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Schlagwortarchiv für: informationelle Selbstbestimmung

Gastautor

BVerfG ändert seine Rspr. zu automatisierten Kennzeichen-Kontrollen

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite

Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag von Tobias Vogt veröffentlichen zu können. Der Autor hat an der Universität Bonn Jura studiert und ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter bei CMS Hasche Sigle.
In einer aktuellen Entscheidung (Beschl. v. 18.12.2018, Az. 1 BvR 142/15) ändert das Bundesverfassungsgericht seine Rspr. zur automatischen Kennzeichenerfassung und bejaht nun auch bei sog. „unechten Treffern“ und sogar bei „Nichttreffer“ einen Eingriff, obwohl es im Jahr 2008 (Beschl. v. 11.03.2008, Az. 1 BvR 2074/05) die Eingriffsschwelle in diesen Fällen noch nicht überschritten sah. Die Entscheidung ist von extrem hoher Examensrelevanz und wird mit Sicherheit in naher Zukunft Gegenstand von juristischen Prüfungen sein. Denn die Hauptprobleme liegen in der Entscheidung, ob ein Grundrechtseingriff vorliegt, sowie in der Prüfung der Verhältnismäßigkeit und betreffen somit Basics des Verfassungsrechts. Die Thematik kann zudem nicht nur in eine verfassungsrechtliche Klausur – als Verfassungsbeschwerde oder Normkontrolle – sondern auch in Form einer verwaltungsrechtlichen Unterlassungsklage geprüft werden.
I. Sachverhalt (vereinfacht)
Im bayrischen Polizeiaufgabengesetz (PAG) befinden sich Regelungen (Art. 33, 13 und 38 PAG), die die Polizei zu einer automatisierten Kennzeichenerfassung ermächtigen. An verschiedenen Kontrollstellen im Land Bayern werden auf dieser Grundlage die Kennzeichen der vorbeifahrenden Fahrzeuge abfotografiert und digitalisiert mit Nummernschildern aus Fahndungsdateien abgeglichen. Der Abgleich erfolgt grundsätzlich automatisch. Ergibt der Abgleich keinen Treffer, so werden die Daten automatisch und unverzüglich gelöscht („Nichttreffer“). Sofern das Programm einen Treffer meldet, wird das Bild temporär gespeichert und von einem Polizeibeamten überprüft, ob es tatsächlich mit dem Kennzeichen aus der Fahndungsdatei übereinstimmt. Denn in einigen Fällen kommt es aufgrund einer fehlerhaften Erfassung fälschlicher Weise zu einer Treffermeldung („unechter Treffer“). Dann wird der gesamte Vorgang unverzüglich nach der Überprüfung gelöscht. Bestätigt die Überprüfung einen „echter Treffer“, so werden die Daten gespeichert und gegebenenfalls weitere polizeiliche Maßnahmen in die Wege geleitet. Weder Fahrzeughalter noch Fahrzeugführer werden über die Kennzeichenkontrolle informiert.
II. Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG
 Der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist eröffnet. So führt das BVerfG aus:
„Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trägt Gefährdungen und Verletzungen der Persönlichkeit Rechnung, die sich für den einzelnen, insbesondere unter den Bedingungen moderner Datenverarbeitung, aus informationsbezogenen Maßnahmen ergeben. Dieses Recht flankiert und erweitert den grundrechtlichen Schutz von Verhaltensfreiheit und Privatheit; es lässt ihn schon auf der Stufe der Gefährdung des Persönlichkeitsrechts beginnen. Eine derartige Gefährdungslage kann bereits im Vorfeld konkreter Bedrohungen von Rechtsgütern entstehen.“ Der Schutzumfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beschränkt sich nicht auf sensible Informationen. „Auch der Umgang mit personenbezogenen Daten, die für sich genommen nur geringen Informationsgehalt haben, kann, je nach seinem Ziel und den bestehenden Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten, grundrechtserhebliche Auswirkungen auf die Privatheit und Verhaltensfreiheit des Betroffenen haben. Insofern gibt es unter den Bedingungen der elektronischen Datenverarbeitung kein schlechthin, also ungeachtet des Verwendungskontextes, belangloses personenbezogenes Datum mehr“. So können die Kennzeichen, auch ohne dass sie selbst sensible Informationen enthalten, den jeweiligen Haltern mit Name, Anschrift und weiteren Informationen zuordnen werden. Der Umstand, dass die erfassten Daten öffentlich zugänglich sind, lässt den Schutz nicht entfallen. Denn auch in der Öffentlichkeit schützt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung den Einzelnen vor einer automatisierten Informationserhebung.
III. Eingriff
 Wichtig: Der Vorgang der automatisierten Kennzeichenkontrolle umfasst mehrere Einzelmaßnahmen die jeweils für sich einen Eingriff darstellen und daher zwingend separat zu prüfen sind! Sonst droht Punktabzug wegen unsauberer und undifferenzierter Prüfung. Insbesondere ist zwischen Datenerhebung, Speicherung und Verwendung zu unterscheiden. Bei einem datenabgleich stellen die Erfassung und der Abgleich der Daten je einen einzelnen Grundrechtseingriff dar.
Das BVerwG lehnte noch im Jahr 2014 unter Verweis auf die bisherige Rechtsprechung des BVerfG bei „Nichttreffern“ und „unechten Treffern“ einen Eingriff ab. Nun bejaht das BVerfG jedoch auch in diesen beiden Konstellationen einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zwar hält das BVerfG an seiner Formal fest, dass es an der Eingriffsqualität fehle, „sofern Daten ungezielt und allein technikbedingt zunächst miterfasst, aber nach der Erfassung technisch wieder anonym, spurenlos und ohne Erkenntnissinteresse der Behörden ausgesondert werden“, wobei maßgeblich ist, ob sich das behördliche Interesse an den betroffenen Daten bereits hinreichend verdichtet hat. Nun sieht das BVerfG eine solche Verdichtung als gegeben an: „Wenn gezielt mittels Datenabgleich Personen im öffentlichen Raum daraufhin überprüft werden, ob sie oder die von ihnen mitgeführten Sachen polizeilich gesucht werden, besteht an deren Daten auch dann ein verdichtetes behördliches Interesse, wenn diese Daten im Anschluss an die Überprüfung unmittelbar wieder gelöscht werden. […]Die Einbeziehung der Daten auch von Personen, deren Abgleich letztlich zu Nichttreffern führt, erfolgt nicht ungezielt und allein technikbedingt, sondern ist notwendiger und gewollter Teil der Kontrolle und gibt ihr als Fahndungsmaßnahme erst ihren Sinn. In der ex ante-Perspektive der Behörde, die für die Einrichtung einer Kennzeichenkontrolle maßgeblich ist, besteht ein spezifisch verdichtetes Interesse daran, die Kennzeichen aller an der Kennzeichenerfassungsanlage vorbeifahrenden oder sonst in die Kontrolle einbezogenen Fahrzeuge zu erfassen, weil es gerade um deren Kontrolle selbst geht.“ Auch wenn den Betroffenen im Falle eines „Nichttreffers“ wegen der sofortigen Löschung weder Unannehmlichkeiten noch Konsequenzen erwachsen, ist hier die Eingriffsschwelle überschritten. Denn „zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden, hinsichtlich ihrer Rechtschaffenheit Rechenschaft ablegen zu müssen und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein“.
