, wenn sie einen Träger öffentlicher Gewalt in seiner Funktion als solcher in jedem Anwendungsfall berechtigt oder verpflichtet.
(2) Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art
Eine Streitigkeit ist jedenfalls dann nichtverfassungsrechtlicher Art, wenn die Streitbeteiligten nicht unmittelbar am Verfassungsleben teilnehmen und auch im Wesentlichen nicht um die Anwendung oder Auslegung von Verfassungsrecht gestritten wird (sog. doppelte Verfassungsunmittelbarkeit)
(3) Klagebefugnis Anfechtungsklage
Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist die Anfechtungsklage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein. Die Rechtsverletzung muss tatsächlich möglich erscheinen (sog. Möglichkeitstheorie). Eine Rechtsverletzung kommt insbesondere bei einem Adressaten eines belastenden Verwaltungsakts in Betracht (sog. Adressatentheorie), wobei im Einzelfall stets zu begründen ist, weshalb der Verwaltungsakt möglicherweise rechtswidrig sein und den Adressaten in subjektiv-öffentlichen Rechten verletzen könnte.  
(4) Klagebefugnis Verpflichtungsklage
Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist die Verpflichtungsklage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsaktes in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein. Das ist der Fall, wenn der Kläger möglicherweise einen Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsaktes hat, der Anspruch also nicht offensichtlich ausgeschlossen ist.
(5) Feststellungsfähiges Rechtsverhältnis i.S.v. § 43 Abs. 1 VwGO
Unter einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt auf Grund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren eine der beteiligten Personen etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht.
(6) Feststellungsinteresse
Der Kläger muss ein berechtigtes Interesse an einer baldigen Feststellung des Rechtsverhältnisses haben. Ein berechtigtes Interesse kann dabei jedes als schutzwürdig anzuerkennende Interesse, insbesondere rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art sein.
(7) Fortsetzungsfeststellungsinteresse
Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts hat. Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Klägers in den genannten Bereichen zu verbessern. Anerkannt ist ein solches Interesse jedenfalls für folgende Fälle: (1) Konkrete Wiederholungsgefahr, (2) Rehabilitationsinteresse, (3) präjudizielle Wirkung einer Feststellung und (4) tiefgreifende Grundrechtseingriffe.
(8) Erledigung eines Verwaltungsakts
Nach § 43 Abs. 2 VwVfG bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Er verliert folglich seine Wirksamkeit, wenn eine der in § 43 Abs. 2 VwVfG genannten Voraussetzungen eingetreten ist. Die Erledigung eines Verwaltungsaktes tritt erst ein, wenn dieser nicht mehr geeignet ist, rechtliche Wirkungen zu erzeugen oder wenn die Steuerungsfunktion, die ihm ursprünglich innewohnte, nachträglich entfallen ist.
(9) Subsidiarität i.S.v. § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO
Die Feststellung eines Rechtsverhältnisses kann gem. § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Die Feststellungsklage ist demnach insbesondere gegenüber der Anfechtungs-, Verpflichtungs- und allgemeinen Leistungsklage subsidiär.
(10) Rechtsschutzbedürfnis
Das Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses folgt dem allgemeinen Grundsatz, dass die begehrte Leistung bzw. Handlung zunächst bei der Behörde zu beantragen ist. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt insbesondere, wenn der Kläger sein Ziel einfacher als durch Klageerhebung erreichen kann, die Klage keinen anzuerkennenden Zweck verfolgt, missbräuchlich ist oder der Kläger sein Klagerecht verwirkt hat.
(11) Sicherungsanordnung
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO ist statthaft, wenn der Antragsteller die vorläufige Sicherung eines von ihm behaupteten Rechts gegenüber einer drohenden tatsächlichen oder rechtlichen Änderung eines bereits bestehenden Zustands begehrt.
(12) Regelungsanordnung
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO ist statthaft, wenn der Antragsteller die vorläufige Erweiterung seines Rechtskreises begehrt, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder ein solche Regelung aus anderen Gründen nötig erscheint.
(13) Anordnungsanspruch
Der Anordnungsanspruch im Verfahren nach § 123 VwGO bezieht sich auf den materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird. Der Anordnungsanspruch entspricht folglich dem materiell-rechtlichen Anspruch, der im Hauptsacheverfahren geltend gemacht wird. Dies gilt sowohl für die Sicherungs- als auch Regelungsanordnung.
(14) Anordnungsgrund
Der Anordnungsgrund betrifft den Umstand, aus dem sich die Eilbedürftigkeit des Antragstellers ergibt, dieser mithin nicht bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren abwarten kann. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.
(15) Objektive Klagehäufung
Nach § 44 VwGO können vom Kläger mehrere Klagebegehren in einer Klage zusammen verfolgt werden, wenn sie sich gegen denselben Beklagten richten, im Zusammenhang stehen und dasselbe Gericht zuständig ist. Mehrere Klagebegehren liegen vor, wenn mehrere selbständige prozessuale Ansprüche in Rede stehen, mithin unterschiedliche Streitgegenstände in einer Klage adressiert werden.
 
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26.11.2020/0 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
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Charlotte Schippers

Wohnraummiete: Schnarchen des Nachbarn als Mangel im Altbau?

Mietrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

Etwas älter ist das nachfolgend besprochene Urteil des AG Bonn vom 25. März 2010 (Az.: 6 C 598/08). Nichtsdestoweniger ist der Sachverhalt unterhaltsam und sorgte für mediales Aufsehen. Mit dem Fall können einerseits das Basiswissen der Prüflinge im Mietrecht, einem beliebten Examensthema, und andererseits ihre Fähigkeit zur Argumentation mit den Sachverhaltsangaben abgefragt werden. Mithin ist das vorliegende Urteil auch für den Klausursteller im Examen attraktiv und sollte deshalb jedem Examenskandidaten geläufig sein.
Das AG Bonn hatte sich also nun damit zu beschäftigen, ob das Schnarchen eines Mieters für die Mieter der Nachbarwohnung einen Sachmangel an der Mietwohnung darstellt. Wie es dazu kam, ist schnell erzählt:
 
Sachverhalt (leicht abgewandelt und gekürzt)
Geklagt hatten die Mieter (M und N) gegen ihre Vermieterin (V). Die betreffende Altbauwohnung wurde unter anderem als „renoviert“, „modernisiert“ sowie „in ruhiger Lage“ befindlich inseriert. Auch beim dem Telefonat mit der Maklerin wurde auf Nachfrage darauf hingewiesen, dass es sich um eine ruhige Wohnung handle, über der Wohnung sei schließlich nur noch der Speicher. Allerdings war die Wohnung tatsächlich hellhörig. Insbesondere störend für M und N war, dass das Schnarchen des Mieters der unter ihrer Wohnung liegenden Wohnung so laut war, dass sie in ihrem eigenen Schlafzimmer nicht schlafen konnten, was auch zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führte. Ein Hinweis auf fehlende Schallisolierung sowie das Schnarchen erfolgte durch die Maklerin nicht.
V machte geltend, dass sich bisher noch kein Mieter über die schlechte Isolierung beklagt habe. Auch würden Mieter der unter dem schnarchenden Mieter liegenden Wohnung sich nicht darüber beschweren. Außerdem handelt es sich bei dem Haus um eines aus der Gründerzeit: Maßgeblich seien technischen Gegebenheiten zur Zeit der Errichtung des Gebäudes – der Schallschutz sei jedenfalls nicht schlechter als der, der bei Altbauten üblich ist.
M und N rügten eine fehlerhafte Schallisolierung der Wohnung und machten eine Minderung der Miete geltend.
War die Minderung gerechtfertigt?
 
Lösung
Infrage kommt eine Minderung der Miete nach § 536 BGB. Gem. § 536 Abs. 1 BGB ist der Mieter bei Vorliegen eines Mangels, der die Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch der Mietsache aufhebt oder mindert, von der Pflicht zur Zahlung der Miete entweder vollständig oder in angemessener Höhe befreit.
Nach Feststellung, dass ein wirksamer Mietvertrag vorliegt, ist entscheidend, ob der Wohnung ein Mangel anhaftet. Ein Mangel ist jede negative Abweichung der Ist- von der Soll-Beschaffenheit.
 
I. Zunächst ist die Frage nach einem Mangel mit Blick auf die möglicherweise nicht hinreichende Schallisolierung zu begutachten:
Hierfür ist der Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes maßgeblich, vgl. BGH, Urt. v. 26.7.2004 – VIII ZR 281/03. So kann der Mieter von einem Altbau ohne besondere Absprachen mit dem Vermieter nicht mehr als einen Mindeststandard, der heutigen Maßstäben gerecht wird, erwarten. Das Gleiche gilt auch für ein modernisiertes Mietobjekt: Dass ein neuzeitlicher Standard bzgl. Schalldämmung etc. eingehalten wurde, kann nicht zugrunde gelegt werden; insbesondere wegen der für Altbauten typischen Deckenkonstruktionen. Da der Schallschutz aber, wie auch gutachterlich festgestellt wurde, nicht schlechter war als der, der bei Altbauten üblich ist, kann hierin also kein Mangel begründet werden.
 
II. Auch in den Schnarchgeräuschen des Nachbarn liegt kein Mangel:

„Zum einen kann bei der Anmietung einer Altbauwohnung, die regelmäßig über die für Altbauwohnungen charakteristischen Holzbalkendecken – (und damit nach Feststellungen des Sachverständigen einhergehend auch über geringeren Schallschutz) – verfügt, vom Mieter nicht vorausgesetzt werden, dass keinerlei Wohngeräusche der Nachbarn in die Wohnung dringen. […] Darüber hinaus haben die Parteien auch keine weitergehende Vereinbarung über den Schallschutz der Mietsache getroffen, wonach das aus der Nachbarwohnung durchdringende Geräusch eine Abweichung von der vereinbarten Beschaffenheit und damit einen Mietmangel darstellte.“

Der Mangel kann nach Auffassung des AG Bonn hierüber nur dann begründet werden,

„wenn die Parteien über den allgemein von einen (sic!) Altbau zu fordernden Schallschutz hinaus eine Vereinbarung dahingehend getroffen hätten, dass jedwede Wohngeräusche, auch solche mit einer tiefen Frequenz nicht aus der Nachbarwohnung zu vernehmen seien“.

Es untersuchte demnach noch, ob nicht eine Vereinbarung der Parteien hinsichtlich der nachbarlichen Wohngeräusche getroffen wurde.
 
1. Eine solche könnte sich durch die Werbung für die Wohnung als „in ruhiger Lage“ begründen lassen. Allerdings sind nach der Verkehrsauffassung hiermit Lage und Außenverhältnisse gemeint, nicht aber die Geräuschquellen im Haus, sodass dies ausscheidet.
 
2. Die Vereinbarung, es handle sich um eine „ruhige Wohnung“ mit Bezug auf den darüber gelegenen Speicher spricht ebenfalls gegen eine Vereinbarung darüber, dass sonstige Wohngeräusche nicht zu vernehmen wären:

„Die Vereinbarung einer „ruhigen Wohnung” bezieht sich nach der Verkehrsanschauung in erster Linie auf das Wohnverhalten der Mitmieter und den damit einhergehenden Wohngeräuschen, insbesondere im Hausflur, Balkonen und Kellerräumen. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass zur Begründung des Merkmals „ruhige Wohnung” nach dem Vortrag der Kl. auf den über der Wohnung liegenden Speicher Bezug genommen worden ist. Dass es sich vorliegend um ein „unruhiges Haus” handele, wonach durch entsprechendes Wohnverhalten der Mitmieter mannigfaltige Wohngeräusche in die Wohnung der Kl. dringen, wurde von den Kl. schon nicht vorgetragen.

 
3. Eine weitere Auslegung dahingehend, dass eine Zusicherung getroffen werden sollte, dass über den normalen Schallschutz hinaus das Durchdringen sämtlicher Wohngeräusche, auch solcher wie Schnarchen des Nachbarn, ausgeschlossen sei, kann demnach nicht stattfinden. Dies bedürfe einer detaillierteren Vereinbarung, die dies ausdrücklich aufgreift.
Folglich liegt kein Mangel vor.
 
