Wer das juristische Studium erfolgreich absolvieren will, muss Zusammenhänge verstehen und auch für Unbekanntes praktikable Lösungsansätze entwickeln können. Bloßes Auswendiglernen führt nicht zum Ziel. Trotzdem gilt, dass einige wesentliche Begrifflichkeiten in fast jedem Rechtsgebiet bekannt sein sollten – nicht zuletzt, um in der Klausur wertvolle Zeit einzusparen. Der Grundrechtskatalog umfasst eine überschaubare Anzahl an Begriffen, die jeder ambitionierte Student und Examenskandidat im Handumdrehen definieren können sollte. Die nachstehende Auflistung enthält diejenigen Definitionen, die für die Grundrechtsklausur notwendig sind. Wer diese beherrscht, ist für den Ernstfall bestens gewappnet:
(1) Eingriff
Nach dem sog. klassischen Eingriffsverständnis ist ein Eingriff jeder staatliche Akt, der final und unmittelbar die Rechtssphäre des Bürgers verkürzt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist. Nach dem sog. modernen Eingriffsbegriff ist ein Eingriff bereits jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.
(2) Geeignetheit
Geeignet ist eine Maßnahme, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Zwecks dienlich bzw. förderlich sein kann.
(3)Erforderlichkeit
Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn es keine milderen, den Bürger weniger belastende Mittel gibt, die zur Erreichung des verfolgten Zwecks gleich geeignet sind.
(4) Angemessenheit
Angemessen ist eine Maßnahme, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.
(5) Verfassungsmäßige Ordnung
Verfassungsmäßige Ordnung i.S.v. Art 2 Abs. 1 GG meint alle Rechtsnormen, die formell und materiell mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Beachte: Der Begriff findet sich auch in Art. 9 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG und hat in diesen Zusammenhängen andere Bedeutung!
(6) Glaube
Die Auffassung über die Stellung des Menschen in der Welt und seine Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten.
(7) Gewissen
Der Begriff meint jede ernste und sittliche, an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ orientiere Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen diese nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.
(8) Wissenschaft
Jeder ernsthafte, auf einem gewissen Kenntnisstand aufbauende Versuch zur Ermittlung der wahren Erkenntnisse durch methodisch geordnetes und kritisch reflektierendes Denken.
(9) Formeller Kunstbegriff
Danach sind Kunst nur solche Tätigkeiten, die einer traditionellen Kunstform zuzuordnen sind (Malerei, Theater, Dichtung etc.).
(10) Materieller Kunstbegriff
Kunst liegt vor, wenn das Werk das geformte Ergebnis einer freien, schöpferischen Gestaltung ist, in dem der Künstler seine Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse in einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung bringt und das auf kommunikative Sinnvermittlung nach Außen gerichtet ist.
(11) Offener Kunstbegriff
Ein Kunstwerk liegt vor, wenn das Werk interpretationsfähig und -bedürftig sowie vielfältigen
Interpretationen zugänglich ist.
(12) Meinung
Meinung ist jedes Werturteil, das durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder des Meinens geprägt ist.
(13) Tatsache
Tatsachen sind dem Beweis zugängliche Zustände oder Ereignisse. Der Wahrheitsgehalt der Äußerung steht bei der Tatsachenbehauptung im Vordergrund.
(14) Allgemeine Gesetze
Hierunter fallen alle Gesetze, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit oder die Freiheit von Presse und Rundfunk an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, welches in der Rechtsordnung allgemein geschützt wird.
(15) Presse
Der Begriff meint alle Druckerzeugnisse, die unabhängig von der Anzahl ihrer Vervielfältigung zur allgemeinen Verbreitung geeignet und bestimmt sind (Bücher, Zeitungen, Zeitschriften o.ä.).
(16) Rundfunk
Rundfunk meint jede an eine unbestimmte Vielzahl von Personen gerichtete, drahtlose oder drahtgebundene Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege elektrischer Schwingungen.
(17) Enger Versammlungsbegriff
Nach dem engen Versammlungsbegriff, den das BVerfG vertritt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.
(18) Erweiterter Versammlungsbegriff
Nach dem erweiterten Versammlungsbegriff bedeutet Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Meinungsbildung und Meinungsäußerung. Im Gegensatz zum engen Versammlungsbegriff muss die kollektive Meinungsbildung nicht auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet sein.