IV. Gesetzgebungskompetenz des Landes
Im Rahmen der Prüfung der formellen Verfassungsmäßigkeit der Regelungen über die automatisierte Kennzeichenerfassung ist zu problematisieren, dass die Regelungen sowohl dem präventiven Zweck der Gefahrenabwehr als auch dem repressiven Zweck der Strafverfolgung dienen. Da der Bundesgesetzgeber insbesondere mit der StPO von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Strafverfolgung aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG Gebrauch gemacht hat, ist für diese Materie die Gesetzgebungskompetenz der Länder gesperrt. Im Falle einer doppelfunktionalen Regelung, die sowohl der Gefahrenabwehr als auch der Strafverfolgung dient, kommt es auf den Schwerpunkt des verfolgten Zwecks an. Lässt sich ein Schwerpunkt nicht eindeutig ermitteln, so steht dem Gesetzgeber ein Entscheidungsspielraum für die Zuordnung zu.
V. Verhältnismäßigkeit
Neben der Prüfung des Eingriffs liegt – wie so oft – in der Verhältnismäßigkeit ein weiterer Schwerpunkt des Falls.
Das BVerfG stufte die Regelungen im PAG für teilweise unverhältnismäßig ein und stellte besondere Voraussetzungen für eine verhältnismäßige Regelung der automatisierten Kennzeichenkontrolle auf:
– Die Regelung bedarf grundsätzlich eines objektiv bestimmten und begrenzten Anlass. Beliebige Kontrollen zu beliebiger Zeit und an beliebigem Ort ins Blaue hinein sind mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht zu vereinbaren. Der Gesetzgeber kann auch auf typisiert umschriebene Gefahrenlagen abstellen oder Kontrollen erlauben, wenn im Einzelfall oder typischerweise eine spezifisch gesteigerte Wahrscheinlichkeit besteht, gesuchte Personen oder Sachen aufzufinden.
– Aufgrund des erheblichen Eingriffsgewichts automatisierter Kennzeichenkontrollen dürfen sie nur zum Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichen Gewicht oder sonst einem vergleichbar gewichtigem Öffentlichen Interesse erfolgen. Zu den in Frage kommenden Rechtsgütern zählen Leib, Leben und Freiheit der Person, der Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder sowie nicht unerhebliche Sachwerte.
– Der Datenabgleich ist auf solche Fahndungsbestände zu beschränken, die für den jeweiligen Zweck der Kennzeichenkontrolle Bedeutung haben können.
– Eine aufsichtsrechtliche Kontrolle ist geboten.
– Eine Information über die Kennzeichenerfassung und den Kennzeichenabgleich ist anders als bei heimlichen Überwachungsmaßnahmen von höherer Intensität nicht erforderlich. Es reicht aus, dass die Betroffenen nur im Rahmen etwaiger Folgemaßnahmen von den Kontrollen erfahren.
– Es bedarf einer nachvollziehbaren und überprüfbaren Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen für den Einsatz der automatisierten Kennzeichenkontrolle. Dadurch wird die Behörde selbst gemäßigt und zudem sowohl eine aufsichtsrechtliche sowie gerichtliche Kontrolle erleichtert.
– Schließlich muss sich die Ausgestaltung solcher Kontrollen unter Berücksichtigung aller sie kennzeichnenden Umstände auch in einer Gesamtabwägung als verhältnismäßig erweisen.
In die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat einerseits einzufließen, dass die Kennzeichenkontrolle im öffentlichen Raum stattfindet und die erfassten Kennzeichen für jedermann sichtbar sind. Zudem lässt sich der Bezug zu personenbezogenen Daten nur mittelbar herstellen. Auch ist die Kontrolle gegenüber der ganz überwiegenden Zahl der Betroffenen mit keinerlei unmittelbar beeinträchtigenden Folgen verbunden und hinterlässt keine Spuren. Dass der Datenabgleich in Sekundenschnelle durchgeführt wird und die erfassten Daten im Nichttrefferfall sofort vollständig wieder gelöscht werden, ohne einer Person bekannt zu werden, nimmt dem Eingriff erheblich an Gewicht.
Das Eingriffsgewicht erhöhend ist dagegen zu berücksichtigen, dass es sich um Eingriffe mit extrem großer Streubreite handelt, die praktisch jeden treffen können. Belastend fällt auch die Heimlichkeit der Maßnahme ins Gewicht. Es kann ein Gefühl des Überwachtwerdens entstehen.
VI. Prozessuale Probleme
Im Rahmen einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Regelungen, die zu automatisierten Kennzeichenkontrollen ermächtigen, sind die Beschwerdebefugnis sowie die Subsidiarität problematisch.
Die Beschwerdebefugnis kann nur bejaht werden, wenn neben der Möglichkeit der Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführer auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist. Eine unmittelbare Betroffenheit liegt bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde grundsätzlich nur vor, wenn es sich um eine „self-executing“- Norm handelt, die keines Vollzugsaktes mehr bedarf, gegen den sich der Betroffene vor den Fachgerichten wehren kann. Die Heimlichkeit der Maßnahme führt aber dazu, dass der Beschwerdeführer fachgerichtlichen Schutz mangels Kenntnis von der Maßnahme nicht in die Wege leiten kann. Daher steht der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Für die Darlegung einer gegenwärtigen Selbstbetroffenheit reicht es bei heimlichen Maßnahmen mit großer Streubreite aus, dass der Beschwerdeführer möglicherweise Adressat der Maßnahme ist. Dies ist bei einer Kennzeichenkontrolle grundsätzlich jeder Halter eines Kraftfahrzeugs, der Straßen des Bundeslandes befährt.
Nach dem Grundsatz der Subsidiarität ist eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz unzulässig, wenn eine Inzidenter-Kontrolle vor den Fachgerichten dem Beschwerdeführer möglich, zumutbar und zur Entlastung des BVerfG zweckmäßig ist. Wegen der Heimlichkeit der Maßnahme ist dies dem Beschwerdeführer aber gerade nicht zumutbar.
VII. Fazit
Nach Ansicht des BVerfG stellt nun also selbst ein „Nichttreffer“ bei einer automatisierten Kennzeichenkontrolle einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass bewusst zunächst gerade sämtliche Kennzeichen erfasst werden und sich daher das behördliche Interesse an den Daten verdichtet hat. Die Kontrolle ist als solche auch ohne weitere Folgen freiheitsbeeinträchtigend, da durch die Kontrollen ein Gefühl des ständigen Überwachtwerdens entstehen kann. Ein Gesetz, das automatisierte Kennzeichenkontrollen vorsieht, kann dennoch verfassungsgemäß sein, sofern der Grundsatz der Verhältnismäßig gewahrt ist. Dazu dürfen die Kontrollen insbesondere nur zum Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichen Gewicht oder sonst einem vergleichbar gewichtigem Öffentlichen Interesse zugelassen werden.
Ändert das BVerfG seine Rechtsprechung, so ist stets von einer Examensrelevanz auszugehen. Dies gilt umso mehr, wenn die Thematik Standartprüfungsstoff wie die Frage des Eingriffs in den Schutzbereich und die Verhältnismäßigkeit beinhaltet. Diese Entscheidung sollte daher jedem Examenskandidaten bekannt sein.
 
