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Schlagwortarchiv für: Identitätskontrolle

Gastautor

Aktuelle Entwicklungen zum Grundsatz des Anwendungsvorrangs im Unionsrecht

Europarecht, Rechtsgebiete, Startseite, Tagesgeschehen, Verfassungsrecht, Völkerrrecht

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Nina Alizadeh Marandi, LL.M. veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Rechtsreferendarin am OLG Hamburg und in der Kanzlei Menschen und Rechte in Hamburg tätig.
 
I. Hintergrund
Wie die Berichte der Kommission zur Rechtsstaatlichkeit von September 2020 und Juli 2021 zeigen, ist die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten trotz generell hoher Standards kein unantastbares Gut. Neben Defiziten in der Medienfreiheit und des Medienpluralismus in Ungarn hat sich auch die Situation in Polen mit Blick auf die Unabhängigkeit der Justiz systematisch verschlechtert. Die polnische Regierung begann 2015 eine schrittweise Justizreform und verfolgte damit das Ziel einer stärkeren Kontrolle der Politik über die Gerichte. Die Rechtsstaatskrise der EU fand darauf einen weiteren Höhepunkt in einer Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts (Tribunal Konstytucyjny, 07.10.2021 – K 3/21), welches sich am 07.10.2021 gegen den Anwendungsvorrang des Unionsrechts ausspricht, und damit einen der Grundpfeiler der europäischen Rechtsunion antastet.
Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht ist im Lissabon-Vertrag nicht verbindlich geregelt. Lediglich die rechtlich unverbindliche Erklärung Nr. 17 statuiert, dass „die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.“ Ungeachtet einer fehlenden verbindlichen normativen Verankerung geht der EuGH von einem umfassenden Anwendungsvorrang des gesamten unmittelbar anwendbaren Primär- und Sekundärrechts vor dem nationalen Recht aus (EuGH, 15.07.1964 – 6/64, Costa/ENEL). Dieser Grundsatz ist von allen mitgliedstaatlichen Stellen zu beachten. Nationale Gerichte, die mit einem Konflikt zwischen nationalem und EU-Recht konfrontiert sind, haben nach der Rechtsprechung des EuGH damit das EU-Recht anzuwenden. Bei Zweifeln müssen die Gerichte in einem Vorabentscheidungsverfahren den EuGH anrufen. Dieser hat nach Art. 19 I 2 EUV die Anwendungs- und Auslegungshoheit über das Unionsrecht. Hiernach sind seine Entscheidungen bindend und auf nationaler Ebene unantastbar. Damit gewährleistet der Anwendungsvorrang eine einheitliche Auslegung und Anwendung der europäischen Regelungen.
Grundsätzlich stand der Anwendungsvorrang in den Mitgliedstaaten bislang nicht in Frage, auch wenn nur wenige das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht ausdrücklich kodifiziert haben. Entgegen der Rechtsprechung des EuGH wird jedoch der Vorrang des Unionsrechts insbesondere gegenüber nationalem Verfassungsrecht in den Mitgliedstaaten nur unter Vorbehalten anerkannt. Hierbei wird regelmäßig auf die in Art. 4 II 1 EUV anerkannte mitgliedstaatliche Souveränität verwiesen, die bei fortschreitender Integration nach dieser Ansicht nur gewahrt werden kann, wenn die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten unantastbar sei. In einer BVerfG-Auflistung vom Juni 2021 werden neben Deutschland und Polen auch Dänemark, Belgien, Estland, Frankreich, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Spanien und Tschechien als Mitgliedstaaten genannt, die Vorbehalte gegen den Anwendungsvorrang des Unionsrechts geäußert haben (BVerfG, 23.06.2021 – 2 BvR 2216/20, Rn 74.).
In der Ermittlung der Kompetenzverhältnisse zwischen Union und Mitgliedstaaten spielen die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte eine wichtige Rolle. Als zentraler Taktgeber fungiert hierbei das BVerfG, welches von einem Vorrang des Unionsrechts ausgeht, jedoch nur in Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten der EU eine Kompetenz eingeräumt haben. Mit Einführung der Verfassungsidentitätskontrolle (BVerfG, 30.06.2009 – 2 BvE 2, 5/08, Lissabon Entscheidung) und ultra-vires-Kontrolle (BVerfG, 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92, Maastricht Entscheidung; BVerfG, 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06, Honeywell Entscheidung) beansprucht das BVerfG die Kontrolle über die in Art. 23 I 3 i.V.m. Art. 79 III GG kodifizierten Kernelemente der deutschen Verfassung und über die Frage, inwieweit der EU im konkreten Fall Kompetenzen übertragen wurden, für sich. Dies begründet Karlsruhe damit, dass der EuGH andernfalls die Kompetenz hätte, seinen eigenen Kompetenzrahmen festzulegen. Eine sogenannte Kompetenz-Kompetenz lehnt das BVerfG ab und behält sich damit selbst gerichtliche Kontrollkompetenzen in Bezug auf unionale Rechtsakte vor. Während diese Werkzeuge durch eine restriktive und „europarechtsfreundliche Ausübung lange keine offenen Konflikte mit dem Unionsrecht hervorriefen, hat Karlsruhe in den letzten Jahren die Autorität des EuGH in Frage gestellt und 2020 erstmalig einen Akt ultra-vires festgestellt (BVerfG, 05.05.2020 – BvR 859/15, PSPP-Urteil).
 
II. Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des polnischen Verfassungstribunals
1. Die ultra-vires Kontrolle des BVerfG
In einem Beschluss vom 18.06.2017 hat das BVerfG dem EuGH mehrere Fragen zum Anleihenkaufprogramm der EZB im Rahmen einer Vorabentscheidung mit Verweis auf das Verbot monetärer Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV) und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I EUV, Artt. 119, 127 ff. AEUV) vorgelegt. Der EuGH qualifizierte die Beschlüsse der EZB im Rahmen des Public Purchase Programm (PSPP) als rechts- und kompetenzmäßig (EuGH, 11.12.2018 – C-493/17). Dennoch hat das BVerfG in seiner PSPP-Entscheidung vom 05.05.2020 den Verfassungsbeschwerden stattgegeben und das Anleihenkaufprogramm der EZB und die Entscheidung des EuGH als Akt ultra-vires gekennzeichnet. Einen Verstoß gegen Art. 123 AEUV verneinte das BVerfG.
Inhaltlich moniert das BVerfG die fehlende Beachtung tatsächlicher Wirkungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere für Immobilienkäufer*innen und Sparer sowie den Verzicht auf eine wertende Gesamtbetrachtung. Zudem habe der EuGH sich in seiner Prüfung auf offensichtliche Verstöße und Bearbeitungsfehler durch die EZB beschränkt. Das BVerfG stellt dazu fest, dass der mit der Funktionszuweisung des Art. 19 I 2 EUV verbundene Rechtsprechungsauftrag des EuGH dort endet, wo eine Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich ist. Die sich aus der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG ergebenden engen Kriterien der ultra-vires-Kontrolle (hinreichend qualifizierter Kompetenzverstoß, der ein offensichtliches kompetenzwidriges Handeln der Unionsgewalt und eine strukturell bedeutsame Verschiebung innerhalb des Kompetenzgefüges zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen voraussetzt) sind aus Sicht des BVerfG in diesem Fall erfüllt.
Die Kommission erklärte, das BVerfG habe mit seiner Entscheidung gegen die Autonomie, den Anwendungsvorrang, die Effektivität und den Grundsatz der einheitlichen Anwendbarkeit und damit gegen grundlegende Prinzipien des Unionsrechts verstoßen. Zudem habe das BVerfG mit seiner Entscheidung einem Urteil des EuGHs seine Rechtswirkung abgesprochen und damit in dessen in Art. 19 EUV i.V.m. Art. 267 AEUV kodifizierten Rechtsprechungsmandat eingegriffen. Am 09.06.2021 wurde auf dieser argumentativen Grundlage ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eröffnet.
 