III. Damit waren M und N, da kein Mangel vorliegt, nicht zur Minderung der Miete gem. § 536 BGB berechtigt.
 
Fazit
Es zeigt sich, dass es in Fällen wie diesen auf die Kenntnis mietrechtlicher Gewährleistung ankommt. Infrage kommt beispielsweise auch die Überlegung, wie sie im Originalfall zugrunde lag, ob ein Kündigungsfolgeschaden geltend gemacht werden kann: Dabei käme es auf ein Kündigungsrecht von M und N an, also wiederum auf das Vorliegen eines Mangels. Maßgeblich geht es darum, die relevanten Punkte strukturiert in der Prüfung unterzubringen.

12.12.2019/3 Kommentare/von Charlotte Schippers
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Charlotte Schippers https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Charlotte Schippers2019-12-12 09:12:032019-12-12 09:12:03Wohnraummiete: Schnarchen des Nachbarn als Mangel im Altbau?
Dr. Sebastian Rombey

Zehn Merkposten zur Erstellung eines Rechtsgutachtens

Examensvorbereitung, Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Erst vor kurzem haben wir an dieser Stelle die fünf wichtigsten Schritte zur erfolgreichen Klausur dargestellt (hier abrufbar), die von der Vorbereitung über das richtige Mindset bis hin zur eigentlichen Klausur reichen. Die nachfolgenden Merkposten dagegen sollen allein stichpunktartig die hard facts zusammenfassen, die es in der Klausursituation zu beherzigen gilt.
I. Fallfrage lesen und unbedingt den Bearbeitervermerk beachten
II. Sachverhalt lesen, dabei die relevanten Personen, Daten und Ereignisse markieren
III. Assoziationen an den Rand des Sachverhalts schreiben oder auf einem Ideenzettel vermerken
IV. Personenskizze und ggf. Zeitstrahl erstellen (insbesondere bei mehreren Personen und Daten)
V. Bei Unklarheiten des Sachverhalts: lebensnahe Auslegung, aber nichts hineininterpretieren, was der Sachverhalt nicht hergibt, zudem bei technisch falschen Ausdrücken eine laiengünstige Auslegung vornehmen
VI. Durchblättern des Gesetzes nach maßgeblichen Normen (bei Zweifeln an die „Idiotenwiese, also das Register am Ende des Gesetzbuchs, denken)
VII. Gliederung der Lösung (bei den Gliederungsebenen beachten: „Wer A sagt, muss auch B sagen“), hierbei jedenfalls gedankliche Aufschlüsselung der Anspruchsgrundlagen in das Triumvirat „Anspruch entstanden“, „Anspruch erloschen“ und „Anspruch durchsetzbar“
VIII. Anspruchsgrundlagen („Wer will was von wem woraus?“) in der richtigen Reihenfolge darstellen:
1. Vertraglich
a) aus eigenem Recht
b) aus fremdem Recht (insbesondere an die Abtretung denken)
2. Vertragsähnlich (vor allem culpa in contrahendo, §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB, Geschäftsführung ohne Auftrag, §§ 670 ff. BGB, Ansprüche aus § 179 I, II BGB und § 122 I BGB), auch quasi-vertraglich genannt
3. Dinglich (insbesondere an die Sperrwirkung des EBV denken)
4. Bereicherungsrechtlich
5. Deliktsrechtlich
IX. Ausformulieren der Lösung unter

    • Beachtung des Gutachtenstils (Obersatz, Definition, Subsumtion, Ergebnis), bei Anfängerklausuren immer, bei Examensklausuren nur bei problematischen Punkten;
    • Heranziehung der juristischen Auslegungsmethoden;
    • genauem Zitieren der maßgeblichen Normen;
    • Verwendung klarer, präziser Sprache und
    • Nennung der wichtigsten Fachbegriffe (keine Umschreibungen);
    • Verwendung lesbarer Schrift (weder schmieren noch malen, letzteres kostet zu viel Zeit);
    • Beachtung der Schwerpunktsetzung.

Tipp zum Zeitmanagement: Wenn ihr mit dem Ausformulieren der Lösung beginnt, solltet ihr in zweistündigen Anfängerklausuren noch ca. 80-90 Minuten Zeit haben, in einer fünfstündigen Examensklausur noch ca. 2,5-3,5 Stunden.
X. Gegenchecken der Lösung auf Fehler (nur, wenn noch Zeit sein sollte)

21.11.2019/0 Kommentare/von Dr. Sebastian Rombey
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Sebastian Rombey https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Sebastian Rombey2019-11-21 08:37:502019-11-21 08:37:50Zehn Merkposten zur Erstellung eines Rechtsgutachtens
Redaktion

Zivilrecht II – April 2019 – NRW – 1. Staatsexamen

Examensreport, Examensvorbereitung, Lerntipps, Nordrhein-Westfalen, Sachenrecht, Startseite, Zivilrecht

Nachfolgend erhaltet ihr ein Gedächtnisprotokoll zur Examensklausur Zivilrecht II, 1. Staatsexamen, NRW, April 2019. Ergänzungen und Korrekturanmerkungen sind wie immer gerne gesehen. Wir danken sehr herzlich für die Zusendung.
 
Unser Examensreport lebt von Eurer Mithilfe. Deshalb bitten wir Euch, uns Gedächtnisprotokolle Eurer Klausuren zuzuschicken, damit wir sie veröffentlichen können. Nur so können Eure Nachfolger genauso von der Seite profitieren, wie Ihr es getan habt.
 