(19) Weiter Versammlungsbegriff
Nach dem weiten Versammlungsbegriff versteht man unter einer Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen, zwischen denen durch einen gemeinsamen Zweck eine innere Verbindung besteht. Der weite Versammlungsbegriff verzichtet auf das Merkmal der kollektiven Meinungsäußerung und Meinungsbildung und lässt jede Art von Verbundenheit der Teilnehmer ausreichen.
(20) Verein
Verein ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.
(21) Beruf
Unter Beruf ist jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit zu verstehen, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient.
(22) Berufsausübungsregelung
Eine solche liegt vor, wenn der Gesetzgeber eine reine Ausübungsregelung trifft, die auf die Freiheit der Berufswahl nicht zurückwirkt, vielmehr nur bestimmt, in welcher Art und Weise die Berufsangehörigen ihre Berufstätigkeit im Einzelnen zu gestalten haben.
(23) Subjektive Berufswahlregelung
Bei der subjektiven Berufswahlregelung wird auf persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, erworbene Abschlüsse oder erbrachte Leistungen abgestellt, wobei es nicht auf den Einfluss des Betroffenen auf die Eigenschaften ankommt.
(24) Objektive Berufswahlregelung
Bei der objektiven Berufswahlregelung erfolgt die Beschränkung der Berufsfreiheit anhand von objektiven Kriterien, die nicht in der Person des Betroffenen liegen und auf die der Betroffene keinen Einfluss hat.
(25) Freizügigkeit
Freizügigkeit umfasst das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Hierzu gehört die Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Wohnsitznahme und die Freizügigkeit zwischen Ländern, Gemeinden und innerhalb einer Gemeinde.
(26) Wohnung
Der Begriff der Wohnung meint die räumliche Privatsphäre und damit jeden Raum, den der Einzelne der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zum Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens bestimmt. Auch Betriebs- und Geschäftsräume fallen unter den Schutzbereich; wegen des teilweise erheblichen Sozialbezugs von Betriebs- und Geschäftsräumen ist grundsätzlich aber ein im Vergleich zu privaten Wohnräumen geringeres Schutzniveau anzunehmen.
(27) Eigentum
Art. 14 GG ist ein „normgeprägtes Grundrecht“, sodass der Begriff des Eigentums nur schwerlich abschließend definiert werden kann. „Eigentum“ i.S. des GG sind jedenfalls alle vermögenswerten Rechte, die die Rechtsordnung dem Einzelnen dergestalt zuweist, dass dieser ausschließlich über das Recht verfügen kann. Eigentum iSd Art. 14 GG sind alle dinglichen Rechte des Zivilrechts, Ansprüche und Forderungen des privaten Rechts.
(28) Inhalts- und Schrankenbestimmung
Unter Inhalts- und Schrankenbestimmungen ist die generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum geschützt werden, zu verstehen.
(29) Enteignung
Enteignung ist die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter, durch Art. 14 GG gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben. Die Enteignung beschränkt sich auf Vorgänge, bei denen Güter hoheitlich beschafft werden.
(30) Mittelbare Drittwirkung
Grundrechte entfalten mittelbar Wirkung in privaten Rechtsbeziehungen, indem Generalklausen und unbestimmte Rechtsbegriffe des Zivilrechts grundrechtskonform ausgelegt und angewendet werden („Ausstrahlungswirkung“).
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In einem nun veröffentlichten Nichtannahmebeschluss vom 9.7.2019 (Az. 1 BvR 1257/19) hatte das Bundesverfassungsgericht sich mit der Frage zu befassen, ob eine strafrechtliche Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG (Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung) gegen die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers sowie gegen das strafrechtliche Analogieverbot und das Schuldprinzip verstößt.
Sowohl in Klausuren im Grundstudium als auch im Examen ist die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG ein sehr beliebtes Prüfungsthema. Zusätzlich wandte sich der Beschwerdeführer vorliegend gegen ein Urteil, sodass eine Urteilsverfassungsbeschwerde zu prüfen ist, deren Prüfung vielen Studierenden Probleme bereitet. Die Entscheidung gibt Anlass, die Wesenszüge beider Themengebiete zu wiederholen.