2. Das polnische Verfassungstribunal
Auf diese und vorangegangene Entscheidungen aus Karlsruhe berufen sich eine Vielzahl nationaler Verfassungsgerichte implizit oder explizit, so zuletzt das polnische Verfassungstribunal in seiner Entscheidung vom 07.10.2021. Das polnische Justizsystem wurde seit Amtsantritt des Regierungschefs Morawiecki 2015 in einer vielkritisierten Reform systematischen Änderungen unterzogen. So urteilte der EGMR am 07.05.2021 (EGMR, 07.05.2021 – 4907/18, Case of Xero Flor v Poland), dass das polnische Verfassungstribunal bereits 2015 durch ein nicht rechtskonformes Verfahren besetzt wurde.
Eben dieses Verfassungstribunal forderte Regierungschef Morawiecki auf, eine Entscheidung des EuGH (EuGH, 02.03.2021 – C-824/1), welche die polnische Justizreform betraf, auf seine Kompatibilität mit dem polnischen Verfassungsrecht zu prüfen. In seinem Urteil vom 02.03.2021 hatte der EuGH festgestellt, dass Mitgliedstaaten durch Unionsrecht gezwungen sein können, selbst nationales Verfassungsrecht außer Acht zu lassen. Die polnischen Richter*innen entschieden im Urteil vom 07.10.2021, der EuGH könne nicht über die polnische Justiz urteilen:

Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstößt gegen (…) die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt bleibt.

Mit dieser Entscheidung haben Artt. 1 und 19 EUV nicht länger Vorrang vor der polnischen Verfassung. Damit muss die polnische Regierung die Urteile des EuGH, der die polnische Justizreform regelmäßig als nicht europarechtskonform gekennzeichnet hat, nicht mehr umsetzen. Kernstück der Entscheidung ist mithin Polens staatliche Souveränität und rechtliche Autorität.
Eine Einmischung der EU-Organe in das polnische Justizwesen läge, aus Sicht der polnischen Richter‘*innen, außerhalb der Grenzen ihrer Kompetenz. Nach dieser Argumentationslinie hat die EU auch keine Kompetenz, finanzielle Sanktionen bezüglich der Justizreform gegen Polen zu verhängen. Eben solche hat die Kommission im Streit um die polnische Disziplinarkammer gefordert und der EuGH am 27.10.2021 verhängt. Polen hat hiernach, bis zur Einstellung der Tätigkeiten der Disziplinarkammer, täglich eine Strafe in Höhe von einer Million Euro zu zahlen.
 
III. Stellungnahme
Während einige Stimmen das viel kritisierte polnische Urteil mit dem Urteil des BVerfG vom 20.05.2020 gleichsetzen, wird von anderer Seite argumentiert, dass das BVerfG lediglich ausnahmsweise und ausdrücklich auf den Einzelfall beschränkt einen Sekundärrechtsakt einer EU-Institution für ultra-vires erklärt hat. Die Kommission hält das PSPPR-Urteil hingegen für „einen ernstzunehmenden Präzedenzfall sowohl für die künftige Praxis des Gerichts selbst als auch für die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten“.
Das BVerfG hat noch nie grundsätzlich den Vorrang des EU-Primärrechts angegriffen und mit diesem Grundsatz auch in dieser Entscheidung nicht gebrochen. Karlsruhe begründete substantiiert, weshalb es nicht an die Entscheidung des EuGH gebunden sei und hob den Ausnahmecharakter dieser Entscheidung mehrmals unter Verwendung diplomatischer Formulierungen hervor. So fordert Karlsruhe, Spannungslagen seien „kooperativ auszugleichen” und „durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen“.
Die Richter*innen aus Karlsruhe argumentieren fallbezogen und sachlich, und kündigen keinen grundsätzlichen systematischen Paradigmenwechsel an. Es kann mithin behauptett werden, das BVerfG habe den EuGH lediglich dafür kritisiert, mit Blick auf das Anleiheprogramm keine hinreichende Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt zu haben. Um eine Frage des Anwendungsvorrangs habe sich der Streit nicht gedreht. Vielmehr habe Karlsruhe mehr und nicht weniger Kontrolle durch den EuGH gefordert.
Das polnische Verfassungsgericht geht im Oktober deutlich weiter als das BVerfG oder andere Höchstgerichte, die Vorbehalte gegen den Anwendungsvorrang geäußert haben. Es werden nicht punktuelle Aspekte europaschonend infrage gestellt, sondern mehrere Bestimmungen generell für verfassungswidrig erklärt.
Dennoch haben sich beide Gerichte die Kompetenz verliehen, über die juristische Qualität oder generelle Richtigkeit von EuGH-Entscheidungen zu urteilen und zu abweichenden Ergebnissen bezüglich der Einhaltung von Unionsrecht durch Unionsinstitutionen zu gelangen. Da die Verträge nach Art. 19 I 2 EUV einen Auslegungsvorbehalt des EuGH vorsehen und ihn zum wachenden Organ über die Anwendung der Verträge erklären, bedeutet auch ein Außerachtlassen seiner Entscheidungen eine Abwendung vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Wenn sich das BVerfG anmaßen kann, den Urteilen des EuGH nur Folge zu leisten, wenn sie seinen juristischen Qualitätsansprüchen genügen, lässt sich schwerlich begründen, weshalb einem anderen mitgliedstaatlichen Verfassungsgericht ein ähnliches Vorgehen verwehrt bleiben soll. Inwieweit in diesem Rahmen die Frage der „Kompetenz-Kompetenz“ zu klären ist, bleibt weiterhin offen. Sicher ist nur, dass ein Verweis auf die deutsche Verfassungsidentität und das darin enthaltene Demokratieprinzip auf der Suche nach einer gesamteuropäischen Lösung nicht weiterhelfen kann.
Karlsruhe wirkt mithin, wie bereits von der Kommission befürchtet, als Vorreiter und Schutzschirm für Staaten mit autoritären Tendenzen, die sich nun mit einem Verweis auf die Rechtsprechung aus Karlsruhe legitimiert, von unionsrechtlichen Grundwerten abwenden können. Dies gilt vor allem, wenn der Grundsatz von der Gleichheit der Mitgliedstaaten weiterhin als Grundstein für europäische Politik fungieren soll.
 
