Der Klimaschutz ist eine der drängendsten, wenn nicht sogar die drängendste Aufgabe unserer Zeit. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in einem Aufsehen erregenden Beschluss aus dem letzten Jahr entschieden, dass Art. 20a GG den Staat zum Klimaschutz verpflichte (BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18 u.a., NJW 2021, 1723). Politische Prozesse nehmen jedoch, insbesondere wenn die Lösung eines Problems globale Anstrengungen verlangt, eine gewisse Zeit in Anspruch. Einige wollen nicht auf die Politik warten, nehmen die Sache selbst in die Hand und kleben sich wahlweise an Straßen fest, bewerfen weltberühmte Kunstwerke mit Kartoffelbrei oder besetzen fremde Grundstücke. Neu sind derartige Proteste, die häufig auch als „ziviler Ungehorsam“ bezeichnet werden, nicht. Derartige Verhaltensweisen sind beispielsweise bereits aus der Zeit der Friedensbewegung bekannt. Damals wie heute stellt sich die immer gleiche Frage: Lässt sich ein solches Verhalten strafrechtlich rechtfertigen? Die Antwort erschien lange eindeutig, doch gibt eine Entscheidung des Amtsgerichts Flensburg vom 07.11.2022 Anlass, sich erneut mit der Fragestellung zu befassen. Examensrelevant ist die Frage allemal.
A. Sachverhalt
Das Amtsgericht Flensburg hat bislang weder das Urteil noch eine Pressemitteilung veröffentlicht. Insofern muss man sich mit den aus der allgemeinen Medienberichtserstattung zu entnehmenden Informationen begnügen (SZ v. 07.11.2022; NDR v. 08.11.2022): Der Angeklagte hat vor rund zwei Jahren mit anderen unbefugt ein eingezäuntes Gelände betreten, auf dem ein Hotel gebaut werden soll. Dort hat sich der Angeklagte in Baumhäusern mit weiteren Personen aufgehalten, um auf die geplante Fällung der Bäume aufmerksam zu machen. Die Richterin hat den Angeklagten mit Verweis auf den rechtfertigenden Notstand freigesprochen, da der Einsatz für Klimaschutz schwerer wiege als der Eigentumsschutz der Hotelinvestoren.
B. Rechtliche Erwägungen
Durch das Betreten des Grundstücks und den Aufenthalt in Baumhäusern könnte sich der Beklagte gemäß § 123 Abs. 1 Alt. 1 StGB wegen Hausfriedensbruch strafbar gemacht haben.
I. Der Beklagte ist in befremdetes Besitztum eines anderen widerrechtlich eingedrungen und handelte dabei vorsätzlich, sodass der Tatbestand des § 123 Abs. 1 Alt. 1 StGB erfüllt ist.
II. Die Tat müsste rechtswidrig sein. Möglicherweise ist die Tat jedoch im Wege des rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB gerechtfertigt.
- Eine Rechtfertigung würde zunächst das Bestehen einer Notstandslage voraussetzen. ´
a) Es müsste eine Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut bestehen. Unter einer Gefahr versteht man einen Zustand, dessen Weiterentwicklung den Eintritt eines Schadens ernstlich befürchten lässt. Als notstandsfähige Rechtgüter kommen zum einen der Klimaschutz, der inzwischen auch durch einen Verfassungsauftrag in Art. 20a GG unterlegt ist, und im Lichte der Klima-Entscheidung des BVerfG sogar das Individualrechtsgut Leben in Betracht. Schließlich schließt der in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verbürgte Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit den Schutz vor Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen.
Gegen das Vorliegen einer Gefahr könnte jedoch sprechen, dass der Gefahrenbegriff durch das Kriterium des allgemeinen Lebensrisikos begrenzt wird. Keine Notstandslage begründen demnach allgemeine Lebensrisiken im Sinne abstrakter Gefahren, wobei in der Literatur als Beispiel Bedrohungen durch Kernenergie angeführt werden (Matt/Renzikowski/Engländer, StGB, 2. Aufl. 2020, § 34 Rn. 11; NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 40; Schönke/Schröder/Perron, StGB, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 15). Andererseits ließe sich auch argumentieren, dass es nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft als sicher gilt, dass der Klimawandel auch in Deutschland erhebliche Folgen zeitigen wird. Anders als im Fall des Betriebs von Atomkraftwerken kann man beim Klimawandel nicht darauf vertrauen, dass es schon gut gehen werde. Auf Gefahrenebene lässt sich also durchaus sowohl in die eine als auch in die andere Richtung argumentieren.
