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Schlagwortarchiv für: IfSG

Dr. Lena Bleckmann

OLG Celle zur Strafbarkeit der Vorlage eines gefälschten Impfpasses

Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Strafrecht, Strafrecht BT

Im Oktober vergangenen Jahres erhielt u.a. eine Entscheidung des LG Osnabrück (Beschl. v. 26.10.2021 – 3 Ws 38/21) große Aufmerksamkeit: Sie befasste sich mit der Strafbarkeit der Vorlage gefälschter Impfausweise in einer Apotheke und lehnte diese im Ergebnis ab – juraexamen.info berichtete. Die Entscheidung bezog sich auf die alte Rechtslage, dasselbe gilt für ein nun vorliegendes Urteil des OLG Celle (Urt. v. 31.5.2022 – 1 Ss 6/22). Die Diskussion bleibt jedoch aktuell. Hier ein schneller Überblick zu den wichtigsten Eckpunkten.

I. Die Fragestellung und die Entscheidung des LG Osnabrück und anderer Gerichte

Der Knackpunkt: Die Voraussetzungen der urkundsstrafrechtlichen Spezialnormen, die sich auf Gesundheitszeugnisse beziehen (§§ 277 ff. StGB), präziser noch der Tatbestand des Gebrauchens unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 279 StGB, war nicht erfüllt. Ein Rückgriff auf die allgemeinere Norm des § 267 StGB in Form des Gebrauchens einer unechten Urkunde (§ 267 Abs. 1 Var. 3 StGB) wurde zwar untersucht – denn auch das Gesundheitszeugnis ist eine Urkunde –, im Ergebnis aber wegen Spezialität der §§ 277 ff.  StGB abgelehnt. Das LG Osnabrück war nicht allein in der Auffassung, dass § 277 ff. StGB eine Sperrwirkung gegenüber § 267 StGB entfaltet (siehe etwa OLG Bamberg, Beschl. v. 17.1.2022 – 1 Ws 732-733/21; LG Karlsruhe, Beschl. v. 26.11.2021 – 19 QS 90/21).

II. Die abweichende Ansicht u.a. des OLG Celle

Andere Ansicht nun das OLG Celle. Schon im ersten Leitsatz heißt es dort: „Der Tatbestand der Urkundenfälschung nach § 267 StGB wird bei der Vorlage eines gefälschten Impfpasses in einer Apotheke zwecks Erlangung eines COVID-19-impfzertifikats nicht durch die Vorschriften der §§ 277 bis 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung verdrängt“. Zwar geht auch das OLG Celle davon aus, dass es sich bei § 279 StGB um eine gegenüber § 267 StGB speziellere Regelung handelt Eine Sperrwirkung soll aufgrund der Spezialität allerdings nur eintreten, wenn sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind (siehe Rn. 16, 22). Dass dies im Hinblick auf das Gebrauchen von Gesundheitszeugnissen nach § 279 StGB bei Vorlage eines falschen Impfausweises in einer Apotheke nicht der Fall ist, ist unstreitig – die Apotheke ist schon keine Behörde, was die Norm jedoch bis zum 24.11.2021 voraussetzte (siehe hierzu ausführlich unseren Beitrag zur Entscheidung des LG Osnabrück). Eine Verdrängungswirkung gegenüber § 267 StGB lehnt das OLG Celle nunmehr mit Blick auf die ansonsten eintretende Privilegierung des Täters ab (Rn. 22.). Das Gericht nimmt eine mustergültige Auslegung nach Wortlaut, Historie, Systematik und Gesetzeszweck vor, die in dieser Struktur auch jedem Klausurbearbeiter anzuraten ist. Das Ergebnis ist dabei in der Klausur zweitrangig – das zeigen schon die zahlreichen divergierenden Entscheidungen, die mittlerweile vorliegen. Ebenso, wie die Auffassung des LG Osnabrück mehrere Anhänger fand, steht auch die Entscheidung des OLG Celle nicht allein. Zu demselben Ergebnis gelangten etwa bereits das OLG Hamburg (Beschl. v. 27.1.2022 – 1 WS 114/21), das OLG Stuttgart (Beschl. v. 8.3.2022 – 1 Ws 33/22) und das OLG Schleswig (Beschl. v. 31.3.2022).

III. Aktuelle Rechtslage und Ausblick

Die im vergangenen Jahr unter anderem vom LG Osnabrück bekundete Strafbarkeitslücke hat der Gesetzgeber zu schließen gesucht und den Gebrauch unrichtiger Impfbescheinigungen in § 75a Abs. 3 Nr. 2 IfSG unter Strafe gestellt. Auch wurde § 279 StGB erweitert und bezieht sich nunmehr auf die Täuschung im Rechtsverkehr, nicht mehr allein auf Täuschungen gegenüber Behörden und Versicherungsgesellschaften. Zwischen den nebenstrafrechtlichen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes und §§ 278, 279 StGB in der aktuellen Fassung kann Idealkonkurrenz bestehen (BT-Drucks. 20/15, S. 35). Folgt man der Auffassung, die nun auch das OLG Celle vertritt, wären diese Anpassungen nicht zwingend notwendig gewesen, eine Strafbarkeitslücke hätte aufgrund der Anwendbarkeit des § 267 StGB nicht bestanden. Die aktuelle Entscheidung zeigt: Trotz der gesetzlichen Anpassungen läuft die Debatte weiter und bleibt so auch prüfungsrelevant. Es ist insbesondere Examenskandidaten zu empfehlen, hier auf dem Laufenden zu bleiben und sich mit den wesentlichen Argumentationslinien vertraut zu machen. Sowohl die aktuelle Gesetzeslage – trotz des Bezugs zum Nebenstrafrecht – als auch die gerichtlichen Entscheidungen, die sich noch auf die alte Rechtslage beziehen, sollten jedenfalls in ihren Grundzügen bekannt sein.

Im Oktober vergangenen Jahres erhielt u.a. eine Entscheidung des LG Osnabrück (Beschl. v. 26.10.2021 – 3 Ws 38/21) große Aufmerksamkeit: Sie befasste sich mit der Strafbarkeit der Vorlage gefälschter Impfausweise in einer Apotheke und lehnte diese im Ergebnis ab – juraexamen.info berichtete. Die Entscheidung bezog sich auf die alte Rechtslage, dasselbe gilt für ein nun vorliegendes Urteil des OLG Celle (Urt. v. 31.5.2022 – 1 Ss 6/22). Die Diskussion bleibt jedoch aktuell. Hier ein schneller Überblick zu den wichtigsten Eckpunkten.