IV. Reaktionsmöglichkeiten der Kommission und der neuen Bundesregierung
Mit ihrem Beitritt zur EU verpflichteten sich die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des in Art. 4 III EUV kodifizierten Loyalitätsprinzips, die Jurisdiktion und Zuständigkeit des EuGH zu respektieren und jede von ihm gefällte Entscheidung umzusetzen.
Systematische Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit stellen eine Gefahr für die gesamte EU dar, die auf ein intaktes Justizsystem und unabhängige Gerichte in den Mitgliedstaaten angewiesen ist. Ein Vorgehen der Kommission gegen mitgliedstaatliches Handeln, das eine Abkehr von den in Art. 2 EUV normierten Grundwerten darstellt ist daher zwingend erforderlich. Allerdings müssen neben den Grundwerten der Union auch ihre Funktionsfähigkeit, die Möglichkeit eines europäischen Dialogs und die europäische Solidarität die Maßnahmen der Union lenken.
Die Vielschichtigkeit und Komplexität dieser Aspekte prägte auch die Debatte der Mitgliedstaaten beim EU-Gipfel am 22.10.2021 und sorgte für Unstimmigkeit. Während die Benelux-Staaten auf ein hartes Vorgehen gegen Polen setzen, plädiert Deutschland für Dialog. Regierungschef Morawiecki erklärte währenddessen, dass er sich nicht von der Union erpressen lasse.
 
1. Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 AEUV, Art. 259 AEUV
Der EuGH hat in vergangenen Urteilen dargestellt, dass der Rückbau rechtsstaatlicher Prinzipien nach einem EU-Beitritt einen Verstoß gegen das Primärrecht darstellt (EuGH, 20.04.2021 – C-896/19). Die Kommission kann als Hüterin der Verträge gegen Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Hierfür muss der der betroffene Staat Gelegenheit bekommen, den monierten Verstoß zu beheben. Erfolgt dies nicht, kann die Kommission eine Verurteilung durch den EuGH anstreben. Im Anschluss kann die Kommission nach Art. 260 AEUV eine Verurteilung zur Zahlung von Strafgeldern beantragen. Auch besteht die Möglichkeit der Einleitung eines zwischenstaatlichen Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV.
Die Liste der gegen Polen eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren ist lang. Die monierten Verstöße reichen von der Frage nach der Unabhängigkeit polnischer Richter*innen über den Streit um die Disziplinarkammer bis hin zu Verstößen gegen die Meinungsfreiheit und Diskriminierung wegen sexueller Orientierung. Der andauernde Streit zeigt jedoch, dass Polen nur kleinschrittig, wenn überhaupt, auf die Forderungen der Kommission reagiert. Vielmehr ist zu beobachten, dass sich Polen in eine Außenseiterrolle zurückzieht, anstatt unter dem Druck der europäischen Organe zu den Grundwerten und einem europäischen Miteinander zurückzukehren. Jüngste Entwicklungen lassen zudem vermuten, dass sich Polen in Zukunft wohl auch den Anweisungen des EuGH entziehen wird.
 
2. Artikel-7-Verfahren
Eines der Hauptinstrumente der Kommission zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und der in Art. 2 EUV kodifizierten Werte ist das Verfahren nach Art. 7 EUV. Hiernach können Mitgliedstaaten bestimmte Mitgliedschaftsrechte, wie etwa ihr Stimmrecht im Rat, entzogen werden. Ein solches Verfahren wurde bereits im Dezember 2017 gegen Polen eingeleitet. Das Verfahren bedarf allerdings einer einstimmigen Entscheidung des Europäischen Rates und wird von Ungarn, gegen das ebenfalls ein Verfahren nach Art. 7 EUV eingeleitet worden ist, blockiert. Da eine Änderung dieses Zustandes nicht abzusehen ist, steht auch diese Sanktionsmöglichkeit tatsächlich nicht zur Verfügung.
 
3. Rechtsstaatskonditionalität
Um trotz solcher Blockierungen anderweitig Sanktionen einleiten zu können, wurde 2020 der Mechanismus der Rechtsstaatskonditionalität eingeführt. Bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und EU-Grundwerte können darauf EU-Gelder gestrichen werden. Voraussetzung hierfür ist, dass der Verstoß nachweislich Auswirkungen auf den EU-Haushalt hat oder ein ernsthaftes Risiko besteht, dass sich derartige Auswirkungen ergeben können. Maßnahmen, die im Widerspruch zu den EU-Werten stehen, sollen nicht aus EU-Geldern finanziert werden können. Der Rechtsstaatsmechanismus, der der Union einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit und Schlagkraft wiederverschaffen sollte, scheitert jedoch schon jetzt an der Widerspenstigkeit der Mitgliedstaaten. So haben Ungarn und Polen die Vereinbarkeit des Mechanismus mit Unionsrecht gerügt. Solange derartige Klagen beim EuGH anhängig sind, kann der Mechanismus nicht vollständig ausgearbeitet und zur Anwendung gebracht werden.
 
4. Politischer Druck
Es gibt für die Mitgliedstaaten auch jenseits der vertraglich festgelegten Instrumente Möglichkeiten, die Kommission in ihren Bestrebungen politisch zu unterstützen und gegen die Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien durch einzelne Mitgliedstaaten vorzugehen. Besonders eine Isolation im Rat kann es diesen Staaten erschweren, ihre nationalen Interessen auf europäischer Ebene durchzusetzen.
 