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12.02.2019/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2019-02-12 09:39:462019-02-12 09:39:46BVerfG ändert seine Rspr. zu automatisierten Kennzeichen-Kontrollen
Dr. Yannik Beden, M.A.

Mündliche Prüfung: Tornado-Kampfjet über Demonstrantenlager

Examensvorbereitung, Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Versammlungsrecht

Anknüpfend an unsere Simulation einer mündlichen Examensprüfung im Strafrecht aus der letzten Woche soll diese Woche das Öffentliche Recht im Fokus stehen. Mit seinem Urteil vom 25.10.2017 – 6 C 46/16, NJW 2018, 716 hat sich das BVerwG zu besonders praxis- und examensrelevanten Fragestellungen des Polizeirechts sowie Versammlungsrechts geäußert. Neben klassischen Problemstellungen wie der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts und der Zulässigkeit von Gefahrerforschungsmaßnahmen bietet die Entscheidung auch Anlass, grundrechtlichen Fragestellungen vertieft nachzugehen. Zudem lässt sich der Fall – wie in der mündlichen Prüfung im Öffentlichen Recht üblich – problemlos prozessual einkleiden:  
Sehr geehrte Damen und Herren, bitte stellen Sie sich folgenden Sachverhalt vor, der einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Herbst letzten Jahres zugrunde lag:
Vom 6. bis 8. Juni 2007 findet in Heiligendamm das jährliche Gipfeltreffen der acht großen Industriestaaten (G8) statt. In Abstimmung mit dem Innenministerium soll die Bundeswehr der Landespolizei unterstützende Hilfeleistungen im Rahmen der Vorbereitung des Gipfeltreffens erbringen. Zu diesem Zwecke führt die Bundeswehr im Mai 2007 mehrere Aufklärungsflüge durch. Diverse Überflüge in der Umgebung des Austragungsortes finden statt, bei denen Infrarot- und optische Kameras zu Anfertigung von Luftbildaufnahmen eingesetzt werden. Diese sollen mögliche Erddepots erkennen sowie etwaige Manipulationen an wichtigen Straßenzügen erfassen. Am 29. Mai 2007 errichten Gegner des Gipfeltreffens in der Gemeinde Reddelich ein Camp für die Unterkunft von bis zu 5000 Personen, die an Protestaktionen teilnehmen wollen. Teilnehmerin A hält sich vom 1. bis 6. Juni 2007 in diesem Camp auf und nahm von dort aus an diversen Veranstaltungen und Versammlungen im Zusammenhang zum G8 Gipfel in Heiligendamm teil.
Am 5. Juni 2007 überfliegt ein Kampfflugzeug der Bundeswehr vom Typ Tornado gegen 10:30 Uhr das Camp. A befindet sich zu dieser Zeit auch im Lager. Aufgrund der Witterungsbedingungen beträgt die Flughöhe lediglich ca. 114 Meter. Die Kampfflugzeuge verursachen zudem einen beträchtlichen Lärm, der von allen im Camp anwesenden Teilnehmer deutlich zu hören ist. Während des Überflugs werden Aufnahmen durch Kameras angefertigt, die an dem Kampfflugzeug befestigt sind. 19 Luftbilder werden anschließend durch Bundeswehrmitarbeiter für polizeiliche Zwecke ausgewählt und zur Auswertung an die Polizeidirektion zur Auswertung übermittelt. Bei einem Teil der Aufnahmen handelt es sich um Übersichtsaufnahmen und Ausschnittsvergrößerungen, auf denen das Camp Reddelich sowie Personengruppen abgebildet sind, die sich dort aufhalten.
A ist empört über die Vorkommnisse und möchte gerichtlich geklärt wissen, dass der Überflug des Kampfjets am 5. Juni 2007 sowie die Fertigung, Weitergabe und Verwertung der Bildaufnahmen sie in ihren Rechten verletzt.   
Herr Hoprecht, die Demonstrationsteilnehmerin A möchte nun gegen den Tiefflug des Kampfflugzeugs gerichtlich vorgehen. Ist der Weg zum Verwaltungsgericht eröffnet?
Mangels einer aufdrängenden Sonderzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 Abs. 1 VwGO. Es müsste sich zunächst um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art handeln. Nach der sog. modifizierten Subjektstheorie ist eine Streitigkeit öffentlich-rechtlicher Natur, wenn die streitentscheidenden Normen dem Öffentlich Recht zuzuordnen sind. Das ist der Fall, wenn die Norm stets einen Träger öffentlicher Gewalt in seiner Funktion berechtigt oder verpflichtet. Streitentscheidend sind die Generalklausel des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (hier § 13 MVSOG) und Art. 8 Abs. 1 GG. Erstere Norm berechtigt und verpflichtet stets die Polizeibehörde als Träger öffentlicher Gewalt, Art.8 Abs. 1 GG verpflichtet jedenfalls Träger öffentlicher Gewalt, vgl. Art. 1 Abs. 3 GG. Dies gilt auch für Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG (Recht auf informationelle Selbstbestimmung). Mangels doppelter Verfassungsunmittelbarkeit ist die Streitigkeit zudem nichtverfassungsrechtlicher Art. Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich, sodass der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.  
Herr Obermüller, welche Klage ist in unserem Fall statthaft?
In Betracht kommt eine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO. Mit dieser kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden. Unter einem Rechtsverhältnis sind dabei rechtliche Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben. Die Anwendung der Rechtsnorm auf einen bestimmten Sachverhalt muss zudem zwischen den Beteiligten streitig sein.
Zum Zeitpunkt, zu dem der Kampfjet über das Camp flog, hielt sich A in diesem auf. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch Aufnahmen durch die am Flugzeug befestigten Kameras angefertigt, welche anschließend an die Polizei übermittelt wurden. Dieser Sachverhalt ist im Hinblick auf die möglicherweise berührten Grundrechte aus Art. 8 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geeignet, im Sinne eines nach § 43 Abs. 1 VwGO feststellungsfähigen Rechtsverhältnisses rechtliche Beziehungen zwischen der Polizeibehörde, der die beschriebenen Handlungen zuzurechnen sind, und der A zu begründen.
Wie sieht es mit der Klagebefugnis der A aus, Herr Wormser?
In analoger Anwendung von § 42 Abs. 2 VwGO müsste die A auch klagebefugt sein. Klagebefugt ist danach, wer durch das Handeln der Behörde möglicherweise in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt ist. Es lässt sich nicht von vornherein ausschließen, dass der Tiefflug des Tornado Kampfjets über dem Camp, in dem sich die A befand, diese in ihren grundrechtlichen geschützten Rechtspositionen aus Art. 8 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. A ist demnach klagebefugt.
Herr Hoprecht, kommen wir kurz zum Feststellungsinteresse der A.
Das berechtigte Interesse i.S.v. § 43 Abs. 1 VwGO schließt jedes als schutzwürdig anzuerkennendes Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Art ein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Feststellung geeignet ist oder jedenfalls erscheint, die Rechtsposition der Klägerin in diesen Aspekten zu verbessern. Ausreichend ist dabei, wenn die Art des mit der Klage gerügten Eingriffs die Anerkennung eines Feststellungsinteresses erfordert, also insbesondere, wenn die unmittelbare Belastung, die durch den in Rede stehenden Hoheitsakt erfolgte, sich auf eine Zeitspanne beschränkte, in der die Entscheidung des Gerichts gar nicht oder nur kaum zu erlangen gewesen wäre. Dies ist mit Blick auf die kurze Zeitspanne, in dem der Tiefflug des Kampfflugzeugs stattfand sowie einer möglichen Vorwirkung des aus Art. 8 Abs. 1 GG resultierenden Schutzes der Fall. Auf eine Wiederholungsgefahr oder ein Rehabilitationsinteresse kommt es nicht an.  
So ist es. Das soll uns für den prozessrechtlichen Teil erst einmal genügen. Kommen wir zur Begründetheit der Klage. Sie dürfen im Folgenden davon ausgehen, dass die Aufklärungsflüge der Bundeswehr der zuständigen Landespolizeibehörde als Unterstützungsleistung zugerechnet werden. Art. 87a II GG lassen wir vor außen vor. Herr Wabschke, auf welche Norm ließe sich die Maßnahme wohl stützen?