I. Die Fragestellung und die Entscheidung des LG Osnabrück und anderer Gerichte

Der Knackpunkt: Die Voraussetzungen der urkundsstrafrechtlichen Spezialnormen, die sich auf Gesundheitszeugnisse beziehen (§§ 277 ff. StGB), präziser noch der Tatbestand des Gebrauchens unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 279 StGB, war nicht erfüllt. Ein Rückgriff auf die allgemeinere Norm des § 267 StGB in Form des Gebrauchens einer unechten Urkunde (§ 267 Abs. 1 Var. 3 StGB) wurde zwar untersucht – denn auch das Gesundheitszeugnis ist eine Urkunde –, im Ergebnis aber wegen Spezialität der §§ 277 ff.  StGB abgelehnt. Das LG Osnabrück war nicht allein in der Auffassung, dass § 277 ff. StGB eine Sperrwirkung gegenüber § 267 StGB entfaltet (siehe etwa OLG Bamberg, Beschl. v. 17.1.2022 – 1 Ws 732-733/21; LG Karlsruhe, Beschl. v. 26.11.2021 – 19 QS 90/21).

II. Die abweichende Ansicht u.a. des OLG Celle

Andere Ansicht nun das OLG Celle. Schon im ersten Leitsatz heißt es dort: „Der Tatbestand der Urkundenfälschung nach § 267 StGB wird bei der Vorlage eines gefälschten Impfpasses in einer Apotheke zwecks Erlangung eines COVID-19-impfzertifikats nicht durch die Vorschriften der §§ 277 bis 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung verdrängt“. Zwar geht auch das OLG Celle davon aus, dass es sich bei § 279 StGB um eine gegenüber § 267 StGB speziellere Regelung handelt Eine Sperrwirkung soll aufgrund der Spezialität allerdings nur eintreten, wenn sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind (siehe Rn. 16, 22). Dass dies im Hinblick auf das Gebrauchen von Gesundheitszeugnissen nach § 279 StGB bei Vorlage eines falschen Impfausweises in einer Apotheke nicht der Fall ist, ist unstreitig – die Apotheke ist schon keine Behörde, was die Norm jedoch bis zum 24.11.2021 voraussetzte (siehe hierzu ausführlich unseren Beitrag zur Entscheidung des LG Osnabrück). Eine Verdrängungswirkung gegenüber § 267 StGB lehnt das OLG Celle nunmehr mit Blick auf die ansonsten eintretende Privilegierung des Täters ab (Rn. 22.). Das Gericht nimmt eine mustergültige Auslegung nach Wortlaut, Historie, Systematik und Gesetzeszweck vor, die in dieser Struktur auch jedem Klausurbearbeiter anzuraten ist. Das Ergebnis ist dabei in der Klausur zweitrangig – das zeigen schon die zahlreichen divergierenden Entscheidungen, die mittlerweile vorliegen. Ebenso, wie die Auffassung des LG Osnabrück mehrere Anhänger fand, steht auch die Entscheidung des OLG Celle nicht allein. Zu demselben Ergebnis gelangten etwa bereits das OLG Hamburg (Beschl. v. 27.1.2022 – 1 WS 114/21), das OLG Stuttgart (Beschl. v. 8.3.2022 – 1 Ws 33/22) und das OLG Schleswig (Beschl. v. 31.3.2022).

III. Aktuelle Rechtslage und Ausblick

Die im vergangenen Jahr unter anderem vom LG Osnabrück bekundete Strafbarkeitslücke hat der Gesetzgeber zu schließen gesucht und den Gebrauch unrichtiger Impfbescheinigungen in § 75a Abs. 3 Nr. 2 IfSG unter Strafe gestellt. Auch wurde § 279 StGB erweitert und bezieht sich nunmehr auf die Täuschung im Rechtsverkehr, nicht mehr allein auf Täuschungen gegenüber Behörden und Versicherungsgesellschaften. Zwischen den nebenstrafrechtlichen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes und §§ 278, 279 StGB in der aktuellen Fassung kann Idealkonkurrenz bestehen (BT-Drucks. 20/15, S. 35). Folgt man der Auffassung, die nun auch das OLG Celle vertritt, wären diese Anpassungen nicht zwingend notwendig gewesen, eine Strafbarkeitslücke hätte aufgrund der Anwendbarkeit des § 267 StGB nicht bestanden. Die aktuelle Entscheidung zeigt: Trotz der gesetzlichen Anpassungen läuft die Debatte weiter und bleibt so auch prüfungsrelevant. Es ist insbesondere Examenskandidaten zu empfehlen, hier auf dem Laufenden zu bleiben und sich mit den wesentlichen Argumentationslinien vertraut zu machen. Sowohl die aktuelle Gesetzeslage – trotz des Bezugs zum Nebenstrafrecht – als auch die gerichtlichen Entscheidungen, die sich noch auf die alte Rechtslage beziehen, sollten jedenfalls in ihren Grundzügen bekannt sein.

14.06.2022/0 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2022-06-14 10:28:002022-08-03 08:29:10OLG Celle zur Strafbarkeit der Vorlage eines gefälschten Impfpasses
Dr. Yannick Peisker

Strafbarkeit des Vorlegens gefälschter Impfausweise in der Apotheke

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Strafrecht

Am 26. Oktober 2021 hat das LG Osnabrück (v. 26.10.2021 – 3 Qs 38/21) die Beschwerde gegen die Beschlagnahme eines mutmaßlich gefälschten Impfausweises mit der Begründung abgewiesen, die Vorlage eines gefälschten Impfausweises gegenüber einer Apotheke sei nicht strafbar.
Dem Beschuldigten wurde vorgeworfen, einen gefälschten Impfausweis in einer Apotheke in der Stadt Nordhorn zur Erlangung eines digitalen Impfausweises vorgelegt zu haben. Eine gerichtliche Bestätigung der Beschlagnahme lehnte das Amtsgericht Osnabrück  mit Beschluss v. 12.10.2021  ab, da das dem Beschuldigten vorgeworfene Verhalten nicht strafbar sei.
Diese Rechtsauffassung bestätigte nunmehr auch das LG Osnabrück.

Auch wenn die strafprozessuale Einkleidung der Entscheidung den ein oder anderen Examenskandidaten abschrecken mag, dürfte diese dennoch insbesondere für die mündliche Prüfung eine enorme Relevanz aufweisen, da an ihr an und für sich Grundlagen der Urkundendelikte und allgemeines Systemverständnis abgeprüft werden können. Auch für anstehende schriftliche Prüfungen ist die Examensrelevanz dieser Fallkonstellation – womöglich in abgewandelter Form – nicht in Gänze zu verneinen. Ein Blick in die jeweiligen rechtlichen Grundlagen der Examensprüfung vermag überraschen, denn so ist unter anderem im Bundesland NRW der Pflichtstoff der Urkundendelikte keineswegs auf die §§ 267-271 StGB beschränkt. Vielmehr ist dort der gesamte 23. Abschnitt des StGB (§§ 267-282 StGB) Gegenstand der staatlichen Prüfung und mithin prüfungsrelevant. Daher kann es sich durchaus lohnen, einmal den Blick vom Bekannten abzuwenden und die Entscheidung zum Anlass zu nehmen, sich der ungeliebten Probleme der Urkundendelikte (erneut) anzunehmen.