5. Finanzielle Druckmittel
Sollten Mitgliedstaaten Sanktionen nicht bezahlen, hat die Kommission die Möglichkeit der Aufrechnung („Offsetting“), bei welcher fällige Sanktionen mit Auszahlungen an einen Mitgliedstaat verrechnet werden können. Der Grünen-Abgeordnete Daniel Freud weist jedoch drauf hin, dass die Summe der gegen Polen ausstehenden Sanktionen lediglich 3,07 % der dem Staat zustehenden europäischen Haushaltsmittel ausmacht. Ein Betrag, der Polen wohl kaum genug schmerzen dürfte, um sich den Urteilen des EuGH zu beugen.
Derzeit werden gegenüber Polen Wiederaufbauhilfen in Höhe von fast 24 Milliarden Euro zurückgehalten. Eine offizielle Begründung hierfür und damit eine Einordnung in den Maßnahmenkatalog durch die Kommission erfolgte jedoch noch nicht. Eben dies ist wiederum kritikwürdig: Sanktionen sollten eindeutig und transparent als solche kommuniziert und an bestimmte Handlungen des betroffenen Mitgliedstaates geknüpft werden. Ein nebulöser Verweis auf rechtsstaatliche Bedenken reicht hierbei nicht aus. Zudem müssen sie sich in den normativ zur Verfügung stehenden Sanktionenkatalog einordnen lassen. Jedes hinter diesen Anforderungen zurückfallende Vorgehen ermöglicht es der polnischen Regierung, sich zum Opfer europäischer Willkür zu stilisieren und trägt zur Zuspitzung der Situation bei.
 
6. Die Rolle der Bundesrepublik
Der Kampf der supranationalen Institutionen gegen die polnische Justizreform und Rechtsstaatskrise fand seinen erfolglosen Anfang 2015 und konnte seitdem kaum Ergebnisse aufweisen. Die Institutionen finden sich daher in einem Balanceakt zwischen dem Streben nach Schlagkraft und Glaubwürdigkeit der Union, dem Erhalten der Möglichkeit zum Dialog und dem Vermeiden von öffentlichen Blamagen. Denn ein System, das sein scharfes Schwert zur Anwendung bringt sollte sicherstellen, dass es auch schneidet. Deutlich ist daher, dass die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Linie finden müssen und damit den Schutz der Union und ihrer Werte gewährleisten. Die Bundesrepublik sollte in ihrer Positionierung gegen den Mitgliedstaat mit Blick auf das PSPP-Urteil des BVerfG behutsam vorgehen. Auf Achtung des Grundsatzes der Gleichheit der Mitgliedstaaten sollte hierbei Wert gelegt werden. Vielmehr ist es nun an der Bundesrepublik zu demonstrieren, dass ein Vertragsverletzungsverfahren auch eine Chance des Dialogs mit der Kommission sein kann und als Werkzeug für konstruktive Ergebnisse genutzt werden muss. Zudem ist es an der Bundesrepublik, im Rat den Prozess für eine europäische Lösung der Kompetenzfrage anzustoßen. Weitere nationale Alleingänge diesbezüglich müssen vermieden werden, um die Funktionsfähigkeit der Union und die harmonisierte Anwendung des europäischen Rechts weiterhin zu gewährleisten.

29.11.2021/0 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-11-29 08:13:132021-11-29 08:13:13Aktuelle Entwicklungen zum Grundsatz des Anwendungsvorrangs im Unionsrecht
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG: EZB-Anleihekäufe teilweise kompetenzwidrig

Europarecht, Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.5.2020 (Az. 2 BvR 859/15 u.a.), das mehreren Verfassungsbeschwerden im Hinblick auf das Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise stattgab, hat große mediale Aufmerksamkeit erhalten. Neben spezifischen Fragen der Währungs- und Wirtschaftspolitik werden vor allem europarechtliche Fragestellungen zur Kompetenzverteilung innerhalb der Europäischen Union relevant, die jedem Examenskandidaten geläufig sein sollten. Dies führt – neben der politischen Tragweite der Entscheidung – zu einer besonders hohen Examensrelevanz. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die wesentlichen Verfahrensfragen und Entscheidungspunkte bieten.
Worum es geht
Im Jahre 2015 beschloss die EZB das Staatsanleihekaufprogramm „PSPP“. Ziel des Programms ist es, durch den Kauf von Staatsanleihen und ähnlichen Schuldtiteln die Geldmenge im Wirtschaftskreislauf auszuweiten, was Investitionen fördern und langfristig zu einer Erhöhung der Inflationsrate auf ca. 2 % führen soll. Die EZB sieht sich hierbei der fortlaufenden Kritik ausgesetzt, nicht nur die ihr übertragene Währungs-, sondern darüber hinaus kompetenzwidrig Wirtschaftspolitik zu betreiben. Der EuGH entschied indes nach Vorlage des BVerfG am 11.12.2018 (C-493/17), das PSPP halte sich im Rahmen der Kompetenzen der EZB. Das BVerfG hatte nun über mehrere Verfassungsbeschwerden zu entscheiden, die sich u.a. gegen das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages, darauf hinzuwirken, dass die Beschlüsse des EZB hinsichtlich des PSPP aufgehoben bzw. nicht durchgeführt werden, richteten. Die Beschwerdeführer machten weiterhin geltend, das Urteil des EuGH vom 11.12.2018 sei im Geltungsbereich des Grundgesetzes als Ultra-Vires-Akt nicht anwendbar.
Europarechtliche Grundlagen
Der Beschwerdegegenstand bedarf der Erläuterung: Während es den Beschwerdeführern maßgeblich darum gehen dürfte, die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse der EZB feststellen zu lassen, wenden sie sich gegen das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages. Dies ist darin begründet, dass Gegenstand der Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 1 BVerfGG nur Akte der öffentlichen Gewalt sein können, womit ausschließlich die deutsche Staatsgewalt gemeint ist (siehe BeckOK BVerfGG/Grünewald, § 90 Rn. 71). Dennoch ist die Überprüfung des Handelns von Unionsorganen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde möglich, und zwar soweit sie Grundlage von Handlungen deutscher Staatsorgane sind oder aus der Integrationsverantwortung folgende Handlungspflichten dieser auslösen (BVerfG v. 19.7.2016 – 2 BvR 2752/11, Rn. 17 und BVerfG v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13 u.a., Rn. 23). Die Beschwerdebefugnis des Einzelnen leitet das BVerfG in einem solchen Fall aus der möglichen Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG her:

„Das dem Einzelnen in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Wahlrecht zum Deutschen Bundestag erschöpft sich nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt. Der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf demokratische Selbstbestimmung gilt auch in Ansehung der europäischen Integration und schützt sie im Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 1 GG vor offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union sowie davor, dass solche Maßnahmen die Grenze der durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze des Art. 1 oder des Art. 20 GG überschreiten.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 98, Verweise im Zitat ausgelassen).