Sachverhalt:
Der 7-jährige E wohnt bei seiner Mutter M, die das alleinige Sorgerecht hat. Zu seinem Vater V hat er nur noch gelegentlich Kontakt. Sein wohlhabender Opa O verstirbt Mitte 2018 und hinterlässt ein wirksames Testament, indem er bestimmt, dass der V „alles“ haben solle. Der E hingegen soll eine 200 EUR-Münze erhalten. Eine limitierte Auflage der Münze wurde 2002 auf den Markt gebracht. Zwar entspricht ihr Wert genau 200 EUR, sie wird jedoch aufgrund ihres hohen Sammlerwertes, nicht als Zahlungsmittel verwendet. Unter Sammlern hat sie einen Marktwert von 2800 EUR.
Der E, der den Wert der Münze nicht einschätzen kann, nimmt die Münze zum Spielen mit zum Spielplatz. Hier wird er von dem volljährigen A beobachtet. Der A fragt den E, ob er sich die Münze mal ausleihen könne. Sein Vater sei – wie er unrichtigerweise erklärt – Experte für solche Münzen. Er würde sich freuen, die Münze mal zu betrachten. Der E kennt den A nicht, glaubt ihm aber und händigt dem A deswegen die Münze aus. Er glaubt, er werde die Münze, wie vom A angekündigt, am nächsten Tag zurückerhalten. Dies ist jedoch nicht die Absicht des A.
Am gleichen Tag sucht A dann den Münzhändler B e.K. auf. A und B vereinbaren, dass der B den Wert der Münze innerhalb der nächsten drei Tagen schätzen soll, bevor A sich bereit erklärt, die Münze an den B zu verkaufen. Die Münze bleibt entsprechend bei dem B.
Am nächsten Tag betritt der Münzhändler C e.K. das Geschäft des B. Er sieht die Münze und erklärt daraufhin, dass er die Münze gerne kaufen wolle. Der objektive Wert der Münze ist, wie von dem B richtig geschätzt, 2800 EUR. Der B erklärt, dass er nicht Eigentümer der Münze sei, jedoch ermächtigt ist, die Münze zu verkaufen. Solche Geschäfte haben zwischen C und B in der Vergangenheit bereits häufiger stattgefunden. Zwar hat der B den A nicht gefragt, ob er die Münze endgültig verkaufen wolle, er geht jedoch davon aus, dass ein Verkauf der Münze in seinem Interesse sei. Entsprechend verkauft der die Münze für 3000 EUR in eigenem Namen auf fremde Rechnung an den C. Die Münze wird übergeben.
 
Die M verlangt die Münze nun von dem C heraus. Zu Recht?
 
Abwandlung:
Der A erhält die Münze wie im Ausgangsfall. Diesmal verkauft er die Münze jedoch für 3000 EUR auf dem Schwarzmarkt an einen ihm nicht bekannten Hehler, der die Münze wiederum an einen Unbekannten veräußert. Der E verlangt, vertreten durch die M, 3000 EUR Verkaufserlös, jedenfalls aber den objektiven Wert in Höhe von 2800 EUR. Zu Recht?
 

03.06.2019/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2019-06-03 09:20:552019-06-03 09:20:55Zivilrecht II – April 2019 – NRW – 1. Staatsexamen
Redaktion

Zivilrecht III – April 2019 – NRW – 1. Staatsexamen

Arbeitsrecht, Examensreport, Examensvorbereitung, Lerntipps, Nordrhein-Westfalen, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Zivilrecht

Nachfolgend erhaltet ihr ein Gedächtnisprotokoll zur Examensklausur Zivilrecht III, 1. Staatsexamen, NRW, April 2019. Ergänzungen und Korrekturanmerkungen sind wie immer gerne gesehen. Wir danken sehr herzlich für die Zusendung.
 
Unser Examensreport lebt von Eurer Mithilfe. Deshalb bitten wir Euch, uns Gedächtnisprotokolle Eurer Klausuren zuzuschicken, damit wir sie veröffentlichen können. Nur so können Eure Nachfolger genauso von der Seite profitieren, wie Ihr es getan habt.
 
Fall:
Der A ist seit 2012 als Erzieherbei der KiTa GmbH beschäftigt. Die Geschäftsführerin der GmbH ist die G. Neben dem A arbeiten noch vier Erzieherinnen und ein weiterer Erzieher bei der KiTa GmbH. Im November 2018 tauchen auf der Plattform „Instaphoto“ Bilder von einem nackten Mann in den Räumlichkeiten der KiTa auf. Um welche Person es sich handelt, kann auf den ersten Blick nicht eindeutig festgestellt werden. Der Statur nach kann es sich um den A handeln, nicht jedoch um den anderen männlichen Erzieher. In dem Zeitraum, in dem das Foto entstanden sein muss, fanden ebenfalls Bauarbeiten in der KiTa statt. Bauarbeiter hätten entsprechend auch zu jeder Tages- und Nachtzeit Zutritt zu den Räumen gehabt. Allein der A steht jedoch unter Verdacht. Die G leitet sofort Ermittlungen ein und stellt den A zunächst zum 15.11.2018 von der Arbeit frei. Er soll so lange zuhause bleiben, bis sich der Verdacht aufgelöst hat. Die Eltern der Kinder sind jedoch mit diesem Vorgehen nicht einverstanden. Die Hälfte der Eltern kündigen an, ihre Kinder von der KiTa abzumelden, sollte der A nicht unverzüglich gekündigt werden. Auch die übrigen ErzieherInnen kündigen an, dass ihnen der Stress bzgl. des Fotos so sehr zu Gemüte schlage, dass die G mit einer Erkrankung ihrerseits zu rechnen habe. Ohne dem A eine Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben zu haben, bringt die G am 30.11.2019 ein Kündigungsschreiben in das Büro der Ehefrau des A. Die Ehefrau übergibt dem A das Schreiben noch am Abend desselben Tages. In dem Schreiben kündigt die G den A fristlos zum 1.12.2019. Hiergegen möchte der A vorgehen. Er erhebt form- und fristgemäß eine Kündigungsschutzklage.
 
Frage 1: Wie wird das zuständige Arbeitsgericht entscheiden (Die Zulässigkeit ist nicht zu prüfen)?
 
Frage 2: Es sei anzunehmen, dass die Kündigung unwirksam war. Dies entscheidet das Gericht am 28.2.2019. Hat der A Anspruch auf Lohn vom 1.12.2018 bis zum 28.2.2019, wenn anzunehmen ist, dass der A der KiTa während der ganzen Zeit ferngeblieben ist?
 