b) Sofern man eine Gefahr annimmt, müsste diese auch gegenwärtig sein. Der Schadenseintritt müsste also unmittelbar bevorstehen, sich gerade realisieren, aber noch gemindert werden können, oder es müsste ein Zustand bestehen, der jederzeit in einen Schaden umschlagen kann. Auch wenn davor gewarnt wird, dass sich in Zukunft bei nicht entschlossenem Handeln auch in Deutschland die Folgen des Klimawandels bemerkbar machen, ist nicht ersichtlich, dass zum Zeitpunkt der Besetzung des Grundstücks der Angeklagte oder ein anderer derart konkret und unmittelbar gefährdet gewesen wäre, wie es eine Rechtfertigung nach § 34 StGB verlangt (zur Gegenwärtigkeit der von Atomwaffen ausgehenden Gefahren: OLG Köln, Urt. v. 13.08.1985 – Ss 120/85, NStZ 1985, 550). Zu berücksichtigen ist auch, dass Deutschland aufgrund seiner geographischen Situation und der wirtschaftlich privilegierten Lage die Auswirkungen des Klimawandels länger wird herauszögern können als andere Staaten. Insoweit ist das Gegenwärtigkeitsmerkmal des § 34 StGB nicht erfüllt.
c) Es sprechen also bereits gute Gründe für eine Ablehnung der Notstandslage. Die Rechtsprechung hat die Frage des Bestehens einer Notstandslage in vergleichbaren Fällen als entscheidungsunerheblich dahinstehen lassen (OLG Köln, Urt. v. 13.08.1985 – Ss 120/85, NStZ 1985, 550; LG Dortmund, Urt. v. 14.10.1997 – Ns 70 Js 90/96, NStZ-RR 1998, 139).
- Wer eine Notstandslage annimmt, muss weiter fragen, ob eine taugliche Notstandshandlung vorliegt. Die Voraussetzung, dass die Gefahr nicht anders abwendbar ist, entspricht dem Merkmal der Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung i.R.d. § 32 StGB. Die Notstandshandlung muss also zum einen geeignet sein, den drohenden Schaden zu vermeiden oder zumindest abzumildern, und muss zum anderen das mildeste dem Täter zur Verfügung stehende Mittel darstellen.
a) Es erscheint bereits nicht naheliegend, dass durch das Besetzen eines fremden Grundstücks die durch den fortschreitenden Klimawandel verursachten Auswirkungen verhindert oder abgemildert werden können. Zwar hat die Aktion in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt und auf die mit dem Klimawandel verbundenen Gefahren hingewiesen. Jedoch steht das Thema auch ohne solche Aktionen im Zentrum der medialen und politischen Aufmerksamkeit. Durch Aufmerksamkeit allein kann zudem der Klimawandel nicht bekämpft werden, es müssen vielmehr politische Entscheidungen getroffen und implementiert werden. Dabei muss ein globales Problem wie der Klimawandel global angegangen werden, um eine messbare Verbesserung zu erreichen. Durch das Besetzen eines Grundstücks wird dieser politische Prozess nicht beschleunigt.
b) Jedenfalls erweist sich das Besetzen eines fremden Grundstücks nicht als das mildeste Mittel zur Abmilderung der durch den Klimawandel verursachten Gefahren. Insofern lassen sich die Gedanken, die das LG Dortmund (Urt. v. 14.10.1997 – Ns 70 Js 90/96, NStZ-RR 1998, 139) bereits vor einem Vierteljahrhundert zur Strafbarkeit der öffentlichen Aufforderung zur Schienendemontage bei Castor-Transporten geäußert hat, auf die hiesige Fallkonstellation übertragen:
Innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland stehen dem Angekl. viele Möglichkeiten zur Erreichung seines Zieles zur Verfügung. Er kann seine Meinung […] jedermann gegenüber in vielfältiger Weise kundtun und von der Richtigkeit seiner Meinung zu überzeugen versuchen. Er kann seine Meinung über Medien verbreiten und öffentlich die Auseinandersetzung mit politisch Andersdenkenden suchen. Er kann eine Partei gründen oder sich einer anschließen, in der er seine politischen Ziele am besten vertreten sieht und dafür kämpfen, daß diese gegebenenfalls in Koalition mit anderen – die politische Mehrheit erreicht und die aus seiner Sicht notwendige Entscheidung zu einem Ausstieg aus der Kernenergie trifft. Er kann sich auch außerhalb der politischen Parteien anderweitigen Institutionen anschließen, in denen er seine Ziele vertreten sieht oder auf besondere Aktionen mit demonstrativem Charakter, die nicht in die Rechtsgüter anderer eingreifen, setzen. Der Angekl. hat es mit anderen Worten – zusammen mit politisch Gleichgesinnten – in der Hand, auf politischem Wege inner- und außerhalb des Parlaments für die von ihm für [die von ihm verfolgten Ziele] zu kämpfen. Diese Möglichkeiten muß der Angekl. […] vorrangig ausschöpfen. Sie sind gegenüber dem von ihm gewählten die relativ milderen Mittel, auf die er zur Erreichung seines Ziels von Rechts wegen beschränkt ist […].
c) Es fehlt also an der tauglichen Notstandshandlung.