Die Kompetenzkontrolle durch das BVerfG ist also als Unterfall der Identitätskontrolle zu verstehen – der unantastbare Verfassungskern, der gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG auch den Maßstab für die Kontrolle des Unionshandelns bildet, ist berührt, wenn Unionsorgane ihre Kompetenzen überschreiten. Ein solcher Ultra-Vires-Akt ist nicht hinreichend durch die deutschen Wähler legitimiert, eine Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ist möglich.
Bei der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten ist stets das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 1 EUV zu beachten: Die EU-Organe dürfen sich stets nur im Rahmen der Kompetenzen bewegen, die ihnen ausdrücklich durch die Mitgliedsstaaten übertragen wurden. Wird die Kompetenzordnung missachtet, sieht das BVerfG den Bundestag und die Bundesregierung in der Pflicht:

„Überschreitet eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Grenzen des Integrationsprogramms in offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Weise, so haben sich Bundesregierung und Bundestag aktiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die Kompetenzordnung wiederhergestellt werden kann, und eine positive Entscheidung darüber herbeizuführen, welche Wege dafür beschritten werden sollen.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 109)

Prüft das BVerfG nun die Einhaltung dieser Verpflichtungen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde, ist entscheidend, ob tatsächlich ein Ultra-Vires-Akt eines Unionsorgans vorliegt. Für die Ultra-Vires-Kontrolle gelten dabei folgende Grundsätze:

„Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzte Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und innerhalb des Kompetenzgefüges zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen führt.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 110)

Diese Kontrolle ist zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben (siehe BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 112). Hierzu sieht das BVerfG vor, die Entscheidung über die Kompetenzüberschreitung vorrangig dem EuGH zu überlassen und dessen Entscheidung zu respektieren, solange sie sich auf methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint. An dieser Stelle zeigt sich die Brisanz der vorliegenden Entscheidung: Zum ersten Mal setzt sich das BVerfG im Rahmen der Ultra-Vires-Kontrolle über eine Entscheidung des EuGH hinweg und beanstandet diese als methodisch fehlerhaft und willkürlich.
Entscheidung des BVerfG: Anleihekäufe überschreiten Kompetenz der EZB
Denn nach Ansicht des BVerfG handelt es sich bei den Beschlüssen zum PSPP offensichtlich um eine Kompetenzüberschreitung. Das Gericht beanstandet hier allerdings weniger die Tatsache, dass Anleihekäufe getätigt werden, sondern vielmehr die Begründung der EZB. Diese genügten nicht den Anforderungen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung: Die rechtmäßige Umsetzung eines solchem Programms setze voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen würden. Dass die weitreichenden ökonomischen und sozialen Folgen des PSPP mit dessen währungspolitischen Ziel, die Inflationsrate von ca. 2 % zu erreichen, abgewogen wurde, sei aber nicht ersichtlich. Die unbedingte Verfolgung dieses Ziels, ohne die wirtschaftlichen Auswirkungen zu berücksichtigen, missachte offensichtlich den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und begründe so letztlich die Kompetenzwidrigkeit des Handelns.
Eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Programms hielt das BVerfG nicht für möglich, bis eine solche Abwägung durch die EZB stattgefunden habe.
Keine Bindung an Entscheidung des EuGH
Ausführlich begründet das BVerfG auch, warum es sich nicht an die Entscheidung des EuGH vom 11.12.2018 gebunden sieht, die die Einhaltung der Kompetenzordnung hinsichtlich des PSPP festgestellt hatte. Es erkennt zwar eine grundsätzliche Bindung an die Auslegung des EuGH an, nicht jedoch in Fällen wie dem vorliegenden, in dem das BVerfG die Entscheidung für schlechterdings nicht mehr vertretbar hält. Indem auch der EuGH bei seiner Beurteilung die tatsächlichen wirtschaftlichen Folgen außer Acht ließ, missachte er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sodass auch die Entscheidung des EuGH teilweise als Ultra-Virus-Akt anzusehen sei:

„Die Auffassung des Gerichtshofs in seinem Urteil vom 11. Dezember 2018, der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP-Programm und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, verkennt Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) offensichtlich und ist wegen der Ausklammerung der tatsächlichen Wirkungen des PSPP methodisch nicht mehr vertretbar. Das Urteil des Gerichtshofs vom 11. Dezember 2018 überschreitet daher offenkundig das ihm in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat und bewirkt eine strukturell bedeutsame Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten. Da es sich selbst als Ultravires-Akt darstellt, kommt ihm insoweit keine Bindungswirkung zu. (…) Der Ansatz des Gerichtshofs, auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen des PSPP außer Acht zu lassen und eine wertende Gesamtbetrachtung nicht vorzunehmen, verfehlt die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats von ESZB und EZB. Damit kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die ihm in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht mehr erfüllen. Diese Auslegung lässt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV im Grunde leerlaufen.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 119, 123, Verweise im Zitat ausgelassen)

Einen offensichtlichen Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung aus Art. 123 Abs. 1 AEUV sowie die Verletzung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages durch das PSPP stellte jedoch auch das BVerfG nicht fest.
Folgen der Entscheidung
Bundesregierung und Bundestag seien dazu verpflichtet, dem als Ultra-Vires-Akt zu qualifizierenden PSPP entgegenzutreten und sich schützend vor den durch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Anspruch auf Demokratie zu stellen (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 229 f.). Hierzu müssten sie auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinwirken. Nach Ablauf einer Übergangsfrist von drei Monaten sei es der Deutschen Bundesbank untersagt, an der Umsetzung des PSPP mitzuwirken, wenn die EZB die Verhältnismäßigkeit der fraglichen Beschlüsse bis dahin nicht hinreichend dargelegt habe (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 335).
Ausblick
Eine Entscheidung, der eine solche Aufmerksamkeit zu Teil wird, darf von Examenskandidaten keinesfalls ignoriert werden – sie dürfte alsbald Einzug in schriftliche und mündliche Prüfungen finden. Dies gilt umso mehr, als dass sich das BVerfG zum ersten Mal über eine Entscheidung des EuGH hinwegsetzt. Neben der vertieften Auseinandersetzung mit der Entscheidung sollten auch die Grundlagen der Identitätskontrolle im Rahmen der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG wiederholt werden.

11.05.2020/4 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-05-11 08:50:002020-05-11 08:50:00BVerfG: EZB-Anleihekäufe teilweise kompetenzwidrig
Lukas Knappe

BVerfG: Identitätskontrolle im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde

Europarecht, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Der Grundrechtsschutz durch das BVerfG kann sich im Einzelfall auch auf unionsrechtlich determinierte Hoheitsakte erstrecken, wenn dies zur Wahrung der durch Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten Verfassungsidentität unabdingbar geboten ist. Dies hat das BVerfG mit Beschluss vom 15.12.2015 (2 BvR 2735/14) im Hinblick auf das im Menschenwürdekern grundgesetzlich verankerte Schuldprinzip entschieden. Der hier vorgestellte Beschluss ist von besonderer Brisanz, da das BVerfG die Vereinbarkeit eines unionsrechtlich determinierten Hoheitsaktes mit deutschen Grundrechten überprüft und sich dabei aktiv auf das Recht zur Identitätskontrolle beruft. Es stellen sich somit nicht nur interessante grundrechtliche Fragestellungen, sondern vor allem Rechtsfragen des Mehrebenensystems. Im Kern geht es um das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht, die Prüfungskompetenz des BVerfG sowie dessen Verhältnis zu den europäischen Gerichten.