 
A. Der Impfpass als Urkunde iSd. § 267 Abs. 1 StGB
Zentraler Begriff der §§ 267 ff. StGB ist der Begriff der Urkunde. Unter einer solchen wird eine dauerhaft verkörperte menschliche Gedankenerklärung (Perpetuierungsfunktion) verstanden, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist (Beweisfunktion) und ihren Aussteller erkennen lässt (Garantiefunktion; so u.a. BGHSt 3, 84, 85; 4, 284, 285).
Ein Impfpass enthält die Erklärung, dass die bezeichnete Person die dort aufgeführten Schutzimpfungen erhalten hat. Diese Erklärung ist als Aufkleber mit dem Impfpass als Gegenstand fest verbunden, sodass auch eine dauerhafte Verkörperung der Erklärung zu bejahen ist. Im Übrigen ist der Impfausweis auch in der Lage, die Impfung als rechtserhebliche Tatsache zu beweisen. Hierzu ist er ebenfalls bestimmt, es handelt sich um eine sog. Absichtsurkunde. Darüber hinaus lässt sie auch ihren Aussteller erkennen, denn bereits gesetzlich ist gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 5 IfSG vorgeschrieben, dass der Impfausweis die für die Durchführung der Schutzimpfung verantwortliche Person bestätigen muss, sodass diese als Aussteller auch erkennbar ist (ebenso Lorenz, medstra 2021, 210, 212).
 
B. Darstellung der §§ 277 ff. StGB
Weiterhin sollen zunächst in Kurzfassung die Grundlagen der in diesem Zusammenhang ebenfalls relevanten §§ 277-279 StGB in ihrer Fassung vom 01.01.2000 dargestellt werden.
Es handelt sich hierbei um Sondertatbestände, die verschiedene Varianten einer Urkundenfälschung und verwandter Konstellationen in Bezug auf Gesundheitszeugnisse unter Strafe stellen. Gegenüber § 267 Abs. 1 StGB wird damit der Kreis der tauglichen Tatobjekte eingeschränkt. Nicht jede Urkunde ist taugliches Tatobjekt, sondern nur ein Gesundheitszeugnis, wobei unter Gesundheitszeugnissen Urkunden oder Datenurkunden verstanden werden, in denen der gegenwärtige oder vergangene Gesundheitszustand eines Menschen beschrieben wird (Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 277 Rn. 2; MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 2). Ein Impfausweis erfüllt dabei die Tatbestandsmerkmale eines solchen Gesundheitszeugnisses. Er gibt Auskunft über die durchgeführten Schutzimpfungen und damit über den gesundheitlichen Umstand der Immunisierung gegen eine bestimmte Krankheit (zu einem Impfschein bereits RGSt 24, 284, 286; BeckOK StGB/Weidemann, 50. Edition Stand 01.05.2021, § 277 Rn. 4.1; Kritik äußert Lorenz, medstra 2021, 210, 212).
 
I. § 277 StGB – Fälschung von Gesundheitszeugnissen
Wirft man einen Blick auf den Strafrahmen des § 277 StGB (ein Jahr), wird erkennbar, dass die Norm die Urkundenfälschung eines Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft privilegiert. Inwiefern die Privilegierung heutzutage noch gerechtfertigt ist, wird zu Recht bestritten (instruktiv MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 1), dies soll jedoch nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein.
Anders als bei § 267 StGB handelt es sich bei der Norm um ein zweiaktiges Delikt. Erforderlich ist zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes ausweislich des Wortlautes nicht nur das Ausstellen eines unechten oder Verfälschen eines echten Gesundheitszeugnisses, sondern darüber hinaus muss von diesem gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft Gebrauch gemacht werden. Zudem reicht die bloße Unechtheit der Urkunde nicht aus, vielmehr muss die Urkunde den Anschein erwecken, dass ein Arzt oder eine andere approbierte Medizinalperson der Aussteller der Urkunde ist (MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 3 f.).
Die Norm beinhaltet drei verschiedene Varianten, die jeweils eine tatbestandliche Verwirklichung des ersten Aktes der Norm begründen. Zum einen kann der Täter unter dem richtigen Namen des Ausstellers, jedoch unter der unzutreffenden Bezeichnung eines Arztes oder einer anderen approbierten Person auftreten (Bsp.: Der Täter tritt unter seinem wahren Namen auf, bezeichnet sich selbst unzutreffend als Arzt). Hierbei handelt es sich nicht um eine Identitätstäuschung, sondern um eine schriftliche Lüge in Gestalt einer Täuschung über die Qualifikation der Person, sodass es sich, anders als bei Var. 2 und 3, um ein über den Grundtatbestand des § 267 StGB hinausgehendes strafbares Verhalten handelt (Fischer, StGB, 68. Auflage § 277 Rn. 1).
Ebenso verwirklicht den ersten Akt des Tatbestandes, wer unter Verwendung eines Namens eines Arztes oder einer anderen approbierten Medizinalperson ein Gesundheitszeugnis ausstellt (Bsp.: Der Täter verwendet nicht seinen eigenen Namen, sondern den eines Arztes). Weiterhin handelt tatbestandsmäßig, wer ein echtes Gesundheitszeugnis nachträglich verändert, sodass der Anschein entsteht, der Aussteller habe die Erklärung ursprünglich mit diesem Inhalt abgegeben.
Als zweiter Akt hinzutreten muss weiterhin das Gebrauchen des Zeugnisses gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft. Hierfür muss das Zeugnis der zu täuschenden Behörde oder Versicherungsgesellschaft zugänglich gemacht werden, wobei die Täuschung gerade in Bezug auf den Gesundheitszustand erfolgen muss (Vgl. MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 7).
Zur Verwirklichung des subjektiven Tatbestandes ist – wie auch in Bezug auf § 267 Abs. 1 StGB – zumindest dolus eventualis sowie Täuschungsabsicht, allerdings mit dem speziellen Adressatenkreis einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft, erforderlich (Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 277 Rn. 11; MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 10).
 
II. § 278 StGB – Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse
Der § 278 stellt im Gegensatz zu § 267 StGB die schriftliche Lüge unter Strafe, denn tatbestandsmäßig ist bereits das Anfertigen eines inhaltlich unrichtigen schriftlichen Gesundheitszeugnisses. Dieses ist bereits dann unrichtig, wenn das Zeugnis inhaltliche Fehler aufweist, wobei sich die inhaltlichen Fehler auch auf bloße Einzelheiten erstrecken können (BGHSt 10, 157). Tauglicher Täter kann hier nur ein Arzt oder eine andere approbierte Medizinalperson sein, es handelt sich mithin um ein Sonderdelikt. Ferner muss das Zeugnis zum Zwecke des Gebrauchs bei einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft ausgestellt sein, worauf sich ebenfalls der Vorsatz (zumindest dolus eventualis) beziehen muss. In Abgrenzung zu § 277 StGB ist die Tat bereits mit der Ausstellung vollendet, ein weiterer Gebrauch ist nicht vonnöten (Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 278 Rn. 5).
 