- Jedenfalls in Ermangelung einer Notstandshandlung gelangt man in der Prüfung gar nicht mehr zu der von § 34 S. 1 StGB weiter geforderten Abwägung der widerstreitenden Interessen, im Rahmen derer – wie es offenbar die Flensburger Richterin tat – man dem Einsatz für den Klimaschutz den Vorrang gegenüber dem Eigentumsschutz bzw. dem Schutz des Hausrechts einräumen könnte. Selbst wenn man bis zu einer Abwägung gelangen würde, würde der Einsatz für den Klimaschutz bereits aus demokratietheoretischen Überlegungen nicht den Vorrang genießen. Denn:
[B]ei der dort erforderlichen Interessenabwägung [wäre] stets auch zu berücksichtigen […], dass bewusste Normverletzungen als Mittel einer Minderheit, auf den öffentlichen Willensbildungsprozess einzuwirken, mit den Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaats schlechterdings unvereinbar sind […]. (Schönke/Schröder/Perron, StGB, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 41a m.w.N.)
- All diese Erwägungen zeigen: Man kann bei der Rechtfertigungsprüfung an verschiedenen Stellen unterschiedlich abbiegen. Im Ergebnis scheidet jedoch eine Rechtfertigung nach § 34 StGB aus.
III. Der Angeklagte handelte schuldhaft.
IV. Somit hat sich der Angeklagte gemäß § 123 Abs. Alt. 1 StGB wegen Hausfriedensbruchs strafbar gemacht.
C. Zum Begriff des „zivilen Ungehorsams“
Damit bleibt die Frage zu klären, was es mit dem im politischen Diskurs häufig genutzten Begriff des zivilen Ungehorsams auf sich hat. Im Kern versteht man unter zivilem Ungehorsam das gewaltlose gesetzeswidrige Handeln aus politischen Gründen. Zurückgeführt wird diese Figur vielfach auf den Essay „The Resistance to Civil Government“ aus dem Jahr 1848, in dem der US-amerikansiche Schriftsteller und Publizist Henry David Thoreau folgerte:
[Ist] das Gesetz so beschaffen, dass es dich braucht, um einem anderen Unrecht zuzufügen, so sage ich: Brich das Gesetz! Mache dein Leben zur Gegenreibung, um die Maschine zum Halt zu bringen. Was immer geschieht, ich muss unbedingt vermeiden, mich zu jenem Unrecht herzugeben, das ich verdamme. (zitiert nach: Braune, in: Staatslexikon, Bd. 6, 8. Aufl. 2021, Stichwort: Ziviler Ungehorsam)
Bei genauerem Hinsehen führt jedoch der Begriff des zivilen Ungehorsams nicht weiter: Ist eine Tat bereits nach § 34 StGB oder anderen Rechtfertigungsgründen gerechtfertigt, ist diese Figur überflüssig. Auch als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund taugt der zivile Ungehorsam, wie bereits das BVerfG treffend dargelegt hat, nicht:
Dabei bliebe zudem außer acht, daß zum Wesen des zivilen Ungehorsams nach der Meinung seiner Befürworter die Bereitschaft zu symbolischen Regelverletzungen gehört, daß er also per definitionem Illegalität mit dem Risiko entsprechender Sanktionen einschließt als Mittel, auf den öffentlichen Willensbildungsprozeß einzuwirken. Angesichts dieser Zielrichtung erschiene es widersinnig, den Gesichtspunkt des zivilen Ungehorsams als Rechtfertigungsgrund für Gesetzesverletzungen geltend zu machen. (BVerfG, Urt. v. 11.11.1986 – 1 BvR 713/83 u.a., BVerfGE 76, 206)
Völlig unberücksichtigt muss die Geringfügigkeit eines Regelverstoßes bei gleichzeitiger Verfolgung eines billigenswerten Fernziels hingegen nicht bleiben: Neben einer Berücksichtigung bei der Strafzumessung kann von der Strafverfolgung aus Opportunitätsgründen nach Maßgabe der §§ 153, 153a StPO abgesehen werden (vgl. Schönke/Schröder/Perron, StGB, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 41a).
D. Zusammenfassung in Thesen
- Im Rahmen von Klimaprotesten begangene Straftaten können nicht über § 34 StGB gerechtfertigt werden. Es fehlt jedenfalls an einer tauglichen Notstandshandlung. Die Veröffentlichung des Urteils des Amtsgerichts Flensburg bleibt abzuwarten, es scheint jedoch, als habe das Gericht mit seiner Entscheidung unter Missachtung des von § 34 StGB vorgegebenen Prüfungsschemas ein politisches Anliegen stärken wollen. Prüfungskandidaten sollten den Wortlaut des Gesetzes ernst nehmen und können sich an der konsistenten Rechtsprechung und Literatur, die sich über die Jahrzehnte zu diesem Thema gebildet hat, orientieren.
- Der Terminus des zivilen Ungehorsams hilft in einer rechtlichen Diskussion nicht weiter.
- Die etwaige Geringfügigkeit des Regelverstoßes kann angemessen über die Strafzumessung und die §§ 153, 153a StPO berücksichtigt werden.
- Auch die Verfolgung so wichtiger Ziele wie das des Klimaschutzes entbindet nicht von der Beachtung der Gesetze. Statt durch die Begehung von Straftaten Aufsehen zu erregen, sollten Aktivisten Einfluss auf den politischen Prozess nehmen, um den Klimaschutz zu beschleunigen und zu intensivieren.
- Kurzum: Das verfolgte Ziel ist verdienstvoll, es kommt auf eine kluge Wahl geeigneter Mittel zur Erreichung desselben an!