A. Sachverhalt
Gegenstand des Beschlusses ist die Verfassungsbeschwerde eines Staatsangehörigen der Vereinigten Staaten von Amerika, der sich gegen die vom Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte Auslieferung nach Italien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls richtet. Der Beschwerdeführer war im Jahr 1992 von einem italienischen Gericht in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Einfuhr und Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Im Jahre 2014 wurde er auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland festgenommen. Im Auslieferungsverfahren machte er jedoch geltend, dass er in Abwesenheit und ohne seine Kenntnis verurteilt worden sei. Darüber hinaus trug er vor, dass er in dem nach italienischem Recht eröffneten Berufungsverfahren keine erneute Beweisaufnahme erwirken könne, da dieses Verfahren lediglich eine eingeschränkte richterliche Prüfungskompetenz vorsehe. Darin sei insbesondere eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör zu sehen.

B. Entscheidung des BVerfG

1. Prüfungskompetenz des BVerfG
Zunächst stellt sich die Frage, ob das BVerfG überhaupt dazu berechtigt ist, die Grundrechtskonformität des Akts der deutschen öffentlichen Gewalt zu überprüfen, da der Hoheitsakt auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls erfolgte und somit unionsrechtlich determiniert war.

a) Grundsatz: Anwendungsvorrang des Unionsrecht
Grundsätzlich sind Hoheitsakte der EU sowie durch das Unionsrecht determinierte Akte der deutschen öffentlichen Gewalt aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht am Maßstab der deutschen Grundrechte zu prüfen.

Nach dem Grundsatz vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts setzt sich das Unionsrecht nämlich grundsätzlich uneingeschränkt gegenüber jedem nationalen Recht durch. Die Unionsrechtsordnung genießt somit im Grundsatz Vorrang gegenüber dem nationalen Recht. Innerstaatliche Organe haben daher gemeinhin die Pflicht, Unionsrecht ohne Rücksicht auf das innerstaatliche Recht anzuwenden und die nationale Rechtsordnung insoweit außer Acht zu lassen. Dieses Primat des Unionsrechts hat der EuGH grundlegend in seinem Urteil im Fall Costa/ENEL begründet und insbesondere aus der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung hergeleitet (Vgl. ausführlich zur Begründung durch den EuGH: Streinz, Europarecht, Rn. 214 ff.).

Das BVerfG begründet den Anwendungsvorrang aus dem Blickwinkel des nationalen Rechts in seiner bisherigen Rechtsprechung dagegen aus der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 I 2 GG. Daran anknüpfend betont es in dem hier vorgestellten Beschluss:

Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz … die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 129, 78 (100)) und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit (vgl. BVerfGE 126, 286 (301)). Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe und Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Recht der Europäischen Union vollziehen.

b) Schranken der Integrationsermächtigung
Im Zusammenhang mit der Begründung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts aus der Ermächtigung des Art. 23 I 2 GG bildet Art. 79 III GG jedoch eine absolute Verfassungsschranke für die grundgesetzliche Integrationsermächtigung. Die vom GG für integrationsfest erklärten Grundsätze der Verfassung bilden damit eine Grenze für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts:

Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge (vgl. BVerfGE 113, 273 (296); 123, 267 (348); 134, 366 (384)). Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union damit ultra vires handelte (vgl. BVerfGE 134, 366 (384)).

c) Identitätskontrolle durch das BVerfG
Die Überprüfung der Wahrung dieser wesentlichen Elemente deutscher Staatlichkeit erfolgt mittels der durch das BVerfG vorgenommenen „Identitätskontrolle“. Diese kann im Ergebnis dazu führen, dass im Fall einer Verletzung des Art. 79 III GG, das Unionsrecht in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Hinsichtlich der Identitätskontrolle besteht allerdings ein Monopol zugunsten des BVerfG: Die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität durch Unionsrecht darf ausschließlich durch das BVerfG getroffen werden. Dieses Verwerfungsmonopol wird insbesondere mit dem Schutz der Funktionsfähigkeit der Unionsrechtsordnung sowie den in Art. 100 Abs. 1 und 2 GG zugrundeliegenden Rechtsgedanken begründet.

Im Rahmen der Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Europäischen Union berührt werden … . Diese Prüfung kann … im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt … . Dies wird auch durch die Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG unterstrichen … . Mit der Identitätskontrolle kann das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) befasst werden… .

Nach Auffassung des BVerfG verstößt die Identitätskontrolle nicht gegen den in Art. 4 III EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, sondern ist vielmehr in Art. 4 II 1 EUV angelegt. Da die europäische Union als Staatenverbund seine Grundlage in völkerrechtlichen Verträgen souveräner Einzelstaaten habe, seien die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“ und daher dazu berechtigt, durch nationale Geltungsanordnungen darüber zu entscheiden, ob und inwieweit das Unionsrecht im jeweiligen Mitgliedstaat Geltung und Vorrang beanspruchen kann. Eine Gefährdung der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts durch die Befugnis des BVerfG zu Identitätskontrolle könne sei nicht anzunehmen, da grundsätzlich Art. 6 EUV, die Charta der Grundrechte sowie die Rechtsprechung des EuGH in der Regel einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union gewährleisten würden und das BVerfG die ihm darüber hinausgehenden verbleibenden Kontrollbefugnisse hinaus zuzurückhaltend und europarechtsfreundlich ausübe.

2. Verletzung von Art. 23, 79 III, 1 I GG
Durch den Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ohne eine umfassende Ermittlung des Sachverhalts sowie die unzureichende Prüfung, ob bei einer Auslieferung die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindestgarantie zur Verwirklichung des materiellen Schulprinzips gewährleistet sind, ist nach Ansicht des BVerfG das in Art. 1 I GG verankerte Schuldprinzip verletzt. Im Folgenden sollen die Argumentationslinien des BVerfG grob nachgezeichnet werden:

a) Der in Art. 1 I GG verankerte Schuldgrundsatz und die damit verbundenen Mindestgarantien
Den das gesamte Strafrecht prägende Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (= Schuldgrundsatz) hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung zu einem grundlegenden verfassungsrechtlichen Prinzip erklärt und daraus zugleich wichtige Maßstäbe für die Bereiche des Strafrechts und des Strafens abgeleitet. Als verfassungsrechtliche Verankerung für den Schuldgrundsatz, zieht das BVerfG seither die Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 I GG) sowie das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) heran so dass dieser zur unverfügbaren Verfassungsidentität im Sinne des Art. 79 III zu zählen ist.