III. § 279 StGB – Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse
§ 279 StGB stellt ausschließlich den Gebrauch (zum Begriff des „Gebrauchs“ bereits oben) eines unrichtigen oder gefälschten Gesundheitszeugnisses unter Strafe. Für die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes ist ausreichend, dass das Zeugnis objektiv unrichtig ist, also entweder im Wege des § 277 StGB ausgestellt wurde oder inhaltlich unrichtig im Sinne des § 278 StGB ist. Verlangt wird gerade nicht, dass der Aussteller des Zeugnisses dieses wider besseren Wissens oder für den Gebrauch gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft angefertigt hat (BeckOK StGB/Weidemann, 50. Edition Stand 01.05.2021, § 279 Rn. 3). In subjektiver Hinsicht ist jedoch weiterhin erforderlich, dass der Täter selbst zumindest mit bedingtem Vorsatz hinsichtlich der objektiven Tatbestandsmerkmale – also auch in Bezug auf die Unrichtigkeit – sowie in der Absicht handelt, über den Gesundheitszustand zu täuschen (MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 4).
 
C. Strafbarkeit der Vorlage des Impfausweises in der Apotheke
Sofern man dem Beschuldigten (B.) die Ausstellung des Gesundheitszeugnisses selbst nicht nachweisen kann, kommt aus Beweisgründen zunächst nur eine Strafbarkeit nach § 279 StGB in Betracht.
Mit Vorlage des gefälschten Impfausweises gegenüber der Apotheke könnte sich der B. somit gemäß § 279 StGB wegen des Gebrauchs unrichtiger Gesundheitszeugnisse strafbar gemacht haben. Zwar handelt es sich bei dem Impfausweis um ein Gesundheitszeugnis (s.o.) jedoch müsste die Vorlage in der Apotheke auch zur Täuschung einer Behörde erfolgen (eine Versicherungsgesellschaft scheidet hier offensichtlich aus).
Der Behördenbegriff wird in § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB nicht legaldefiniert, zurückzugreifen ist vielmehr auf den verwaltungsrechtlichen Behördenbegriff (MüKo StGB/Radtke, 4. Auflage 2020, § 11 Rn. 149). Danach sind Behörden ständige, vom Wechsel der in ihr tätigen Personen unabhängige, in das Gefüge der staatlichen Verwaltung eingeordnete Organe, die mit öffentlicher Autorität Aufgaben des öffentlichen Rechts vollziehen (vgl. Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Auflage 2018, § 11 Rn. 20).
Zu überlegen ist, ob es sich bei einer Apotheke um einen Beliehenen oder um einen Verwaltungshelfer handelt. Rechtlicher Anknüpfungspunkt und Grundlage ihres Tätigwerdens bildet dabei § 22 Abs. 5 IfSG. Unabhängig von der Einordnung nach öffentlichem Recht soll jedoch das Tätigwerden Privater auch in öffentlicher Funktion nicht die Behördeneigenschaft begründen können (MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 8; für den TÜV ausdrücklich entschieden durch OLG Stuttgart, Urt. v. 25.09.2013 – 2 Ss 519/13).
Dieser Auffassung hat sich im Ergebnis wohl auch das LG Osnabrück angeschlossen, wenn es die Strafbarkeit des Verhaltens verneint, eine Veröffentlichung der Urteilsgründe steht jedoch noch aus. Letztlich besteht in der mündlichen Prüfung an dieser Stelle jedoch ein Einfallstor in das Öffentliche Recht, um die Voraussetzungen einer Beleihung zu klären und diese im Einzelfall von einem bloßen Verwaltungshelfer abzugrenzen. Gerade diese Verknüpfung begründet die Attraktivität dieser Konstellation für die mündliche Prüfung.
 
I. Verhältnis der §§ 277 ff. StGB zu § 267 Abs. 1 StGB
Nachdem mangels Gebrauch des Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Behörde die Verwirklichung des § 279 StGB (oder auch § 277 StGB) ausscheidet, stellt sich die zentrale Frage, ob ein Rückgriff auf § 267 Abs. 1 Var. 3 StGB in Gestalt des Gebrauchmachens möglich ist, denn ein Gesundheitszeugnis stellt zugleich eine Urkunde iSd. § 267 Abs. 1 StGB dar.
Klärungsbedürftig ist mithin das Verhältnis zwischen den Vorschriften.
Allgemein gilt, dass bei einer privilegierenden Spezialität der allgemeine Tatbestand nicht anwendbar ist, denn anderenfalls würde die Privilegierung leerlaufen (Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 138). Dieses Argument ist jedoch nur im Rahmen des Anwendungsbereiches der Norm belastbar. Jedenfalls bezüglich der Vorlage eines Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft sind die Normen daher abschließend. Problematisch ist indes, inwiefern sich die abschließende Wirkung auf alle Gesundheitszeugnisse erstreckt.
Nach überwiegender Ansicht entfalten die §§ 277 und 279 StGB eine umfassende Sperrwirkung gegenüber § 267 StGB bei Vorliegen eines Gesundheitszeugnisses, selbst wenn die übrigen Voraussetzungen der Norm nicht gegeben sind (u.a. RGSt 6, 1; 31, 298; Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 277 Rn. 12). Es sei absurd, den Gebrauch eines Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Privatperson unter eine höhere Strafe zu stellen, als dies bei Gebrauch gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft der Fall ist (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Puppe/Schumann, StGB, 5. Auflage 2017, § 277 Rn. 13).
Vertreten lässt sich aber wohl auch die gegenteilige Position, denn ebenso fragwürdig ist es, den Gebrauch eines solchen Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Privatperson gar nicht unter Strafe zu stellen (so ebenfalls Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Puppe/Schumann, StGB, 5. Auflage 2017, § 277 Rn. 13; MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 9). So lasse sich die Vorschrift auch dahingehend interpretieren, dass sie nur den Einsatz eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft privilegieren möchte. Sofern ein Gesundheitszeugnis gegenüber einer privaten Person verwendet wird, wäre § 267 StGB damit weiterhin anwendbar.
In der mündlichen Prüfung besteht hier Raum für Argumentation. Hat der Prüfling es erfolgreich bis hierhin geschafft, wird vieles vertretbar sein. Zu beachten ist, dass es sich nicht um eine verbotene Analogie der Vorschrift zu Lasten des Täters iSd. Art. 103 Abs. 2 GG handeln muss, denn im Wege der Auslegung lassen sich durchaus noch beide Ergebnisse vertreten. Art. 103 Abs. 2 GG greift erst ein, sobald die Schwelle der Auslegung überschritten und der Weg der Rechtsfortbildung beschritten wird (Maunz/Dürig/Remmert, GG-Kommentar, 94. EL Januar 2021, Art. 103 Abs. 2 Rn. 83).
 