In Betracht kommt die polizeirechtliche Generalklausel, in Mecklenburg-Vorpommern also § 13 MVSOG. Danach haben die Polizei- und Ordnungsbehörden im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtgemäßem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem Einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird. Allerdings könnte es sich bei dem Demonstrantencamp auch um eine Versammlung handeln, sodass an eine Anwendung des VersG zu denken ist. Nach dem Grundsatz der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts wird das allgemeine Polizeirecht bei Maßnahmen gegen Versammlungen grundsätzlich durch die spezielleren Regelungen des VersG verdrängt.  
Da sprechen Sie einen guten Punkt an. Handelt es sich denn bei dem Demonstrantencamp um eine Versammlung?
Nach der Rechtsprechung des BVerfG handelt es sich bei Versammlungen um örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Maßgeblich ist dabei, dass die Meinungsbildung und –Äußerung mit dem Ziel stattfinden, auf die Öffentlichkeit einzuwirken. Hinsichtlich des Camps mag es zwar durchaus möglich erscheinen, dass teilweise mit an den G8 Gipfel gerichtete Protestanliegen kommunikative Anliegen und Aktivitäten stattfanden. Zum Zeitpunkt der Flugaktivitäten durch den Tornado Kampfjet geschah dies jedoch nicht. Das Camp in Reddelich war demnach als solches keine Versammlung.
Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist jedoch in zeitlicher Hinsicht nicht auf die Durchführung der Versammlung begrenzt. Vielmehr entfaltet es bereits im Vorfeld schützende Wirkung. Art. 8 Abs. 1 GG schützt deshalb auch den Vorgang des Sichversammelns, mithin auch den Zugang sowie die Abreise zu einer Versammlung. Der Aufenthalt im Camp stand in unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zu Demonstrationen, die anlässlich des Gipfeltreffens stattfinden sollen bzw. stattgefunden haben. Da auch keine alternativen Unterbringungsmöglichkeiten ersichtlich sind, war der Aufenthalt im Camp Reddelich zwingend, um an den Protesten teilnehmen zu können. Unter diesen Umständen schützt Art. 8 Abs. 1 GG bereits den Vorgang des Versammelns im Camp.
Was bedeutet das nun für unsere Ermächtigungsgrundlage, Herr Hoprecht?
Die polizeirechtliche Generalklausel umfasst nicht nur Maßnahmen, die auf die Beseitigung einer aus der ex-ante Perspektive zu bestimmenden konkreten Gefahr gerichtet sind. Ebenso zulässig sind sog. Gefahrerforschungsmaßnahmen. Diese zeichnen sich durch ihren vorläufigen Charakter aus und dienen der Aufklärung bzw. Wissensbeschaffung zur Vorbereitung weiterer polizeilicher Maßnahmen. Der Tiefflug, verbunden mit der Anfertigung von Bildaufnahmen, lässt sich als Teilakt einer Gefahrerforschungsmaßnahme der Bundeswehr, die der Polizeibehörde zuzurechnen ist, qualifizieren.
Sehr richtig, das lässt sich hören! Lassen Sie uns über die grundrechtliche Dimension des Falls sprechen. Herr Obermüller, wird in Art. 8 I GG eingegriffen?
Der Grundrechtsschutz ist nicht auf herkömmliche Eingriffe im Sinne des klassischen Eingriffsverständnisses begrenzt. Nach dem modernen Eingriffsbegriff können auch mittelbar faktische Beeinträchtigungen, die eine Ausübung grundrechtlich geschützten Verhaltens erschweren oder unmöglich machen, als Eingriff zu qualifizieren sein. Ein faktischer Eingriff in die Versammlungsfreiheit kann danach auch angenommen werden, wenn eine staatliche Maßnahme einschüchternd oder abschreckend wirkt oder geeignet ist, die freie (kollektive) Willensbildung und die Entschlussfreiheit der Personen, die sich versammlungsspezifisch betätigen, zu beeinflussen.
Blickt man auf die extreme Lärmentfaltung und den durchaus bedrohlichen Anblick der Tornado Kampfflugzeuge sowie der witterungsbedingten Tiefe, auf der die Jets flogen, ist von einem mittelbar faktischen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG auszugehen. Gleiches ergibt sich aus der Überraschungswirkung des Tiefflugs sowie des engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs zu den geplanten Demonstrationen.  
À la bonne heure, Herr Obermüller! Ein durchschnittlicher Bürger würde bei diesem angsteinflößenden Erscheinungsbild sicherlich erschrecken. Herr Wabschke, wir gehen zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs über.
Die Art und Weise der Durchführung der polizeilichen Gefahrerforschungsmaßnahme unter Berücksichtigung der konkreten Umstände muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die Maßnahme muss einen legitimen Zweck verfolgen, hierzu geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Der Überflug des Camps unter Verwendung von Kameras zur Aufnahme von diversen Bildaufnahmen beabsichtigte, festzustellen, ob etwaige Erddepots sowie Manipulationen an den für das Gipfeltreffen relevanten Straßenzügen vorhanden waren. Die Flugeinsätze und die damit verbundene bildliche Erfassung der örtlichen Gegebenheiten förderten die Durchsetzung dieser Zwecke und waren mithin geeignet. Ob mildere, gleich geeignete Mittel bestanden, muss mit Blick auf alternative Möglichkeiten zur Anfertigung der Aufnahmen beantwortet werden. Jedenfalls war es aufgrund der Witterungsbedingungen nicht möglich, die Aufnahmen bei erhöhter Flughöhe anzufertigen. Andere Flugzeugtypen, die eventuell weniger einschüchternd wirken, einsetzbar gewesen wären, kann nicht abschließend beantwortet werden. Bei der Angemessenheit der Maßnahme gilt es, die einschüchternde Wirkung, die der Tiefflug des Kampfflugzeugs auf die potentiellen Demonstrationsteilnehmer haben kann und die damit verbundene Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit der tatsächlichen Gefahrenlage sowie den Handlungsmöglichkeiten der Polizeibehörde gegenüberzustellen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Unterschreitung der Mindestflughöhe von 150 Metern auf Witterungsbedingungen zurückzuführen war, die außerhalb des Machtbereichs der Behörde liegen. Sofern die Polizeibehörde bereits Erkenntnisse über Aktivitäten von Personengruppen im Bereich des Camps hatte, die sich auf die Begehung künftiger gewaltsamer Ausschreitungen beziehen, ist auch dies in die Wertung mit einzubeziehen. Hinsichtlich der Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung ist anzumerken, dass zumindest für Art. 8 Abs. 1 GG ein rein mittelbar faktischer Eingriff vorlag, der hierüber hinaus auf die Vorfeldwirkung des durch die Versammlungsfreiheit vermittelten Schutzes beschränkt war. In der Gesamtbetrachtung war die Maßnahme auch angemessen, die Versammlungsfreiheit der A wurde nicht verletzt.   
Das lässt sich so vertreten. Schön, das soll uns für die Prüfung im Öffentlichen Recht genügen. Wie Sie sehen, ist die Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts immer wieder ein praxisrelevantes Problem. Gleiches gilt für den Versammlungsbegriff und die Reichweite von Art. 8 I GG. Der Aufenthalt in einer Unterkunft für potentielle Demonstrationsteilnehmer kann mit Blick auf die Vorwirkung der Versammlungsfreiheit von Art. 8 I GG geschützt sein, wenn eine Teilnahme an der Versammlung ohne die Unterbringungsmöglichkeit schon gar nicht zu realisieren ist. Der Tiefflug von Kampfjets über ein derartiges Demonstrantencamp ist zudem als mittelbar-faktischer Eingriff zu qualifizieren.Wer sich zum Problemfeld des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG im Zusammenhang mit den im Fall angefertigten Bildaufnahmen beschäftigen möchte, sollte die Urteilsanmerkung von Roggan, NJW 2018, 723 lesen. Vielen Dank.
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10.12.2018/4 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2018-12-10 09:00:192018-12-10 09:00:19Mündliche Prüfung: Tornado-Kampfjet über Demonstrantenlager
Gastautor