In seinem Beschluss aus dem Dezember 2015 stellt das BVerfG an zentraler Stelle fest, dass der Schuldgrundsatz Mindestgarantien für die Art und Weise der Feststellung der Schuld und somit den Strafprozess aufstelle: Der Verwirklichung des Schuldprinzips diene gerade das zentrale Ziel des Strafprozesses, die Ermittlung des wahren Sachverhalts. Da mit dem Strafausspruch des Strafverfahrens nicht nur ein belastender Rechtseingriff verbunden sei, sondern auch ein sozial-ethischer Vorwurf gemacht werde, der den in Art. 1 I GG verankerten grundlegenden menschlichen Wert- und Achtungsanspruch des Betroffenen berühre und eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten voraussetze, verlange das Schuldprinzip gerade eine Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit. Daraus folge zugleich, dass eine Strafe, die die Persönlichkeit des Täters nicht umfassend berücksichtige, keine der Würde des Angeklagten angemessene Strafe sein könne. Zur Sicherstellung einer angemessenen Strafe sei es vielmehr erforderlich, dass das Gericht in Anwesenheit des Angeklagten einen Einblick in seine Persönlichkeit, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände erhalte.

b) Pflicht zur Beachtung des Art. 1 I GG auch bei Auslieferungen
Diese durch das in Art. 1 I GG verankerte Schuldprinzip gewährleisteten Mindestgarantien sind nach ständiger Rechtsprechung auch bei der Entscheidung über die Auslieferung zur Vollstreckung von in Abwesenheit ergangener Urteile zu beachten. An diese Rechtsprechung anknüpfend erklärt das BVerfG daher eine Auslieferung für unzulässig, wenn der Betroffene weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Strafverfahrens unterrichtet worden ist noch die tatsächliche Möglichkeit hatte, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und effektiv zu verteidigen.

Die Träger deutscher Hoheitsgewalt trifft insoweit nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Gewährleistungsverantwortung. Diese verbietet es ihnen, sehenden Auges die Verletzung der Menschenwürde durch andere Staaten zuzulassen. Um es mit den Worten des BVerfG zu sagen: „Die deutsche Hoheitsgewalt darf nicht die Hand zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen“. Vor dem Hintergrund dieser Verantwortung seien die Gerichte zu einer Aufklärung und Prüfung verpflichtet. Dabei dürfe zwar anderen EU-Mitgliedstaaten aufgrund des Bekenntnisses der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu den in Art. 2 AEUV verankerten Grundwerten (Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören) sowie der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gewährleistungen der Charta der Grundrechte, grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegengebracht werden, dieses sei allerdings durch die Geltendmachung gegenteiliger tatsächlicher Anhaltspunkte auch erschütterbar.

c) Pflicht zur Prüfung trotz des Vorrangs des Unionsrechts
Im Hinblick auf diese Prüfungspflicht erweist sich jedoch als Problem, dass dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl nach Ansicht des BVerfG ein Anwendungsvorrang zukommt und die nationalen Justizbehörden die Vollstreckung nur in den im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fällen ablehnen dürfen.

Das europäische Recht sehe – so die Erwägung des BVerfG – gerade nicht vor, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls von der Bedingung abhängig gemacht werden könne, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden kann. Vielmehr sei im 10. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses bloß vorgesehen, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur dann ausgesetzt werden dürfe, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliege und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV festgestellt worden sei. Darüber hinaus betont das BVerfG, dass der EuGH in der Rechtssache Melloni zudem im Hinblick auf Art. 4a RbEuHb entschieden habe, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden dürfe, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden könne wenn der Betroffene einer der vier in dieser Bestimmung aufgeführten Fallgestaltungen unterfalle.

Vor dem Hintergrund der oben dargestellten verbindlichen grundgesetzlichen Vorgaben kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die deutschen Behörden und Gerichte aufgrund der Schranke der Art. 23 GG iVm. Art. 79 III GG trotz des Unionsrechts verpflichtet seien, sicherzustellen, dass die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten auch im ersuchenden Mitgliedstaat beachtet werden.

d) Möglichkeit der Auslegung des Unionsrechts unter Berücksichtigung der Maßgaben des Art. 1 I GG
In Anbetracht dieser Aussagen könnte man geneigt sein, dem BVerfG im vorliegenden Fall eine Begrenzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unter Rückgriff auf Art. 79 III iVm. Art. 1 I GG zu attestieren. Dem ist jedoch nicht so. Vielmehr kommt der Senat einschränkend zu seinen bisherigen Erwägungen zu dem Ergebnis, dass sowohl der Rahmenbeschluss als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationalen Rechtshilfe in Strafsachen eine Auslegung zulassen, die den von Art. 1 I GG geforderten Mindestgarantien Rechnung trage. Das BVerfG zündet somit, anders als bereits an anderen Stellen fälschlicherweise behauptet wurde, die „Identitätskontrollbombe“ gerade nicht (so aber: Maximilian Steinbeis, der sich mittlerweile jedoch selbst korrigiert hat), sondern drückt stattdessen sprichwörtlich gesehen in letzter Sekunde doch nicht auf den Auslöser. Der Pfad der Identitätskontrolle wird folglich lediglich eingeschlagen, aber nicht zu Ende beschritten:

Einer unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründeten Begrenzung des dem Rahmenbeschluss zukommenden Anwendungsvorrangs bedarf es im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht, weil sowohl der Rahmenbeschluss selbst (a) als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (b) eine Auslegung gebieten, die den von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten bei einer Auslieferung Rechnung trägt.

Das BVerfG kommt vielmehr zu dem Ergebnis, dass die Pflicht, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, schon unionsrechtlich begrenzt sei:

  • Diesem sei nämlich nicht Folge zu leisten, wenn er den Anforderungen des Rahmenbeschlusses nicht genüge.  Der Rahmenbeschluss sehe in diesem Sinne in Art. 4a I 1 vor, dass die Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer in Abwesenheit ergangenen Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern könne, wenn nicht bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien. Das BVerfG geht davon aus, dass Art. 4a I 1 Buchstabe d (i) des Rahmenbeschlusses so zu verstehen ist, dass er ein Verfahren vorschreibt, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden „kann“. Nach Ansicht des BVerfG wird dem mit der Sache befassten Gericht durch das Wort „kann“ somit kein Ermessen eingeräumt. Vielmehr diene das Wort allein zurKennzeichnung der Befugnisse des Gerichts und müsse daher als „in der Lage ist“ zu interpretiert werde.
  • Als ein weiteres Indiz für die unionsrechtliche Einschränkbarkeit der Pflicht zur Befolgung des Europäischen Haftbefehls deutet das BVerfG die in Art. 1 III des Rahmenbeschlusses ausdrücklich normierte Pflicht, die Grundrechte sowie die in Art. 6 EUV niedergelegten allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten.
  • Auch die Ausstrahlungswirkung der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte sprechen nach Auffassung des BVerfG für die dargestellte Auslegung des Unionsrechts. Die in diesen  Grundrechtskatalogen verbürgten Gewährleistungen stünden im Hinblick auf Auslieferungen zur Vollstreckung von Abwesenheitsverurteilungen dem deutschen Grundgesetz nicht nach. Vielmehr würde das durch die EMRK und Grundrechte-Charta auch ein Recht auf ein faires Strafverfahren ebenfalls verlangen, dass das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten höre und prozessrechtlich in der Lage sei, die diesem zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen.