I. Sachverhalt (verkürzt und abgewandelt)
Der Beschwerdeführer A organisierte im Februar 2017 eine Demonstrationsveranstaltung auf einer Autobahnbrücke, an der neben ihm vier weitere Personen teilnahmen. Die Veranstaltung erfolgte als Ausdruck einer „Anti-Atom-Bewegung“. Zwei Teilnehmer seilten sich von der Brücke ab und spannten ein beschriftetes Banner zwischen sich auf. Die gesamte Veranstaltung wurde vom Beschwerdeführer durch Anweisungen koordiniert und auch beendet. Eine Anmeldung nach § 14 VersG erfolgte nicht. Die Teilnehmer waren mit dem Auto angereist und hatten Banner und Schilder vorbereitet. Zuvor hatten sie auch die Presse über die Veranstaltung informiert. A wurde vom Amtsgericht als faktischer Leiter der Versammlung wegen Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung nach § 26 Abs. 2 VersG verurteilt. Hierdurch fühlt er sich in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Hat die zulässige Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
II. Lösung
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A durch die gerichtliche Entscheidung in spezifisch verfassungsrechtlicher Weise in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. (Hier sollte der Bearbeiter kurz ausführen, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist und Verletzungen des einfachen Rechts somit außer Betracht bleiben).
1. In Betracht kommt eine Verletzung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG.
(Anm: Das BVerfG prüfte in seinem Beschluss zunächst die Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG sowie des Gebots „Keine Strafe ohne Schuld“ aus Art. 2 Abs. 1 GG. Um jedoch den Aufbau der Urteilsverfassungsbeschwerde besser darstellen zu können, erfolgt hier zunächst die Prüfung der Versammlungsfreiheit, deren Aufbau Studenten geläufiger sein dürfte).
a. In den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fällt die Zusammenkunft mehrerer Personen (nach hM mindestens zwei) zu einem gemeinsamen Zweck, wobei die Anforderungen an den Zweck umstritten sind (siehe dazu hier unseren Beitrag zu Art. 8 GG). Die Teilhabe an der Meinungsbildung in öffentlichen Angelegenheiten, wie vorliegend die Demonstration gegen den Einsatz atomarer Energie, genügt den Anforderungen jedenfalls. Die Versammlung muss friedlich und ohne Waffen verlaufen, was hier der Fall ist. Die Veranstaltung auf der Brücke fällt somit unter Art. 8 Abs. 1 GG. Es handelt sich um ein Deutschengrundrecht, von der deutschen Staatsangehörigkeit des A gem. Art. 116 Abs. 1 GG ist auszugehen.
b. Indem das Gericht strafrechtliche Sanktionen an die Ausübung der nach Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Tätigkeit anknüpft, hat es auch in den Schutzbereich eingegriffen.
c. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.
Für Versammlungen unter freiem Himmel (d.h. solche, die nicht durch eine seitliche Abgrenzung vor unkontrolliertem Zugang von jedermann geschützt sind) sieht Art. 8 Abs. 2 GG einen einfachen Gesetzesvorbehalt vor. Die Versammlung auf der Brücke war jedermann zugänglich und fand so unter freiem Himmel statt. In diesem Fall ist Art. 8 Abs. 1 GG durch oder auf Grund eines Gesetzes beschränkbar.
(Anm: An dieser Stelle folgt die Prüfung der „Schranken-Schranken“, deren Aufbau vielen Bearbeitern bei der Urteilsverfassungsbeschwerde Schwierigkeiten bereitet. Wichtig ist es zunächst zu prüfen, ob die Norm, aufgrund derer die Einschränkung vorgenommen wird, unabhängig von den Umständen des Falles den Anforderungen des GG standhält. Erst danach folgt die Prüfung des Einzelakts, d.h. hier des Urteils. Wo der Schwerpunkt liegt, richtet sich nach den Umständen des Falles. Der Schwerpunkt bei dieser Falllösung liegt eher auf der Ebene des Einzelaktes, nicht bei der Normprüfung.)
Die Verurteilung erfolgt auf Grundlage des § 26 Abs. 2 VersG i.V.m. § 14 VersG. An deren Wirksamkeit können insoweit Zweifel angestellt werden, als dass Art. 8 Abs. 1 GG das Recht verbürgt, sich ohne Anmeldung zu versammeln. Hier sollte der Bearbeiter ausführen, dass die Anmeldepflicht aus § 14 VersG den legitimen Zweck verfolgt, die Sicherheit der Versammlungsteilnehmer zu garantieren und die Belastung Dritter etwa durch Verkehrsregelungen zu mindern. Sie kann im Einzelfall (etwa bei Eil- oder Spontanversammlungen) verfassungskonform ausgelegt werden. Nach Ansicht des BVerfG ist § 14 VersG ebenso verfassungsgemäß wie § 26 VersG. Insbesondere ist die Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG auf den Veranstalter und den Leiter der nicht angemeldeten Versammlung beschränkt, die bloße Teilnahme ist nicht mit Strafe bedroht.