Dashcams – Einsatz von Minikameras im Straßenverkehr

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Wir freuen uns heute einen Gastbeitrag von Juliane Böcken veröffentlichen zu können.
Dashcams – Einsatz von Minikameras im Straßenverkehr
Der Einsatz von Minikameras (sog. Dashcams) im Straßenverkehr wird immer beliebter und ihre Zulässigkeit seit längerem diskutiert. Denn ihre Verwendung ist aufgrund möglicher Eingriffe in das Persönlichkeits- und Datenschutzrecht höchst bedenklich. Mittlerweile wird das Thema auch bei den Prüfern immer beliebter und erhält damit hohe Examensrelevanz – sowohl für das Erste als auch für das Zweite Examen. In der Mündlichen Prüfung ist es schon häufig gelaufen und auch für Klausuren ist es „heiß“!
Zum Hintergrund
Bei Dashcams („dash“ = engl. f. Armaturenbrett) handelt es sich um kleine Kameras, die z.B. auf dem Armaturenbrett oder der Windschutzscheibe eines Fahrzeugs angebracht werden. Während der Fahrt zeichnen sie dann das gesamte Verkehrsgeschehen und damit auch andere Verkehrsteilnehmer auf. Die Fahrer erhoffen sich dadurch regelmäßig die Erlangung eines Videobeweises, etwa für den Fall eines späteren Unfalls.
Daraus ergibt sich folgendes Problem: Die betroffenen Verkehrsteilnehmer wissen meist nicht, dass sie gefilmt und ihre Daten (wie z.B. Auto-Kennzeichen) gespeichert werden.
Entscheidungen des AG Münchens
Besondere Brisanz erhält die Diskussion um die Zulässigkeit von Dashcams auch deshalb, weil dasselbe Gericht, nämlich das Amtsgericht München, diese Frage uneinheitlich beantwortet hat. So hat das Gericht ihre Verwendung einmal für zulässig (vgl. Urt. v. 06.06.2013, Az.: 343 C 4445/13) und in einer anderen Entscheidung für unzulässig (vgl. Beschl. v. 13.08.2014, Az.: 345 C 5551/14) erachtet.
In beiden Entscheidungen hatte sich die Frage nach der Verwertbarkeit des gewonnenen Videomaterials als Beweismittel im Zivilprozess gestellt.
In der Entscheidung vom 06.06.2013 (Az.: 343 C 4445/13) hat das AG München die Verwertung einer von einem Fahrradfahrer mit einer Helmkamera aufgenommenen Videoaufzeichnung für zulässig erachtet. Nach Ansicht des Gerichts stellten die Aufzeichnungen keinen Eingriff in ein fremdes Grundrecht dar, da die Situation mit der Aufnahme von Urlaubsbildern vergleichbar sei. Zu der Zeit, als das Video aufgenommen wurde, habe der Aufnehmende damit allerdings auch noch keinen bestimmten Zweck verfolgt, so dass die Aufnahmen als verhältnismäßig anzusehen waren.
Etwa ein Jahr später in der Entscheidung vom 13.08.2014 (Az.: 345 C 5551/14) hat das Amtsgericht allerdings die Auffassung vertreten, dass die von einer in einem Pkw installierten Dashcam gemachten Aufnahmen im Zivilprozess nicht als Beweismittel verwertbar seien. Einer Verwertung würden Persönlichkeitsrechte sowie Bestimmungen des Datenschutzes und des Kunsturhebergesetzes entgegenstehen.
Zur Prüfung im Einzelnen:
Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

  1. Schutzbereich

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts i.S.d. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 GG umfasst auch das Recht am eigenen Bild. Dazu gehört die Möglichkeit, sich in der Privatsphäre und in der Öffentlichkeit frei zu bewegen, ohne befürchten zu müssen ohne Kenntnis oder Zustimmung von einer Videoaufnahme erfasst und aufgezeichnet zu werden (Balzer/Nugel NJW 2014, 1622).