Fallfortsetzung:
Dem A wird nicht gekündigt. Er wird jedoch ebenfalls am 15.11.2018 freigestellt. Die G fordert den A auf, den Schlüssel für die KiTa-Räumlichkeiten unverzüglich in der KiTa abzugeben. Hiermit ist der A jedoch nicht einverstanden. Zwar geht er davon aus, dass er zur Herausgabe des Schlüssels verpflichtet ist, er sieht es jedoch nicht ein, hierfür zur KiTa zu fahren. Vielmehr ist er der Meinung, dass die G den Schlüssel bei ihm abholen müsse. Die G fordert den A am 20.11.2018 erneut auf, ihr den Schlüssel in die KiTa zu bringen. Der A weigert sich erneut. Die G spielt mit dem Gedanken die Schließanlage der KiTa auszutauschen. Hierbei hätte sie Kosten i.H.v. 2000 EUR. Schlussendlich entscheidet sie sich jedoch gegen den Austausch. Die 2000 EUR soll der A jedoch trotzdem zahlen.
 
Frage 3: Hat die KiTa GmbH, vertreten durch die G, einen Anspruch i.H.v. 2000 EUR?
 
Fallfortsetzung:
Im Streit um die Kündigung vor dem zuständigen Arbeitsgericht, wird am 28.2.2019 ein Vergleich geschlossen. In dem wird festgehalten, dass der A bis zum 15.4.2019 nicht zur Arbeit erscheinen solle, weiterhin jedoch für diesen Zeitraum den Lohn erhalte. Er dürfe in der Zwischenzeit keine andere Tätigkeit wahrnehmen, solle jedoch gerade die Zeit nutzen, um eine neue Stelle zu finden. Sollte er eine Stelle vor dem 15.4.2019 gefunden haben, sei dies der KiTa GmbH fünf Tage vor dem neuen Arbeitsbeginn mitzuteilen. Die Lohnzahlung werde dann entsprechend eingestellt. Am 7.3.2019 findet der A tatsächlich eine geeignete Stelle, bewirbt sich und erklärt der G, er werde zum 15.3.2019 einer neuen Tätigkeit nachgehen. Am 10.3.2019 erhält der A jedoch für ihn sehr unerwartet eine Absage. Daraufhin möchte er von der KiTa GmbH auch weiterhin seinen Lohn erhalten. Dieser könne durch seine Ankündigung einen neuen Arbeitgeber gefunden zu haben, nicht erloschen sein. Sein Anspruch bestehe weiterhin, da der geschlossene Vergleich ohnehin unwirksam sei. Die angeführte „Ankündigungsfrist“ stehe im Widerspruch mit den gesetzlichen Kündigungsfristen. Er wendet sich an die Rechtsanwälten R mit der Bitte um Rat, da er davon ausgeht einen Anspruch auf Zahlung seines Lohns vom 15.3.2019 bis zum 15.4.2019 zu haben.
 
Frage 4: Was wird die R ihm mitteilen?
 
 

17.05.2019/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2019-05-17 09:30:102019-05-17 09:30:10Zivilrecht III – April 2019 – NRW – 1. Staatsexamen
Redaktion

Strafrecht – April 2019 – NRW – 1. Staatsexamen

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Der A ist in Geldnot. Um seine Situation zu verbessern, entschließt er sich, zusammen mit seinem Komplizen B, den 11-jährigen Sohn (S) des Millionärs V zu entführen und Lösegeld zu fordern. Der A lauert dem S auf, schlägt ihn von hinten mit einem gezielten Schlag nieder, sodass der S bewusstlos wird. A trägt den Jungen zum Auto und packt ihn in den Kofferraum. Er fährt mit dem Auto zu einer nahegelegenen Hütte in einem Wald. Der S ist die ganze Zeit bewusstlos, hiervon geht der A auch aus. An der Hütte ist der B. A und B schließen den S in die Hütte ein, hier kommt der S nach kurzer Zeit wieder zu sich. A und B verpflegen den S abwechselnd. Eine Woche später meldet sich der A, wie vorher mit B abgesprochen, bei dem V und verlangt von diesem 1 Mio EUR, wenn dieser seinen Sohn lebend wiedersehen möchte. Die Übergabe des Geldes sowie die Freilassung des Jungen sollten auf einer Lichtung in der Nähe der Hütte stattfinden.
Der V reagiert jedoch anders als erwartet. Er entscheidet sich, das Lösegeld nicht zu zahlen. Vielmehr lässt er eine Aufnahme im Fernsehen veröffentlichen, in der er 1 Mio EUR „Kopfgeld“ an denjenigen verspricht, der ihm den Täter „tot oder lebendig“ bringt. Daraufhin bekommt es der B mit der Angst zu tun. Er eilt zur Hütte und lässt den S laufen. Der S, der um sein Leben fürchtet, eilt in den Wald hinein, stolpert und stürzt in eine Schlucht. Er stirbt sofort. Der A, der von dem Vorgang nichts mitbekommt hat, ist entschlossen, an seinem Plan festzuhalten und den V erneut zu kontaktieren. Er möchte an sein Mitgefühl appellieren, um so doch noch an das Lösegeld zu kommen. Als er zur Hütte geht, sieht er jedoch den Körper des S und ist erschrocken. Er erkennt jetzt, dass er sein Ziel, das Lösegeld von dem V zu bekommen, unter keinen Umständen erreichen kann. Er fällt entsprechend den Entschluss, den B zu töten. Er will dann seine Leiche zum V bringen und erklären, er habe den B entdeckt, wie er den toten S begrub. Plangemäß tötet der A den B mit einer Schrotflinte. Bei der Tötung geht es dem A nicht vorwiegend darum, dass Lösegeld zu erhalten, hauptsächlich will er nicht als Täter entdeckt werden. Der A bringt die Köper des S und des B zum V. Der V ist von dem Anblick seines Sohnes zu tiefst erschüttert und händigt dem A das „Kopfgeld“ aus.
 
Wie haben sich A und V strafbar gemacht?
 