Die nationalen Justizbehörden sind nach Auffassung des BVerfG daher nicht nur im Hinblick auf die Vorgaben des Grundgesetzes, sondern schon unter dem Blickwinkel des Unionsrechts bei entsprechenden Anhaltspunkte dazu verpflichtet, die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu prüfen. Vor diesem Hintergrund bleibe das Unionsrecht nicht hinter den Anforderungen des Art. 1 I GG zurück und es bestehe somit keine Notwendigkeit den Anwendungsvorrang zu begrenzen.

e) Verletzung der Vorgaben durch das OLG
Sodann setzt sich BVerfG mit der konkreten Entscheidung des OLG Düsseldorf auseinander. Dieses habe die Bedeutung und Tragweite des Art. 1 I GG dadurch verkannt, dass der Beschwerdeführer substantiiert dargelegt habe, dass ihm das italienische Prozessrecht nicht die Möglichkeit einer erneuten Beweisaufnahme im Berufungsverfahren eröffne und das OLG diesem Vortrag nicht in ausreichendem Maße nachgegangen sei. Es habe sich stattdessen schon damit zufriedengegeben, dass eine erneute Beweisaufnahme in Italien „jedenfalls nicht ausgeschlossen sei“ und damit nicht sichergestellt, dass die durch Art. 1 I GG gewährleisteten Mindestrechte gewahrt sind. Da der Betroffene substantiiert und plausibel konkrete Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 I GG geschützten Mindeststandards vorgetragen habe, hätte das Gericht die Pflicht gehabt, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und Praxis im ersuchenden Staat vorzunehmen.

3. Verzicht auf Vorlage an den EuGH
Zuletzt thematisiert das BVerfG noch, ob gemäß Art. 267 AEUV eine Vorlage an den EuGH notwendig gewesen wäre. Für das BVerfG ist die Sache hier jedoch trotz der oben erwähnten Melloni-Entscheidung des EuGH eindeutig: Bei der Rechtslage handle es sich um eine „acte claire“, bei der die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offensichtlich sei, dass für vernünftige Zweifel keine Spielräume bleiben, so dass eine Vorlage nicht geboten sei.

Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt („acte clair“, vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 …) Das Unionsrecht gerät mit dem Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall nicht in Konflikt. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, wie dargelegt, deutsche Gerichte und Behörden nicht, einen Europäischen Haftbefehl ohne Prüfung auf seine Vereinbarkeit mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen zu vollstrecken. Dass die Grenzen der Ermittlungspflicht, insbesondere mit Blick auf den Umfang der nach Unionsrecht zulässigen Ermittlungen und der hiermit verbundenen Verzögerungen beim Vollzug des Haftbefehls in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht geklärt sind, ändert daran nichts. Jedenfalls im hier zu entscheidenden Fall ist kein Anhaltspunkt erkennbar, dass Unionsrecht einer Pflicht des Oberlandesgerichts, die Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers eingehender zu prüfen, entgegenstand.

C. Schlussbetrachtung

Entgegen anders lautender erster Einschätzungen befindet sich das BVerfG nicht insoweit auf einem Konfrontationskurs, als dass es sich auf das Recht zur Identitätskontrolle beruft. Im Ergebnis nimmt das BVerfG in dem Beschluss gerade keine Begrenzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unter Rückgriff auf Art. 79 III iVm. Art. 1 I GG vor und ruft daher für den Europäischen Haftbefehl die nationalen Behörden auch nicht zum Europarechtsbruch auf. Solange das Unionsrecht nicht hinter dem Kernbestand der deutschen Verfassungsidentität zurückbleibt, ist auch sein Anwendungsvorrang nicht eingeschränkt.

Allerdings gelingt dies dem BVerfG hier nur, in dem es zu dem Ergebnis kommt, dass bereits das Unionsrecht eine Auslegung vorsehe und zulasse, die den Mindestanforderungen des Art. 1 I GG genüge.   Das BVerfG nimmt in dieser Hinsicht in bemerkenswerter Weise eine umfangreiche Auslegung des Unionsrechts vor. Zugleich verzichtet es aber im Sinne der „acte claire – Doktrin“ auf eine Vorlage an den EuGH. Dies wird jedoch in ersten Reaktionen angesichts der vom BVerfG zitierten Melloni-Entscheidung des EuGH kritisiert. Ob es einer Vorlage bedurft hätte ist zweifelhaft. Jedenfalls bleibt zu beachten, dass sich die Melloni-Entscheidung vor allem mit Art. 4a I lit. a und b des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auseinandersetzt, während es hier dagegen um Art. 4 a I lit. d geht. Da sich das BVerfG zudem intensiv mit dem durch die Grundrechte-Charta sowie der EMRK verbürgten europäischen Grundrechtsschutz auseinandersetzt und wohl von einem vergleichbaren Schutzstandard der durch die Menschenwürde verbürgten Mindestgarantien ausgeht, erscheint der Verzicht aus der Perspektive des BVerfG nachvollziehbar. Im Hinblick auf den argumentativen Aufwand den das BVerfG betreibt und sowie die Fragen, nach der Reichweite des europäischen Grundrechtsschutzes und dessen Weiterentwicklung, erscheint die Rechtslage allerdings vielleicht doch nicht ganz so klar.

Für Examenskandidaten eignet sich die Entscheidung vor allem zur Wiederholung des Verhältnisses von nationalem Recht und Unionsrecht sowie der Prüfungskompetenz des BVerfG. Darüber hinaus sollte auch der durch Art. 1 I GG gewährleistete Schuldgrundsatz und dessen Ausprägungen in Grundzügen bekannt sein.

10.02.2016/3 Kommentare/von Lukas Knappe
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Lukas Knappe https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Lukas Knappe2016-02-10 14:48:592016-02-10 14:48:59BVerfG: Identitätskontrolle im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde

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