Exkurs: Die Spezialität der §§ 277 ff. StGB hat zur Folge, dass eine Versuchsstrafbarkeit mangels ausdrücklicher Anordnung, wie bei § 267 Abs. 2 StGB, ausscheidet. Ebenso besteht keine Möglichkeit eines Rückgriffes auf § 267 Abs. 3 StGB als besonders schwerer Fall und Absatz 4 als Qualifikation [Lorenz, medstra 2021, 210, 213].)
 
Folgt man der überwiegenden Auffassung und dem LG Osnabrück, besteht eine Strafbarkeitslücke, die es mit Blick auf die mit einem gefälschten Impfausweis für die Allgemeinheit verknüpften Gesundheitsgefahren zu schließen gilt. Sofern sich die Generalstaatsanwaltschaft Niedersachsens auf den Standpunkt stellt, die Herstellung und Vorlage gefälschter Impfzertifikate zur Erlangung eines digitalen Impfzertifikats in einer Apotheke sei strafbar, entspricht dies jedenfalls nicht der bisher herrschenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung (die Position der Generalstaatsanwaltschaft ist abrufbar unter: Generalstaatsanwaltschaft Celle, zuletzt abgerufen am 10.11.2021).
 
II. Strafbarkeit des Gebrauchs unrichtiger Impfbescheinigungen nach § 75a Abs. 2 IfSG
Im Zuge der Covid-19 Pandemie wurde im Zweiten Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze v. 28.05.2021 der § 75a IfSG eingeführt, der unter anderem in Absatz 2 Nr. 1 den Gebrauch einer in § 74 Abs. 2 IfSG bezeichneten nicht richtigen Dokumentation (unrichtige Impfdokumentation im Impfausweis) oder gemäß Absatz 2 Nr. 2 Var. 1 den Gebrauch einer in § 75a Abs. 1 IfSG bezeichneten nicht richtigen Bescheinigung (unrichtige Bescheinigung einer Impfung im digitalen Covid-19-Zertifikat) zur Täuschung im Rechtsverkehr unter Strafe stellt.
Augenscheinlich schließt diese Vorschrift die zuvor aufgezeigten Lücken der Urkundendelikte, allerdings setzt der in den Normen in Bezug genommenen § 22 IfSG voraus, dass der Impfausweis von einer zur Schutzimpfung berechtigten Person ausgestellt wurde. Hieraus wird geschlussfolgert, dass auch iRd. § 75a Abs. 2 IfSG nicht solche Impfausweise gemeint sein können, die von Privatpersonen gefälscht wurden (so Solmecke, Gesetzgeber muss Strafbarkeitslücken schließen, v. 02.11.2021, abrufbar unter: WBS-Law, Gefälschte Impfpässe, zuletzt abgerufen am 10.11.2021; die Problematik wird ebenfalls von Gaede/Krüger, NJW 2021, 2159, 2161 ff. aufgeworfen).
 
D. Fazit
Trotz des bestehenden rechtlichen Argumentationsspielraumes zeigt das Urteil des LG Osnabrück bedenkliche Lücken auf, die mit Blick auf die Strafbarkeit rund um die Fälschung von Impfausweisen bestehen. Rechtspolitisch wünschenswert wäre sicherlich gewesen, die Strafbarkeit eines solchen Verhaltens zu bejahen. Nichtsdestotrotz ist die Position des LG Osnabrück rechtlich valide und juristisch wohl gut begründet. Es ist eben Aufgabe des Gesetzgebers und nicht der Gerichte, entsprechende rechtliche Grundlagen für eine Verurteilung zu schaffen.
Eben dieser möchte nunmehr nachbessern. Geplant ist die Streichung der Var. 2 und 3 des § 277 StGB, sodass die Handlungsmodalitäten, die von § 267 Abs. 1 StGB und § 269 StGB erfasst sind, nicht mehr in § 277 StGB privilegiert werden (BT-Drs. 20/15, S. 34). Dies löst das Konkurrenzverhältnis der beiden Vorschriften auf. Ferner soll nunmehr das bloße Handeln zur Täuschung im Rechtsverkehr genügen (BT-Drs. 20/15, S. 34). Die Vorschriften §§ 278 und 279 sollen ebenfalls dahingehend angepasst werden, dass ein Handeln zur Täuschung im Rechtsverkehr genügt (BT-Drs. 20/15, S. 35). Damit würde die Einengung mit Blick auf Täuschungen zu Lasten von Behörden und Versicherungsgesellschaften entfallen. Weiterhin soll § 275 um einen Absatz 1a ergänzt werden, der die Manipulation von Blankett-Impfausweisen als Fälschungsvorbereitungshandlung unter Strafe stellt (BT-Drs. 20/15, S. 33). Geplant ist auch eine Ergänzung des § 281 Abs. 2, sodass auch das Verwenden fremder Gesundheitszeugnisse ein strafbares Verhalten darstellt (BT-Drs. 20/15, S. 34).
Examenskandidaten sollten daher etwaige künftige Änderungen der Vorschriften, aber auch das Urteil des LG Osnabrück im Blick behalten. Für Altfälle vor einer etwaigen Gesetzesänderung gilt weiterhin die bisherige Rechtslage.
 

11.11.2021/1 Kommentar/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2021-11-11 09:00:492022-05-20 11:12:06Strafbarkeit des Vorlegens gefälschter Impfausweise in der Apotheke
Gastautor

Rechtmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen anlässlich der Corona-Pandemie am Beispiel der Allgemeinverfügung in Bayern

Aktuelles, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Startseite, Verwaltungsrecht

Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Rudi Lang veröffentlichen zu können. Rudi Lang ist Diplom-Verwaltungswirt (FH) und war vor der Aufnahme seines Jura-Studiums an der Universität Bayreuth Regierungsinspektor im Sachgebiet Kommunales bei der Regierung von Oberfranken in Bayreuth.