  1. Eingriff

Durch die unbefugte Erstellung von Fotoaufnahmen wird in dieses Grundrecht eingegriffen. Mit Dashcams gemachte Videos ohne Einwilligung können somit grundsätzlich einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der anderen Verkehrsteilnehmer darstellen.

  1. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Ob ein solcher Eingriff ggf. gerechtfertigt ist, hängt von der Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit unter Abwägung der Interessen aller Beteiligten ab.
Das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung kann insbesondere durch konkurrierende Grundrechte Dritter eingeschränkt werden (Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 58 ff.). Als ein solches Grundrecht kommt das Interesse des Verwenders an einer fairen Handhabung des Beweisrechts in Betracht (vgl. AG München, BeckRS 2014, 16291). Dieses Interesse ist in seinem Grundsatz auch legitim, da sich gerade im Verkehrsrecht mitunter erhebliche Beweisprobleme und -schwierigkeiten ergeben können, etwa wenn Mitfahrer als Zeugen zu vernehmen sind.
Werden die Kameras zur Erlangung eines Videobeweises im Falle eines Verkehrsunfalls eingesetzt, stellt sich die Frage, ob eine Aufzeichnung während der gesamten Fahrt erforderlich ist. So wird vertreten, dass nur die Speicherung von Aufnahmen im engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Unfallereignis erforderlich ist und bei derart eingegrenzten Aufnahmen das Interesse der anderen Unfallbeteiligten an der Aufklärung des Unfallgeschehens zum Schutz zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche den kurzfristigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht überwiegen kann (Balzer/Nugel NJW 2014, 1622, 1627). Das generelle Aufnehmen des Verhaltens anderer Verkehrsteilnehmer während der gesamten Fahrt sei jedoch eingriffsintensiver. Auch nach Auffassung des Düsseldorfer Kreises (einer Aufsichtsbehörde für den Datenschutz) werden die anderen Verkehrsteilnehmer bei permanenten Aufzeichnungen zum Objekt einer Videoüberwachung gemacht, die sie ohne Anlass unter einen Generalverdacht stellen, dem sie sich nicht entziehen können (Beschl. v. 25./26.02.2014). Die Interessen der anderen Verkehrsteilnehmer dürften dann überwiegen, so dass ein Eingriff nicht gerechtfertigt wäre.
Vereinbarkeit mit dem Datenschutz
Aufnahmen aus dem Einsatz einer Dashcam können gegen § 6b Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 BDSG verstoßen. Nach dieser Vorschrift ist die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit Videoüberwachung nur zulässig, wenn sie für einen konkreten Zweck erforderlich ist und nicht andere schutzwürdige Interessen überwiegen.
Die schutzwürdigen Interessen der anderen Verkehrsteilnehmer dürften überwiegen, sofern der Hauptzweck der Aufnahmen in der Dokumentation eines möglichen Unfallhergangs besteht. Das Interesse des Autofahrers, für den theoretischen Fall eines Unfalls Aufnahmen als Beweismittel zu haben, könne den gravierenden Eingriff durch die permanente Aufzeichnung in das Persönlichkeitsrecht der Verkehrsteilnehmer nicht rechtfertigen (Beschl. d. Düsseldorfer Kreises v. 25./26.02.2014).
Verstoß gegen § 22 S. 1 KustUrhG
Die Verwendung der Autokamera kann ferner gegen § 22 S. 1 KunstUrhG verstoßen. Danach dürfen Bildnisse nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden. Ein Verstoß könnte bei einer permanenten Verwendung ohne Anlass angenommen werden (vgl. AG München, BeckRS 2014, 16291).
Eine Ausnahme kann nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 KunstUrhG für Aufnahmen bestehen, auf denen die Personen nur als Beiwerk neben einer Landschaft oder sonstigen Örtlichkeiten erscheinen.
Verwertbarkeit der Aufnahmen im Zivilprozess
Selbst wenn die Erstellung der Aufnahmen als rechtswidrig zu qualifizieren ist, muss dies nicht zwingend zu einer Unverwertbarkeit führen (Bacher in: BeckOK ZPO, § 284, Rn. 22.2). Wenn die Videoaufnahmen einer Dashcam aber in das allgemeine Persönlichkeitsrecht eingreifen oder aus datenschutzrechtlichen Gründen als unzulässig anzusehen sind, sind sie im Zivilprozess wohl nur in engen Ausnahmefällen verwertbar (vgl. auch Balzer/Nugel NJW 2014, 1622, 1627). Und das auch nur, soweit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen wird.
Zudem ist noch Folgendes zu beachten: Es besteht die Möglichkeit, dass das von dem Verwender der Kamera erlangte Beweismaterial – sofern es denn zugelassen ist – in einem Prozess auch gegen ihn verwendet werden kann (vgl. AG München, BeckRS 2013, 11584). So kann sich bei der Beweisaufnahme auch ergeben, dass der Verwender den aufgenommenen Unfall überwiegend selbst verschuldet hatte.
Fazit
Ob die Verwendung von Dashcams in Deutschland zulässig ist, ist bislang noch nicht abschließend geklärt. In der Rechtsprechung und Literatur ist dennoch eine Tendenz dahingehend zu erkennen, dass die Verwendung der Kameras mit dem Ziel einen Beweis zu erlangen – zumindest bei permanenter Aufzeichnung – wohl als unzulässig anzusehen ist. Ihr Einsatz kann jedenfalls zu erheblichen Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und Unvereinbarkeit mit dem Datenschutzrecht führen. Dies kann gegen eine Verwertbarkeit von den gewonnenen Aufnahmen im Zivilprozess sprechen. Zulässig dürfte der Einsatz der Kamera hingegen für ausschließlich private Zwecke sein, zumindest solange die Aufzeichnungen nicht veröffentlicht werden.
Denkbare Examenskonstellationen
Sowohl im Ersten als auch im Zweiten Examen kann das Thema „Dashcams“ in der Mündlichen Prüfung abgefragt werden.
Im Zweiten Examen lässt sich die dargestellte Problematik zudem insbesondere in Verkehrsunfall-Klausuren sehr gut einbauen. Da sich die Verwender der Minikameras erhoffen im Falle einer verkehrsrechtlichen Auseinandersetzung einen Videobeweis zu erlangen, ist dann zu prüfen, ob das gewonnene Videomaterial vor Gericht als Beweismittel überhaupt zulässig ist.
Aber auch im Ersten Examen ist zumindest eine kleine StPO-Zusatzfrage denkbar, bei der dann eine gute Argumentation gefragt ist.
 