(Anm: Im Rahmen einer Urteilsbeschwerde kann es erforderlich sein, auf der Normebene bereits die Vereinbarkeit mit anderen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten zu prüfen, da es um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes insgesamt geht. Im vorliegenden Fall betreffen die Fragen der Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG und dem Schuldprinzip allerdings die Auslegung im Einzelfall, nicht die Norm selbst, sodass die Prüfung getrennt erfolgt.)
Das Urteil des Amtsgerichts (Einzelaktsprüfung!) müsste im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG verfassungskonform sein.
Ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 GG könnte vorliegen, wenn im Fall keine Anmeldepflicht bestand, weil es sich um eine Spontanversammlung handelte. Für solche Versammlungen, die ungeplant und ohne Veranstalter stattfinden, ist in verfassungskonformer Auslegung eine Ausnahme von der Anmeldepflicht zu machen. Indes war die Versammlung auf der Brücke angesichts der vorangegangenen Planung (Anreise, Organisation von Kletterausrüstung, Information der Presse) ersichtlich nicht spontan, sodass die Ausnahme nicht greift.
Art. 8 Abs. 1 GG könnte verletzt sein, weil § 26 Abs. 2 VersG eine Strafbarkeit nur des „Leiters“ der Versammlung vorsieht. Hierbei könnte es sich ausschließlich um den in der Anmeldung gem. § 14 Abs. 2 VersG bezeichneten Leiter handeln. Die vorliegende Versammlung war nicht angemeldet, sodass A auch nicht der angegebene Leiter sein konnte.
Nach Auffassung der Rechtsprechung soll Leiter jedoch der sein, „der persönlich bei der Veranstaltung anwesend sei, die Ordnung der Versammlung handhabe und den äußeren Gang der Veranstaltung bestimme, insbesondere die Versammlung eröffne, unterbreche und schließe“ (vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1978, 118).
Das BVerfG führt aus:
„Im Gegenteil legt es der Wortlaut des § 26 Nr. 2 VersammlG nahe, als Leiter im Sinne der Bestimmung auch denjenigen anzusehen, der die Rolle des Versammlungsleiters tatsächlich ausfüllt. Denn die Norm begründet ausdrücklich eine Strafbarkeit nicht nur des Veranstalters, sondern auch des Leiters von Versammlungen oder Aufzügen, die ohne die erforderliche Anmeldung durchgeführt werden.“
„Denn eine solche Auslegung ist geeignet, einer Umgehung des Erfordernisses einer Anmeldung unter Benennung eines Versammlungsleiters entgegenzuwirken, die ansonsten nur gegenüber dem Veranstalter – der gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals nicht ohne weiteres festgestellt werden kann – sanktioniert werden könnte. Sie verwirklicht somit die legitimen Ziele des gesetzlichen Anmeldeerfordernisses, ohne die Versammlungsfreiheit in übermäßiger Weise einzuschränken (…).“
A kontrollierte die Versammlung durch seine Anweisungen und beendete sie auch. Er nahm die Position eines faktischen Leiters ein. Eine Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nachdem nur der strafrechtlich sanktioniert werden könnte, der in einer Anmeldung nach § 14 Abs. 2 VersG als Leiter angegeben wurde, ließe die Norm faktisch ins Leere laufen, da es bei einer unangemeldeten Versammlung nie einen Leiter geben könnte. Mithin ist die Auslegung des Gerichts, nach der auch der faktische Leiter von § 26 Abs. 2 VersG erfasst ist, mit Art. 8 Abs. 1 GG vereinbar, insbesondere verhältnismäßig.
(Anm: Die Verhältnismäßigkeit ist vom Bearbeiter selbstverständlich im bekannten Schema Legitimer Zweck – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit zu prüfen).
A ist durch das Urteil nicht in seiner Versammlungsfreiheit verletzt.
2. Die Auslegung des § 26 Abs. 2 VersG, nach der auch der faktische Leiter erfasst sein soll, könnte gegen das strafrechtliche Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen.