 
Nach und nach wird das öffentliche Leben in Bayern und Deutschland insgesamt angesichts der sich ausbreitenden Corona-Pandemiewelle durch hoheitliche Maßnahmen „heruntergefahren“. Angesichts der neuesten dramatischen Entwicklungen haben diese Maßnahme im Erlass umfassender Ausgangsbeschränkungen u.a. in Bayern vorläufig einen Höhepunkt gefunden. Im Rahmen dieses Beitrags interessiert dabei die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20.3.2020, Az. Z6a-G8000-2020/122-98 (online abrufbar unter: https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2020/03/20200320_av_stmgp_
ausgangsbeschraenkung.pdf, im Folgenden: AV Bayern).
Diese wird im Folgenden didaktisch anhand des herkömmlichen Prüfungsschemas von Rechtsgrundlage – formelle Rechtmäßigkeit – materielle Rechtmäßigkeit aufbereitet und analysiert, wobei auf die in den jüngsten juristischen Stellungnahmen geäußerten Bedenken gegenüber Ausgangsbeschränkungen eingegangen wird. Der Beitrag schließt mit einem Fazit.
 
I. Rechtsgrundlage
Die wohl meistdiskutierte Frage im Rahmen der aktuellen Geschehnisse um die „Corona-Krise“ ist bereits, ob für allgemeine Ausgangsbeschränkungen überhaupt eine Rechtsgrundlage besteht (die AV Bayern wird vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege auf § 28 I 1 und 2 IfSG gestützt).
Wegen der belastenden Wirkung solcher Maßnahmen für den Einzelnen bedarf eine solche Maßnahme jedenfalls angesichts des Vorbehalts des Gesetzes (vgl. Art. 20 III GG) einer gesetzlichen Grundlage.
In Betracht kommen insoweit spezialgesetzliche Befugnisse auf Basis des IfSG (dazu 1.) oder auch die polizeirechtliche Generalklausel (dazu 2.).
 
1. Befugnisse nach IfSG
a) 30 I 2 IfSG

Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden.

Die Ausgangsbeschränkung könnte eine allgemeine (nicht individualisierte) Quarantäneanordnung nach § 30 I 2 IfSG darstellen.
Dies erfordert jedoch zumindest einen Ansteckungsverdacht der Adressaten der Maßnahme. Die Tatsache der Aufnahme von Krankheitserregern muss wahrscheinlicher sein als das Gegenteil (BVerwG NJW 2012, 2823).
Da jedoch trotz der stark ansteigenden Zahlen zumindest zum Zeitpunkt des Erlasses der AV Bayern nicht davon ausgegangen werden konnte, dass bei jedem Bewohner Bayerns eine Infektion wahrscheinlicher ist als eine Nicht-Infektion, scheidet § 30 I 2 IfSG als Rechtsgrundlage für eine umfassende Ausgangsbeschränkung aus.
 
b) 28 I 2 IfSG

Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen;

(Halbsatz 1)
28 I 2 Hs. 1 IfSG als Rechtsgrundlage für die AV Bayern scheidet von vornherein aus, da dieser nur das Verbot von Ansammlungen und die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen erfasst, nicht jedoch die Verhängung von generellen Ausgangsbeschränkungen.

[…] sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt sind.

(Halbsatz 2)
Jedoch könnte sich die AV Bayern auf § 28 I 2 Hs. 2 IfSG stützen lassen, passt doch insoweit die Rechtsfolge des Verbots des Verlassens von Orten (siehe Nr. 4 AV Bayern). Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass die Norm nur vorübergehende Maßnahmen erfasst („[…] bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt sind“), nicht hingegen weit darüber hinausgehende allgemeine Ausgangsbeschränkungen (so auch Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland? JuWissBlog Nr. 27/2020 v. 18.3.2020, https://www.juwiss.de/27-2020/).
Damit stellt auch § 28 I 2 Hs. 2 IfSG keine hinreichende Rechtsgrundlage für die AV Bayern dar.
 
c) 28 I 1 IfSG (Generalklausel)

Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtigte oder Ausscheider festgestellt

(Alt. 1)
oder

ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war

(Alt. 2)

so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen […], soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.

Im Rahmen des IfSG verbleibt somit der Rückgriff auf die Generalklausel des § 28 I 1 IfSG, als „notwendige Schutzmaßnahme“ könnte angesichts der Offenheit dieses Begriffs auch die Verhängung allgemeiner Ausgangsbeschränkungen verstanden werden.
Problem: Rückgriff auf Generalklausel für Allgemeinverfügung überhaupt möglich?
Es ist jedoch fraglich, ob ein Rekurs auf die Generalklausel für die AV Bayern überhaupt möglich ist. Hier werden aktuell drei Problemkreise diskutiert:
 
(1) Gesetzgeber hatte bei Formulierung der Generalklausel keine allgemeinen Ausgangsbeschränkungen im Blick („teleologische Reduktion“ der Generalklausel)
Teils wird angeführt, der Gesetzgeber des IfSG hatte bei dessen Erlass gerade keine allgemeinen Ausgangsbeschränkungen im Blick.
Ein solches Verständnis widerspricht jedoch m. E. dem Charakter und der Funktion von gefahrenabwehrrechtlichen Generalklauseln. Diese sollen gerade die Möglichkeit eröffnen, auf neuartige, unbekannte Gefahrenlagen zu reagieren („Effektivität der Gefahrenabwehr“), die fehlende historische Regelungsintention bzgl. der konkreten Maßnahme „Ausgangsbeschränkungen“ muss somit unbeachtlich sein und spricht nicht gegen die Heranziehung der Generalklausel.
 
(2) Bestimmtheitsgrundsatz/Gesetzesvorbehalt (abgeleitet aus Art. 20 III GG)
Gewichtiger sind die Einwände, die § 28 I 1 IfSG angesichts der damit intendierten schwerwiegenden Grundrechtseingriffe für nicht bestimmt genug halten.
„Notwendige Schutzmaßnahmen“ sind tatsächlich ein sehr dehnbarer Begriff und auf den ersten Blick wenig aufschlussreich bzgl. der konkreten Maßnahmen.
Zwar darf der Gesetzgeber grundsätzlich unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden; je höher jedoch die Eingriffsintensität einer Maßnahme ist, desto höher sind die Anforderungen an die Bestimmtheit der Befugnisnorm (Holzner, in: BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, 12. Edition, Stand: 1.2.2019, Art. 11 PAG Rn. 130).
Im Falle von umfassenden Ausgangsbeschränkungen ist die Eingriffsintensität sehr hoch (v. a. Art. 2 II 2 i. V. m. Art. 104 GG). Dementsprechend sind auch hohe Anforderungen an die Bestimmtheit zu stellen, denen die Formulierung „notwendige Schutzmaßnahmen“ bei Erlass von generellen Ausgangsbeschränkungen nach der überwiegenden Zahl der Autoren nicht gerecht wird (Edenharter, Freiheitsrechte ade? Die Rechtswidrigkeit der Ausgangssperre in der oberpfälzischen Stadt Mitterteich VerfBlog 2020/3/19, https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/; Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland? JuWissBlog Nr. 27/2020 v. 18.3.2020, https://www.juwiss.de/27-2020).
Aber: Das BVerfG billigt im Gefahrenabwehrrecht (hierzu zählt auch das IfSG) zumindest die vorläufige Anwendung von Generalklauseln bei unvorhergesehenen Gefahrensituationen, sofern bei dauerhafter Ausweitung der Einzelfallanordnung eine gesetzgeberische Reaktion erfolgt (BVerfG, Beschl. v. 8.11.2012 – 1 BvR 22/12).
Dem ist m. E. auch bei Ausgangsbeschränkungen im Rahmen der „Corona-Krise“ zuzustimmen (in diese Richtung auch Kießling, Ausgangssperren wegen Corona nun auch in Deutschland (?), JuWissBlog Nr. 29/2020 v. 19.3.2020, https://www.juwiss.de/29-2020/). Gerade das Gefahrenabwehrrecht zeichnet sich durch seine Schnelllebigkeit und das Erfordernis kurzfristiger Reaktion auf neuartige Bedrohungen aus. Dem Gesetzgeber als Adressat des Bestimmtheitsgrundsatzes kann somit nicht abverlangt werden, alle grundrechtsintensiven Maßnahmen von vornherein detailliert zu regeln. Denn dann könnte er seiner Schutzpflicht zugunsten des Lebens und der Gesundheit von Menschen (vgl. Art. 2 II 1 GG) nicht gerecht werden.
Die Corona-Pandemie ist geradezu paradigmatisch für eine solche unvorhersehbare Gefahrenlage, die eine vorübergehende Anwendung der Generalklausel ermöglicht.
Der Bestimmtheitsgrundsatz steht somit der Heranziehung der Generalklausel des § 28 I 1 IfSG nicht entgegen.
 