02.03.2015/3 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2015-03-02 10:48:042015-03-02 10:48:04Dashcams – Einsatz von Minikameras im Straßenverkehr
Samuel Ju

BVerfG: Anfertigung von Videoaufnahmen zum Beweis von Verkehrsverstößen verfassungskonform

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, StPO, Verfassungsrecht

Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss vom 12.08.2010 (2 BvR 1447/10) entschieden, dass die Anfertigung von Videoaufnahmen zum Beweis von Verkehrsverstößen auf der Grundlage von § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO verfassungskonform ist und die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Der in solchen Aufnahmen liegende Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sei durch den Zweck gerechtfertigt, die Sicherheit des Straßenverkehrs aufrecht zu erhalten und damit Rechtsgüter mit erheblichem Gewicht zu schützen.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer wurde vom Amtsgericht wegen fahrlässiger Unterschreitung des erforderlichen Sicherheitsabstandes im Straßenverkehr zu einer Geldbuße verurteilt. Die Verurteilung stützt sich im Wesentlichen auf das Ergebnis einer Abstandsmessung mittels einer geeichten Anlage und die dabei angefertigten Videoaufnahmen, auf denen der Beschwerdeführer zu erkennen ist. Das Oberlandesgericht verwarf dessen Rechtsbeschwerde als unbegründet. Dieser erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde und rügte insbesondere eine Verletzung seines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG. Der Eingriff sei mangels gesetzlicher Grundlage nicht gerechtfertigt. § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG könne nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, da diese Befugnis nur bei der Herstellung von Bildaufnahmen zu Observationszwecken greife, nicht dagegen bei der Fertigung von Lichtbildern zur Beweissicherung und Auswertung.
BVerfG: Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht verletzt
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, da ihr weder grundsätzliche Bedeutung zukomme noch die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG oder das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzten. Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Gerichte die Vorschrift des § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO als Rechtsgrundlage für die Anfertigung von Videoaufnahmen zum Beweis von Verkehrsverstößen herangezogen haben. Die Norm erlaube die Anfertigung von Bildaufnahmen ohne Wissen des Betroffenen, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise weniger Erfolg versprechend oder erschwert wäre. Dies gelte sowohl für die Anfertigung von Einzelaufnahmen als auch von Videoaufnahmen.
Zweck der Verkehrsüberwachungsmaßnahme rechtfertigt Eingriff
Zudem sei der in den Bildaufnahmen mittels einer Identifizierungskamera liegende Eingriff in das Grundrecht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung auch verhältnismäßig. Der Zweck derartiger Maßnahmen der Verkehrsüberwachung, nämlich die Aufrechterhaltung der Sicherheit des Straßenverkehrs und damit der Schutz von Rechtsgütern mit erheblichem Gewicht, rechtfertigten eine Beschränkung der grundrechtlichen Freiheiten. Dabei sei zu berücksichtigen, dass – auch wenn es sich um verdeckte Datenerhebungen handelt – nur Vorgänge auf öffentlichen Straßen aufgezeichnet würden, die grundsätzlich für jedermann wahrnehmbar seien. Die Maßnahme ziele außerdem nicht auf Unbeteiligte, sondern ausschließlich auf Fahrzeugführer, die selbst Anlass zur Anfertigung von Bildaufnahmen gegeben hätten, da der Verdacht eines bußgeldbewehrten Verkehrsverstoßes bestehe. Schließlich entfalte die Maßnahme über die Ahndung der Verkehrsordnungswidrigkeit hinaus grundsätzlich keine belastenden Wirkungen für den Betroffenen. Denn es bestünden in § 101 StPO hinreichende grundrechtssichernde Verfahrensvorschriften über die Benachrichtigung sowie zur Kennzeichnung und Löschung von Daten.
Bezüglich der Übersichtsaufnahmen liegt bereits kein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vor
Soweit im vorliegenden Fall auch Übersichtsaufnahmen von einer Brücke aus angefertigt wurden, verneint das BVerfG bereits einen Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung. Denn zum einen sei nach den amtsgerichtlichen Feststellungen eine Identifizierung der Fahrer oder Kennzeichen anhand der dauerhaft angefertigten Übersichtsaufnahmen nicht möglich gewesen. Zum anderen seien die Übersichtsaufnahmen nach ihrer Zweckbestimmung nicht auf eine Individualisierung des Betroffenen ausgerichtet. Diese sollten vielmehr ausschließlich durch die verdachtsabhängige Anfertigung von Bildaufnahmen mittels der am Fahrbahnrand aufgestellten Identifizierungskamera erfolgen.
Das Urteil im Volltext: hier

05.09.2010/0 Kommentare/von Samuel Ju
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Samuel Ju https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Samuel Ju2010-09-05 19:35:272010-09-05 19:35:27BVerfG: Anfertigung von Videoaufnahmen zum Beweis von Verkehrsverstößen verfassungskonform
Samuel Ju

Der Blitzer und der unfallgeschädigte Gebrauchtwagenfahrer

Öffentliches Recht, Schuldrecht, Verfassungsrecht, Zivilrecht

Zwei wichtige Entscheidungen, die in diesem Monat Juli im Volltext veröffentlicht wurden – eine vom Bundesverfassungsgericht und eine vom Bundesgerichtshof.
1. BVerfG-Beschluss vom 5.7.2010 (2 BvR 759/10):
Bundesverfassungsgericht: Verfassungsbeschwerde gegen „Blitzer“ erfolglos
– Examensrelevante Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Blitzens: 100h StPO als Ermächtigungsgrundlage für Blitzer
– Die polizeilichen „Blitzerfotos“ sind ein gerechtfertigter Eingriff in das Recht des Fahrers auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. BGH-Entscheidung vom 22.6.2010 (VI ZR 302/08):
BGH stärkt Rechte der unfallgeschädigten Gebrauchtwagenfahrer beim Fahrzeugschaden
– Die Problematik der fiktiven Schadenabrechnung wurde erst kürzlich im Mai-Termin in NRW in der 1. Zivilrechtsklausur abgefragt.
Leitsätze:
1. Der Geschädigte leistet dem Gebot der Wirtschaftlichkeit im Allgemeinen Genüge und bewegt sich in den für die Schadensbehebung nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB gezogenen Grenzen, wenn er der Schadensabrechnung die üblichen Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt zugrunde legt, die ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger auf dem allgemeinen regionalen Markt ermittelt hat.
2. Der Schädiger kann den Geschädigten aber unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht gemäß § 254 Abs. 2 BGB auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen „freien Fachwerkstatt“ verweisen, wenn er darlegt und gegebenenfalls beweist, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht, und wenn er gegebenenfalls vom Geschädigten aufgezeigte Umstände widerlegt, die diesem eine Reparatur außerhalb der markengebundenen Fachwerkstatt unzumutbar machen würden.