BVerfG: „Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein striktes Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie.“
Nach Ansicht des BVerfG schließe der Begriff es zwar aus, die bloße Teilnahme zu bestrafen, der Begriff des Leiters unterliege aber einem Auslegungsspielraum (siehe dazu bereits die Argumentation oben). Aus § 14 Abs. 2 VersG könne nicht entnommen werden, dass nur der in der Anmeldung genannte Leiter von der Strafbarkeit des § 26 Abs. 2 VersG erfasst sein soll, da vorgenannte Norm nur die Anforderungen einer ordnungsgemäßen Anmeldung regle. Die Wortlautgrenze ist nicht überschritten, das Analogieverbot ist nicht verletzt.
3. Die Auslegung könnte gegen das Schuldprinzip verstoßen, weil dem faktischen Leiter die unterbliebene Anmeldung (die dem Veranstalter, nicht dem Leiter obliegt) nicht zur Last gelegt werden kann. Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ ist als Verfassungsprinzip anerkannt. Er besagt, dass Handeln nur bestraft werden kann, wenn es vorwerfbar ist. Der Grundsatz hat keinen Niederschlag im Wortlaut des Grundgesetzes gefunden, wird vom BVerfG aber aus einem Zusammenspiel von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet (siehe Adam/Schmidt/Schumacher, NStZ 2017, 7 ff.; BVerfG, NvwZ 2003, 1504 m.w.N.). Indes sanktioniert § 26 Abs. 2 VersG nicht die unterbliebene Anmeldung, sondern die Durchführung der nicht angemeldeten Versammlung. Wer in leitender Funktion tätig wird, führt aber die Versammlung gleichwohl durch. Dazu das BVerfG:
„Insoweit steht es jedoch jedem Teilnehmer einer Versammlung frei, an dieser nicht in leitender Funktion mitzuwirken und sie so nicht selbst durchzuführen. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip ist insoweit nicht ersichtlich.“
A ist nicht in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt.
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
III. Ausblick
Fragen zum Versammlungsrecht sind häufiger Prüfungsgegenstand öffentlich-rechtlicher Klausuren. Sie können in Gestalt einer Grundrechtsklausur oder verbunden mit Fragen des Polizeirechts auftauchen. Die Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde anhand einer Verurteilung nach § 26 Abs. 2 VersG dürfte eher ungewöhnlich sein, bietet sich aber gerade deswegen besonders für zukünftige Klausuren an. Es gilt, sich nicht von der unbekannten Norm verunsichern zu lassen, und anhand der bekannten Schemata eine vertretbare Lösung zu erarbeiten. Insbesondere bei der verschachtelten Prüfung der Urteilsverfassungsbeschwerde sollte dabei darauf geachtet werden, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und des Urteils getrennt zu prüfen.
Das BVerfG hat kürzlich in einer Entscheidung vom 14.6.2019 (1 BvR 2433/17) erneut zu den Anforderungen an das Vorliegen von Schmähkritik Stellung genommen und damit die bisherigen Maßstäbe konkretisiert. In den letzten Jahren war die Reichweite des Schutzes der Meinungsfreiheit im Hinblick auf sog. Schmähkritik immer wieder Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen, die regelmäßig ein großes Medienecho nach sich zogen. Vor diesem Hintergrund bedarf auch die in diesem Zusammenhang neueste Entscheidung – gerade mit Blick auf künftige Examensklausuren und die mündliche Prüfung – einer eingehenden Auseinandersetzung.
I. Sachverhalt
Was war passiert? Der Beschwerdeführer war Kläger eines Zivilprozesses beim Amtsgericht. Im Laufe des Prozesses ersuchte er das Gericht um die Ablehnung der mit dem Verfahren betrauten Richterin wegen Befangenheit. Diese ergab sich seiner Ansicht nach aus einer einseitigen Vernehmung eines Zeugen zu seinen Lasten, bei der die Richterin dem Zeugen die erwünschten Antworten nahezu in den Mund gelegt habe. Sein Gesuch begründete der Beschwerdeführer auch in zwei Schriftsätzen, in denen es wörtlich unter anderem hieß:
„Die Art und Weise der Beeinflussung der Zeugen und der Verhandlungsführung durch die Richterin sowie der Versuch, den Kläger von der Verhandlung auszuschließen, erinnert stark an einschlägige Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten.“
Zudem führte er aus:
„Die gesamte Verhandlungsführung der Richterin erinnerte eher an einen mittelalterlichen Hexenprozess als an ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführtes Verfahren.“
Daraufhin wurde er durch das Amtsgericht gem. § 185 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Berufung des Beschwerdeführers wurde durch das Landgericht ebenso verworfen wie die im Anschluss eingelegte Revision durch Oberlandesgericht. Die Gerichte stützen dies im Wesentlichen darauf, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers zwar Werturteile seien, die dem Schutz der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG unterfielen. Allerdings handele es sich um Schmähkritik, sodass die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers gegenüber dem Ehrschutz der Betroffenen zwingend zurücktreten müsse. Daraufhin erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung seiner Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG.