(3) Sperrwirkung von § 32 IfSG

Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen.

(Satz 1)

Die Grundrechte der […] Freizügigkeit (Artikel 11 Abs. 1 des Grundgesetzes) […] können insoweit eingeschränkt werden.“

(Satz 3)
Interessant ist aber, ob § 32 IfSG ein Handeln durch Allgemeinverfügung sperrt. Aus der Norm wird teils e contrario abgeleitet, dass umfassende Freizügigkeitsbeschränkungen nur in Form von Rechtsverordnungen und nicht als Allgemeinverfügung erlassen werden können. Denn im Gegensatz zu § 28 IfSG erklärt § 32 IfSG explizit das Grundrecht der Freizügigkeit für einschränkbar (Kingreen, Whatever it Takes? Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona, VerfBlog 2020/3/20, https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes/).
Der Wortlaut („auch durch Rechtsverordnung“) spricht indes dagegen, dass § 32 IfSG ein Handeln nach § 28 I 1 IfSG sperrt, sondern setzt voraus, dass beides möglich ist (daher bestehen auch die gleichen tatbestandlichen Voraussetzungen).
Auch die fehlende Zitierung von Art. 11 I GG ist in den Fällen von Ausgangsbeschränkungen unschädlich. Art. 11 I GG und Art. 2 II 2 GG (der von § 28 I 4 IfSG zitiert wird), stehen nach h. M. in einem Exklusivitätsverhältnis (stellvertretend Ogorek, in: BeckOK-GG, 42. Edition, Stand: 1.12.2019, Art. 11 Rn. 56).  Bei einer Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit („Einsperrung“) genügt somit das Zitieren von Art. 2 II 2 GG. Bei den Ausgangsbeschränkungen handelt es sich um solche Einschränkungen der körperlichen Fortbewegungsfreiheit (siehe Nr. 4 der AV Bayern: „Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt“).
Damit kann § 32 IfSG insgesamt keine Sperrwirkung entnommen werden.
Selbst wenn man dies anders sähe, hat die Bayerische Staatsregierung hierauf bereits reagiert und am 24.3.2020 eine der AV Bayern inhaltlich weitgehend entsprechende Rechtsverordnung erlassen (BayMBl. 2020 Nr. 130, online abrufbar unter: https://www.verkuendung-bayern.de/files/baymbl/2020/130/baymbl-2020-130.pdf).
 
2. Sonstige Befugnisse
Sonstige Befugnisnormen, insbesondere Art. 7 II LStVG, Art. 11 I PAG treten als legi generali gegenüber dem – selbst mit einer Generalklausel ausgestatteten – IfSG zurück.
 
3. Zwischenergebnis
Allgemeine Ausgangsbeschränkungen lassen sich (vorläufig) auf § 28 I 1 IfSG stützen (nach a. A. besteht de lege lata keine taugliche Rechtsgrundlage).
 
Hinweis: In Bayern wurden die Ausgangsbeschränkungen kumulativ auf § 28 I 1 und 2 IfSG gestützt. Dies dürfte in verwaltungsrechtlicher Hinsicht unproblematisch sein, da die Rechtsprechung großzügig ist und auch noch den Austausch der Rechtsgrundlage in einem etwaigen Prozess zulässt.
Jedoch stellt ein Verstoß gegen § 28 I 1 IfSG gem. § 73 Ia Nr. 6, II IfSG eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit einer Geldbuße von bis zu 2.500 € sanktioniert werden kann. Nur im Ausnahmefall bei vorsätzlicher Verbreitung der Krankheit ist an den Verstoß gem. § 74 IfSG eine Straftat geknüpft.
Ein Verstoß gegen § 28 I 2 IfSG ist hingegen gem. § 75 I Nr. 1 IfSG direkt eine Straftat mit bis zu zwei Jahren Haft.
Die Ahndung von etwaigen Verstößen kann daher mit Art. 103 II, III GG konfligieren. Bayern versucht dieses Problem zu vermeiden, indem in Nr. 7 der AV Bayern generell nur eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit vorgesehen ist. Interessanterweise fehlt eine Nr. 7 der AV Bayern entsprechende Regelung in der nunmehr geltenden Verordnung vom 24.3.2020.
 
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Sachlich und örtlich zuständig für den Erlass allgemeiner Ausgangsbeschränkungen für den gesamten Freistaat Bayern ist gem. § 28 I 1 IfSG i. V. m. § 65 S. 2 Nr. 2 ZustV das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege als oberste Landesgesundheitsbehörde.
Eine vorherige Anhörung ist gem. Art. 28 II Nr. 4 Var. 1 BayVwVfG nicht erforderlich.
Nach Art. 39 II Nr. 5 BayVwVfG bedarf die Allgemeinverfügung im Falle öffentlicher Bekanntmachung (so in Bayern erfolgt) auch keiner Begründung (gleichwohl enthält die AV Bayern eine Begründung).
 
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Feststellung von Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern

Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtigte oder Ausscheider festgestellt

(Alt. 1)
oder

ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war (Alt. 2)
so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen […], soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.

In Bayern wurden bereits (zahlreiche) Infizierte festgestellt. Der Tatbestand der Generalklausel des § 28 I 1 IfSG ist somit erfüllt.
 