25.07.2010/0 Kommentare/von Samuel Ju
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Samuel Ju https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Samuel Ju2010-07-25 20:20:262010-07-25 20:20:26Der Blitzer und der unfallgeschädigte Gebrauchtwagenfahrer
Samuel Ju

Blitzen nicht erlaubt! – Zur Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung

Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss vom 11.8.2009 (Az. 2 BvR 941/08) der anlasslosen Video- und Geschwindigkeitsüberwachung des Straßenverkehrs Grenzen gezogen.
Sachverhalt
Im Januar 2006 wurde auf der BAB 19 in Fahrtrichtung Rostock von der Ordnungsbehörde eine Geschwindigkeitsmessung durchgeführt. Die Videoaufzeichnung erfolgte mit dem Verkehrskontrollsystem Typ VKS. Dem Beschwerdeführer, der an diesem Tag mit seinem Pkw auf dieser Strecke fuhr, wird vorgeworfen, er habe bei km 98,6 fahrlässig die zulässige Höchstgeschwindigkeit (100 km/h) außerhalb geschlossener Ortschaften um 29 km/h überschritten. Deshalb wurde gegen ihn ein Bußgeld in Höhe von 50 Euro festgesetzt. Die eingelegten Rechtsmittel gegen den Bußgeldbescheid, mit denen der Beschwerdeführer insbesondere rügte, dass die Video-Aufzeichnung des Verkehrsverstoßes mangels konkreten Tatverdachts ohne ausreichende Rechtsgrundlage angefertigt worden sei, hatten keinen Erfolg. Als ausreichende Rechtsgrundlage für die vorgenommene Geschwindigkeitsmessung wurde von den Gerichten der Erlass zur Überwachung des Sicherheitsabstandes nach § 4 StVO des Wirtschaftsministeriums Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juli 1999 angesehen.
Entscheidung
Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, soweit sie zulässig ist, zur Entscheidung angenommen und das Urteil der Vorinstanzen aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Güstrow zurückverwiesen.
Verletzung des Willkürverbotes (Art. 3 Abs. 1 GG)
Das BVerfG hat in den Entscheidungen des AG Güstrow und des OLG Rostock einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Bedeutung als Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) gesehen. Zwar stelle nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts auch einen Gleichheitsverstoß dar. Von Willkür könne nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehre. Ein Richterspruch sei jedoch willkürlich und verstoße damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn er unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar sei und sich daher der Schluss aufdränge, dass er auf sachfremden Erwägungen beruhe. In einem derartigen Fall komme ein verfassungsgerichtliches Eingreifen in Betracht. Nicht erforderlich sei subjektive Willkür, ein objektiv willkürlicher Verstoß sei ausreichend. Auf dieser Grundlage hält das BVerfG die Rechtsauffassung von AG und OLG, die mittels einer Videoaufzeichnung vorgenommene Geschwindigkeitsmessung könne auf einen Erlass eines Ministeriums gestützt werden, für unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar und daher willkürlich.
Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Das BVerfG geht davon aus, dass in der vom Betroffenen angefertigten Videoaufzeichnung ein Eingriff in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung (siehe Volkszählungsurteil (BVerfGE 65,1,42 f ) liege. Dieses Recht umfasse die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden, und daher grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen. Der Eingriff in das Grundrecht entfalle – so das BVerfG – nicht dadurch, dass lediglich Verhaltensweisen im öffentlichen Raum erhoben wurden. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleiste nicht allein den Schutz der Privat- und Intimsphäre, sondern trage in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auch den informationellen Schutzinteressen des Einzelnen, der sich in die Öffentlichkeit begibt, Rechnung.
Ministeriumserlass als Ermächtigungsgrundlage nicht ausreichend
Zwar könne das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt werden. Eine solche Einschränkung bedürfe jedoch einer gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspreche und verhältnismäßig sei. Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs müssen in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden. Das AG hatte sich insoweit auf den Erlass zur Überwachung des Sicherheitsabstandes nach § 4 StVO des Wirtschaftsministeriums Mecklenburg-Vorpommern vom 01.07.1999 (Az.: V 652.621.5-2-4) gestützt und damit diesen als Rechtsgrundlage für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung herangezogen. Bei dem Erlass handele es sich aber um eine Verwaltungsvorschrift und damit lediglich um eine verwaltungsinterne Anweisung. Derartige Regelungen, durch die eine vorgesetzte Behörde etwa auf ein einheitliches Verfahren oder eine einheitliche Gesetzesanwendung hinwirkt, seien kein Gesetz im Sinn des Art. 20 Abs. 3 sowie des Art. 97 Abs. 1 GG und seien grundsätzlich Gegenstand, nicht Maßstab der richterlichen Kontrolle. Eine Verwaltungsvorschrift könne für sich auch keinen Eingriff in das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung rechtfertigen, da es einer formell-gesetzlichen Grundlage bedürfe. Der parlamentarische Gesetzgeber habe über einen derartigen Eingriff zu bestimmen und Voraussetzungen sowie Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar festzulegen. Das AG, das im Erlass des Wirtschaftsministeriums Mecklenburg – Vorpommern eine hinreichende Grundlage für die konkret durchgeführte Verkehrsüberwachung und damit auch für die vom Betroffenen geltend gemachten Grundrechtseingriffe gesehen hat, habe sich mit dieser verfassungsrechtlichen Problematik nicht ansatzweise auseinander gesetzt.
Examensrelevanz
Ein Urteil, das durchaus in der nächsten Zeit auch im Examen im Rahmen einer Examensklausur im Öffentlichen Recht drankommen könnte. Man sollte sich dazu noch einmal mit den einzelnen Voraussetzungen der Verfassungsbeschwerde, dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und der Rechtsnatur von Verwaltungsvorschriften auseinandersetzen. Zu empfehlen ist insbesondere, sich die Rechtsprechung des BVerfG der letzten Zeit zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung anzuschauen:
Beschl. v. 17.02.2009 – 1 BvR 2492/08 zum bayerischen Versammlungsgesetz
Beschl. v. 11.03.2008 – 1 BvR 2074/05 zur automatisierten Kennzeichenerfassung
Beschl. v. 23.02.2007 – 1 BvR 2368/06 zur Videoüberwachung

03.12.2009/3 Kommentare/von Samuel Ju
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Samuel Ju https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Samuel Ju2009-12-03 13:13:092009-12-03 13:13:09Blitzen nicht erlaubt! – Zur Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung

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