§ 140, § 225, § 240 StGB sind ausgeschlossen.
 

10.05.2019/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2019-05-10 09:30:202019-05-10 09:30:20Strafrecht – April 2019 – NRW – 1. Staatsexamen
Dr. Matthias Denzer

Examensrelevante Rechtsprechung im Überblick – Zivilrecht (Oktober 2018 – März 2019) – Teil 2

Lerntipps, Startseite, Verschiedenes

Dieser Beitrag setzt den Rechtsprechungsüberblick im Zivilrecht von Oktober 2018 bis März 2019 fort. Teil 1 des Beitrags findet ihr hier.
 
BGH, Beschluss v. 08.01.2019 – VIII ZR 225/17
„VW-Abgasskandal“: Abschalteinrichtung als Sachmangel
Zunächst stellte der BGH fest, dass der Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung ein Mangel i.S.d. § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB ist:

„Ein Fahrzeug ist nicht frei von Sachmängeln, wenn bei Übergabe an den Käufer eine – den Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduzierende – Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 VO 715/2007/EG installiert ist, die gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO 715/2007/EG unzulässig ist.
Dies hat zur Folge, dass dem Fahrzeug die Eignung für die gewöhnliche Verwendung im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB fehlt, weil die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde (§ 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung – FZV) besteht und somit bei Gefahrübergang der weitere (ungestörte) Betrieb des Fahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr nicht gewährleistet ist.“ (Leitsätze 1a und 1b)

Eine Nacherfüllung durch Nachlieferung eines gleichwertigen Neuwagens nach § 439 Abs. 1, 2. Alt BGB soll grundsätzlich möglich sein. Auch ein Modellwechsel (im konkreten Fall von einem VW Tiguan I auf einen VW Tiguan II) steht dem nicht entgegen:

„Bei der durch interessengerechte Auslegung des Kaufvertrags (§§ 133, 157 BGB) vorzunehmenden Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der vom Verkäufer übernommenen Beschaffungspflicht ist zu berücksichtigen, dass die Pflicht zur Ersatzbeschaffung gleichartige und gleichwertige Sachen erfasst. Denn der Anspruch des Käufers auf Ersatzlieferung gemäß § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB richtet sich darauf, dass anstelle der ursprünglich gelieferten mangelhaften Kaufsache nunmehr eine mangelfreie, im Übrigen aber gleichartige und – funktionell sowie vertragsmäßig – gleichwertige Sache zu liefern ist.
Die Lieferung einer identischen Sache ist nicht erforderlich. Vielmehr ist insoweit darauf abzustellen, ob die Vertragsparteien nach ihrem erkennbaren Willen und dem Vertragszweck die konkrete Leistung als austauschbar angesehen haben.
Für die Beurteilung der Austauschbarkeit der Leistung ist ein mit einem Modellwechsel einhergehender, mehr oder weniger großer Änderungsumfang des neuen Fahrzeugmodells im Vergleich zum Vorgängermodell nach der Interessenlage des Verkäufers eines Neufahrzeugs in der Regel nicht von Belang. Insoweit kommt es – nicht anders als sei ein Fahrzeug der vom Käufer erworbenen Modellreihe noch lieferbar – im Wesentlichen auf die Höhe der Ersatzbeschaffungskosten an. Diese führen nicht zum Ausschluss der Leistungspflicht nach § 275 Abs. 1 BGB, sondern können den Verkäufer gegebenenfalls unter den im Einzelfall vom Tatrichter festzustellenden Voraussetzungen des § 439 Abs. 4 BGB berechtigen, die Ersatzlieferung zu verweigern, sofern diese nur mit unverhältnismäßigen Kosten möglich ist.“ (Leitsätze 2b und 2c).

Siehe zu dieser besonders examensrelevanten Entscheidung auch die Besprechung von Sebastian Rombey.
 
BGH, Beschluss v. 09.01.2019 – VIII ZB 26/17
Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses und analoge Anwendung des § 566 BGB auf den Erwerb eines Miteigentumsanteils
Die Eheleute M und F waren Miteigentümer einer Mietwohnung. Diese vermieteten sie an den Mieter X. Später übertrug M seinen Miteigentumsanteil auf die F, sodass F nun Alleineigentümerin der Mitwohnung war. Im Februar 2016 kündigte F das Mietverhältnis mit X. Fraglich war nun, ob die Kündigung auch durch den M hätte ausgesprochen werden müssen oder ob § 566 Abs. 1 BGB zur Anwendung komme, mit der Folge, dass die Kündigung allein durch den Erwerber des Miteigentumsanteils ausgesprochen werden konnte. Der BGH verneinte eine direkte Anwendung des § 566 Abs. 1 BGB:

„Nach dem Wortlaut des § 566 Abs. 1 BGB muss die Veräußerung an einen Dritten erfolgen, das heißt, der veräußernde Eigentümer und der Erwerber müssen personenverschieden sein, der Erwerber darf bis zum Erwerb nicht Vermieter gewesen sein. Eine direkte Anwendung des § 566 BGB kommt damit […] nicht in Betracht.“

Auch eine analoge Anwendung komme nicht in Betracht. Für eine Analogie bedarf es einer planwidrigen Regelungslücke sowie einer vergleichbaren Interessenlage. Solch eine vergleichbare Interessenlage lehnte der BGH im vorliegenden Fall ab:

„Sinn und Zweck des § 566 BGB ist der Schutz des Mieters vor einem Verlust des Besitzes an der Wohnung gegenüber einem neuem Erwerber im Falle der Veräußerung der Mietsache. Dieser Schutzzweck ist von vornherein nicht berührt, wenn […] einer von zwei vermietenden Miteigentümern seinen Eigentumsanteil auf den anderen überträgt, so dass dieser Alleineigentümer der Mietsache wird. Denn der nunmehrige Alleineigentümer ist (weiter) an den Mietvertrag gebunden und ein Verlust des Besitzes auf Seiten des Mieters infolge des Veräußerungsvorgangs ist somit nicht zu besorgen. Damit scheidet eine analoge Anwendung des § 566 BGB auf einen solchen Fall aus.“