2. Verhältnismäßigkeit
Maßnahmen sind nur zulässig, soweit und solange zur Verhinderung übertragbarer Krankheiten erforderlich sind. Mithin ist sowohl in zeitlicher als auch inhaltlicher Hinsicht – bereits auf Tatbestandsebene – eine Verhältnismäßigkeitskontrolle angezeigt.
Die Verhängung einer allgemeinen Ausgangsbeschränkung für die Dauer von zwei Wochen (so die AV Bayern) müsste also einen legitimen Zweck verfolgen und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein.
 
a) Legitimer Zweck
Die Bekämpfung der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus und damit der Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen stellt ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel dar (vgl. Art. 2 II 1 GG).
 
b) Geeignetheit/Erforderlichkeit
Zwar halten nicht alle Experten die Verhängung von umfassenden Ausgangsbeschränkungen für erforderlich.
Gleichwohl besteht aber ein Einschätzungsspielraum des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege. Es genügt, dass die verfolgten Zwecke zumindest gefördert werden und nicht offensichtlich ins Leere laufen oder durch mildere Maßnahmen ersetzt werden könnten. Offensichtliche Ungeeignetheit ist wegen der weitgehenden Reduktion menschlichen Kontakts als nach dem Stand der Forschung hauptausschlaggebende Quelle der Verbreitung nicht erkennbar. Mildere Mittel sind bislang angesichts der stark steigenden Zahl der Infektionen ebenfalls nicht auf den ersten Blick ersichtlich.
 
c) Angemessenheit
Die verfolgten Ziele der Maßnahme sind mit den betroffenen Grundrechtspositionen in einen schonenden Ausgleich zu bringen („praktische Konkordanz“). Hier greift die AV Bayern in bedeutende Grundrechte ein und es besteht – auch aufgrund der hohen Zahl der Betroffenen – eine hohe Eingriffsintensität (v. a. bzgl. Art. 8 I GG, Art. 2 II 2 GG).
Demgegenüber gefährdet die weitere Ausbreitung des Virus ebenfalls überragend wichtige Gemeinschaftsgüter des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung (Art. 2 II 2 GG).
Entscheidend ist angesichts der beidseitig sehr bedeutsamen Grundrechtspositionen die konkrete Ausgestaltung der Ausgangsbeschränkungen. Jedenfalls unverhältnismäßig dürfte eine komplette Ausgangssperre mit der Wirkung einer Freiheitsentziehung sein (dann dürften auch Ärzte das Haus nicht mehr verlassen, womit eine solche Ausgestaltung schon ungeeignet wäre, den bezweckten Zielen Rechnung zu tragen). Diese würde dazu führen, dass sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung auf Dauer eher negativ als positiv entwickelt (Edenharter, Freiheitsrechte ade? Die Rechtswidrigkeit der Ausgangssperre in der oberpfälzischen Stadt Mitterteich VerfBlog 2020/3/19, https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/). Eine solche komplette Ausgangssperre enthält die AV Bayern indes nicht (daher der treffende Begriff der Ausgangsbeschränkung).
Die AV Bayern enthält in Nr. 5 lit. a)-h) nämlich einige – nicht abschließende – triftige Gründe für das Verlassen der Wohnung, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragen sollen:

a) die Ausübung beruflicher Tätigkeiten,
 b) die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (z. B. Arztbesuch, medizinische Behandlungen; Blutspenden sind ausdrücklich erlaubt) sowie der Besuch bei Angehörigen helfender Berufe, soweit dies medizinisch dringend erforderlich ist (z. B. Psycho- und Physiotherapeuten),
 c) Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs (z. B. Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Tierbedarfshandel, Brief- und Versandhandel, Apotheken, Drogerien, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräteakustiker, Banken und Geldautomaten, Post, Tankstellen, Kfz-Werkstätten, Reinigungen sowie die Abgabe von Briefwahlunterlagen). Nicht zur Deckung des täglichen Bedarfs gehört die Inanspruchnahme sonstiger Dienstleistungen wie etwa der Besuch von Friseurbetrieben,
 d) der Besuch bei Lebenspartnern, Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen (außerhalb von Einrichtungen) und die Wahrnehmung des Sorgerechts im jeweiligen privaten Bereich,
 e) die Begleitung von unterstützungsbedürftigen Personen und Minderjährigen,
 f) die Begleitung Sterbender sowie Beerdigungen im engsten Familienkreis,
 g) Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung und
 h) Handlungen zur Versorgung von Tieren.

Insbesondere die Möglichkeit des Aufenthalts an der frischen Luft gem. Nr. 5 lit. g) der AV Bayern dürfte die Bedenken bezüglich einer kontraproduktiven negativen Gesundheitsbeeinträchtigung entkräften.
Gleichwohl wird diskutiert, ob angesichts der enormen Tragweite der Regelungen nicht sogar gem. Art. 19 II GG ein Eingriff in den Wesensgehalt von einigen Grundrechten vorliegt. Schließlich sind beispielsweise Versammlungen (Art. 8 I GG) und Gottesdienste (Art. 4 I, II GG) vollumfänglich jedermann in Bayern gänzlich untersagt.
Einen Wesensgehaltseingriff gem. Art. 19 II GG begründet dies jedoch m. E. noch nicht. Angesichts der zeitlichen Befristung der Maßnahme auf zwei Wochen ist eine gänzliche Versagung von Grundrechtspositionen nicht gegeben. Im Übrigen ist Art. 19 II GG wie auch Art. 1 I 1 GG restriktiv auszulegen, um eine individuelle Abwägung von Freiheitsräumen zu gewährleisten und absolute Betrachtungen, die dem Mantra der praktischen Konkordanz fremd sind, zu vermeiden.
Gleichwohl bleibt die künftige Entwicklung zu beobachten, da die Eingriffsintensität mit fortschreitender Dauer der Ausgangsbeschränkungen graduell ansteigt.
Für den aktuellen Zeitpunkt dürfte angesichts der zahlreichen Ausnahmen die AV Bayern einer gerichtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle standhalten.
 
IV. Fazit
Allgemeine Ausgangsbeschränkungen lassen sich (vorläufig) auf § 28 I 1 IfSG stützen, wobei der Gesetzgeber bei längerem Andauern der Maßnahmen gehalten ist, spezielle Eingriffsbefugnisse zu schaffen. Diese Eingriffsbefugnisse sollen nun im Rahmen des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundesgesetzgeber geschaffen werden. Insbesondere die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Ausgangsbeschränkungen entscheidet über deren Verhältnismäßigkeit, wobei ein Wesensgehaltseingriff zumindest nach aktuellem Stand abzulehnen ist. Anhand dieser Maßstäbe ist die AV Bayern insgesamt als rechtmäßig anzusehen.

30.03.2020/7 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2020-03-30 09:10:392020-03-30 09:10:39Rechtmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen anlässlich der Corona-Pandemie am Beispiel der Allgemeinverfügung in Bayern

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