 
BGH, Urteil v. 15.01.2019 – II ZR 392/17
Vertretung einer Gesellschaft durch den Aufsichtsrat

„Der Aufsichtsrat vertritt die Aktiengesellschaft nicht nur bei Rechtsgeschäften, die mit einem Vorstandsmitglied selbst geschlossen werden, sondern auch bei Rechtsgeschäften mit einer Gesellschaft, deren alleiniger Gesellschafter ein Vorstandsmitglied ist.“ (Leitsatz)
„Für eine entsprechende Erweiterung des Anwendungsbereichs spricht insbesondere der Schutzzweck der Norm. § 112 Satz 1 AktG soll Interessenkollisionen vorbeugen und eine unbefangene, von sachfremden Erwägungen unbeeinflusste Vertretung der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern sicherstellen. Dabei ist es im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ausreichend, dass aufgrund der gebotenen und typisierenden Betrachtung in den von § 112 Satz 1 AktG geregelten Fällen regelmäßig die abstrakte Gefahr einer nicht unbefangenen Vertretung der Gesellschaft vorhanden ist.
Hierbei kann es keinen entscheidenden Unterschied machen, ob das Vorstandsmitglied einen Vertrag im eigenen Namen mit der Gesellschaft abschließt, oder ob Vertragspartner der Gesellschaft eine Gesellschaft ist, deren alleiniger Gesellschafter das Vorstandsmitglied ist.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)

 
BAG, Urteil v. 23.01.2019 – 7 AZR 733/16
Änderung der Rechtsprechung zur Auslegung einer Vorbeschäftigung nach § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG  
Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG (Urteil v. 06.05.2011 – 7 AZR 716/09) waren Arbeitsverhältnisse, die länger als drei Jahre zurücklagen, nicht als Vorbeschäftigung im Sinne des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG anzusehen. Nun nimmt die Rechtsprechung Abstand von einer rein zeitlichen Betrachtung:

„Allerdings können und müssen die Fachgerichte auch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch verfassungskonforme Auslegung den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einschränken, soweit das Verbot der sachgrundlosen Befristung unzumutbar ist, weil eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Das Verbot der sachgrundlosen Befristung kann danach insbesondere unzumutbar sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist.“

Siehe zu dieser Entscheidung auch die ausführliche Besprechung von Yannik Beden, M.A.
 
BAG, Urteil v. 07.02.2019 – VII ZR 63/18
Abgrenzung Schadensersatz statt und neben der Leistung im Werkvertragsrecht
Die Klägerin ließ ihr Kfz (Volvo V 70) beim Beklagten, der eine Kfz-Werkstatt betreibt, warten. Im Rahmen dieser Wartungsarbeiten tauschte der Beklagte u.a. den Keilrippenriemen, den Riemenspanner und den Zahnriemen aus. Aufgrund von Problemen mit der Lenkung bring die Klägerin circa einen Monat später ihr Kfz in die Werkstatt des L – der Beklagte hatte zu diesem Zeitpunkt Betriebsferien. In der Werkstatt des L wird festgestellt, dass der Beklagte den Keilrippenriemen nicht richtig gespannt hatte und dieser daher gerissen war. Infolgedessen sind Schäden am Riemenspanner, am Zahnriemen, der Servolenkungspumpe sowie der Lichtmaschine entstanden. Die Klägerin ließ die beschädigten Teile in der Werkstatt des L austauschen und verlangte nun von der Beklagten Schadensersatz. Es stellte sich somit die Frage, ob die entstandenen Schäden unter den Voraussetzungen des Schadensersatz statt der Leistung (§§ 634 Nr. 4, 280, 281 BGB) oder als Mangelfolgeschäden unter den Voraussetzungen des Schadensersatz neben der Leistung (§§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB) ersatzfähig seien.
Der BGH differenzierte insoweit zwischen dem Austausch von Keilrippenriemen, Riemenspanner und Zahnriemen und dem Austausch von Servolenkungspumpe und Lichtmaschine.

„Liegt eine Pflichtverletzung in Form einer mangelhaften Werkleistung vor, ist danach zwischen dem Schadensersatzanspruch statt der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB und dem Schadensersatzanspruch neben der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB zu unterscheiden. Der Schadensersatzanspruch statt der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB tritt an die Stelle der geschuldeten Werkleistung und erfasst damit das Leistungsinteresse des Bestellers. Er erfordert zunächst – vorbehaltlich der geregelten Ausnahmen – eine Fristsetzung zur Nacherfüllung, um dem Unternehmer eine letzte Gelegenheit zur Erbringung der geschuldeten Werkleistung, also zur Herstellung des mangelfreien Werks, zu geben. Demgegenüber sind gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB die über das Leistungsinteresse hinausgehenden Vermögensnachteile, insbesondere Folgeschäden an anderen Rechtsgütern des Bestellers als dem Werk selbst oder an dessen Vermögen, zu ersetzen:“

Die Schäden an Servolenkungspumpe und Lichtmaschine (diese Teile waren nicht Gegenstand der Wartungsarbeiten des Beklagten) qualifizierte er dabei als Mangelfolgeschäden, die als Schadensersatz neben der Leistung zu ersetzen sind. Das heißt: Eine Fristsetzung war insoweit nicht erforderlich:

„Mit dem Schadensersatzanspruch neben der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB kann Ersatz für Schäden verlangt werden, die aufgrund eines Werkmangels entstanden sind und durch eine Nacherfüllung der geschuldeten Werkleistung nicht beseitigt werden können. Hiervon erfasst sind mangelbedingte Folgeschäden, die an anderen Rechtsgütern des Bestellers oder an dessen Vermögen eintreten. […]
Von […] Schäden, die im Zuge der Nacherfüllung zwangsläufig entstehen, sind diejenigen Schäden an anderen Rechtsgütern des Bestellers oder an dessen Vermögen zu unterscheiden, die durch die mangelhafte Werkleistung verursacht wurden. Sie werden von der Nacherfüllung nicht erfasst, sondern können nur Gegenstand des – verschuldensabhängigen – Schadensersatzanspruchs gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB sein.“

Die Nacherfüllung auch auf Mangelfolgeschäden zu erstrecken – und in der Folge einen Schadensersatzanspruch als Schadensersatz statt der Leistung zu qualifizieren – würde „zu einer nicht gerechtfertigten Einschränkung des Bestellers führen, wenn er bei mangelbedingten (engen) Folgeschäden nicht mehr entscheiden könnte, durch wen sie beseitigt werden sollen. […]Den Interessen des Unternehmers wird in Bezug auf Folgeschäden durch das in § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB geregelte Verschuldenserfordernis hinreichend Rechnung getragen.“ (Nachweise in Zitat ausgelassen)
Die Kosten für den Austausch des Keilrippenriemens, des Riemenspanners und des Zahnriemens qualifizierte das Gericht als Schadensersatz statt der Leistung.

„Der Schadensersatzanspruch statt der Leistung gemäß § 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB tritt an die Stelle der geschuldeten Werkleistung und erfasst das Leistungsinteresse des Bestellers. Er knüpft daran an, dass eine ordnungsgemäße Nacherfüllung nicht erfolgt ist. Sein Anwendungsbereich bestimmt sich damit nach der Reichweite der Nacherfüllung. Da die Nacherfüllung gemäß § 634 Nr. 1, § 635 BGB auf Herstellung des geschuldeten Werks gerichtet ist, bestimmt dieses die Reichweite der Nacherfüllung. Die geschuldete Werkleistung ist dabei im Wege der Vertragsauslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Die Nacherfüllung erfasst danach die Beseitigung der Mängel des geschuldeten Werks, die auf einer im Zeitpunkt der Abnahme vorhandenen vertragswidrigen Beschaffenheit des Werks beruhen.“

Damit wäre hinsichtlich der Schäden an Keilrippenriemen, Riemenspanner und Zahnriemen eine Fristsetzung grundsätzlich erforderlich gewesen. Eine solche hatte die Klägerin nicht gesetzt. Der BGH stellte jedoch fest, dass eine Fristsetzung nach § 281 Abs. 2 BGB entbehrlich sei, da besondere Umstände vorlägen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs rechtfertigten:

„Solche Umstände sind hier zu bejahen. Danach besteht ein besonderes Interesse der Klägerin an einer einheitlichen Reparatur, bei der die erforderlichen Austauscharbeiten im Zuge der Beseitigung der wirtschaftlich im Vordergrund stehenden Folgeschäden an der Lichtmaschine und der Servolenkung miterledigt werden. Demgegenüber tritt das – grundsätzlich bestehende – Interesse des Beklagten an der Möglichkeit einer Nacherfüllung betreffend Keilrippenriemen, Riemenspanner und Zahnriemen zurück […].

 
BAG, Urteil v. 07.02.2019 – 6 AZR 75/18
Gebot fairen Verhandelns bei Aufhebungsverträgen

„Ein Aufhebungsvertrag kann […] unwirksam sein, falls er unter Missachtung des Gebots fairen Verhandelns zustande gekommen ist. […]
Dieses Gebot ist eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht. Sie wird verletzt, wenn eine Seite eine psychische Drucksituation schafft, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners über den Abschluss eines Aufhebungsvertrags erheblich erschwert. Dies könnte hier insbesondere dann der Fall sein, wenn eine krankheitsbedingte Schwäche der Klägerin bewusst ausgenutzt worden wäre. Die Beklagte hätte dann Schadensersatz zu leisten. Sie müsste den Zustand herstellen, der ohne die Pflichtverletzung bestünde (sog. Naturalrestitution, § 249 Abs. 1 BGB). Die Klägerin wäre dann so zu stellen, als hätte sie den Aufhebungsvertrag nicht geschlossen. Dies führte zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses.“ (Pressemitteilung das BAG, Nr. 6/19 v. 07.02.2019)

Siehe zu dieser besonders examensrelevanten Entscheidung auch die ausführliche Besprechung von Yannik Beden, M.A.
 
BGH, Urteil v. 02.04.2019 – VI ZR 13/18

„Weiterleben“ als Schaden
Ärzte haften grundsätzlich nicht, wenn sie einen Patienten länger als medizinisch sinnvoll am Leben erhalten und somit sein Leiden verlängern.
Geklagt hatte der Sohn eines an fortgeschrittener Demenz leidenden Patienten. Durch künstliche Ernährung sei das krankheitsbedingte Leiden seines Vaters verlängert worden; die Ärzte hätten das Therapieziel dahingehend ändern sollen, dass das Sterben des Patienten durch die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen zugelassen werde. Der Kläger machte Schmerzensgeld aus ererbtem Recht sowie den Ersatz von Behandlungs- und Pflegeaufwendungen geltend.

„Nach Auffassung des BGH steht dem Kläger kein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes zu. Dabei könne dahinstehen, ob der Beklagte Pflichten verletzt habe. Denn jedenfalls fehle es an einem immateriellen Schaden. Hier stehe der durch die künstliche Ernährung ermöglichte Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingten Leiden dem Zustand gegenüber, wie er bei Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Das menschliche Leben sei ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert stehe keinem Dritten zu. Deshalb verbiete es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten möge mit der Folge, dass eine lebenserhaltende Maßnahme gegen seinen Willen zu unterbleiben habe, verbiete die Verfassungsordnung aller staatlichen Gewalt einschließlich der Rechtsprechung ein solches Urteil über das Leben des betroffenen Patienten mit der Schlussfolgerung, dieses Leben sei ein Schaden. 
Dem Kläger stehe auch kein Anspruch auf Ersatz der durch das Weiterleben des Patienten bedingten Behandlungs- und Pflegeaufwendungen zu. Schutzzweck etwaiger Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen sei es nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden seien, zu verhindern. Insbesondere dienten diese Pflichten nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.“ Pressemitteilung des BGH Nr. 40/2019 v. 02.04.2019

Siehe zu dieser besonders examensrelevanten Entscheidung auch die ausführliche Besprechung von Charlotte Schippers. 
 
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15.04.2019/1 Kommentar/von Dr. Matthias Denzer
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