II. Rechtliche Würdigung
Fraglich ist daher, ob der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen tatsächlich in seiner Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG verletzt ist.
1. Schutzbereich
Zunächst müssten die Äußerungen des Beschwerdeführers in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG fallen. Geschützt werden Meinung, d.h. Werturteile, die geprägt sind durch ein Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens. Von einer Meinung zu unterscheiden sind bloße Tatsachenbehauptungen, also solche Äußerungen, die einem Wahrheitsbeweis zugänglich sind. Sie sind grundsätzlich nicht geschützt, es sei denn, sie sind ausnahmsweise untrennbar mit einer Wertung verbunden oder Voraussetzung für eine Meinung. Ist eine Äußerung als Meinung einzuordnen, so kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob diese in polemischer Weise kundgetan oder eine verletzende Formulierung gewählt wird. Auch Schmähkritik unterfällt dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Im vorliegenden Fall war die Äußerung des Beschwerdeführers als wertende Stellungnahme anzusehen: Er wollte keine historische Aussage treffen, dass es sich tatsächlich um ein „Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten“ oder einen „mittelalterlichen Hexenprozess“ handele. Vielmehr zielte die gewählte Formulierung allein darauf ab, Missstände, die seiner Ansicht nach in der Verhandlungsführung bestanden, im Wege eines Vergleichs aufzuzeigen. Es handelt sich mithin um eine Meinung, der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG ist eröffnet.
2. Eingriff
Durch die strafrechtliche Verurteilung auf Grundlage von § 185 StGB wird die Ausübung einer grundrechtlich geschützten Freiheit des Beschwerdeführers sanktioniert. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG liegt mithin ebenfalls vor.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Möglicherweise könnte dieser Eingriff jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Fall 1 GG wird nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern findet seine Schranken gem. Art. 5 Abs. 2 GG in den allgemeinen Gesetzen. Ein allgemeines Gesetz ist nach dem durch das BVerfG angewandten Kombinationsansatz nur ein Gesetz, das sich nicht gegen die grundrechtliche Betätigung als solche, d.h. insbesondere nicht inhaltlich gegen eine bestimmte Meinung richtet und dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG schützenswerten Rechtsguts dient. Grundlage der strafrechtlichen Verurteilung ist § 185 StGB. Dieser stellt die Beleidigung unter Strafe und richtet sich damit nicht inhaltlich gegen eine bestimmte Meinung, sondern allgemein gegen beleidigende Äußerungen. Dies dient dem Ehrschutz des Betroffenen, der seinerseits durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgesichert ist und damit ein schlichtweg schützenswertes Rechtsgut darstellt. Es handelt sich mithin bei § 185 StGB um ein allgemeines Gesetz.
Erforderlich ist jedoch darüber hinaus, dass eine Gewichtung der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit des Äußernden und der persönlichen Ehre des durch die Äußerung Betroffenen vorgenommen wird. Dabei kommt der Meinungsfreiheit ein besonderes Gewicht zu, sofern es um Äußerungen geht, die Maßnahmen der öffentlichen Gewalt betreffen. Es gehört nämlich zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, die öffentliche Gewalt ohne Furcht vor Sanktionen auch scharf kritisieren zu können. Insofern führt das Gericht aus:
„Die Meinungsfreiheit erlaubt es insbesondere nicht, den Beschwerdeführer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.“
Allerdings bilden insofern Formalbeleidigungen und Schmähkritik einen Sonderfall: Ist eine Äußerung einer der genannten Kategorien zuzuordnen, so ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht erforderlich, vielmehr tritt die Meinungsfreiheit in einem solchen Fall stets zurück. Dies stellt indes eine sehr einschneidende Folge dar, sodass strenge Anforderungen an die Annahme von Formalbeleidigungen und Schmähkritik zu stellen sind. Schmähkritik ist nur bei einer Äußerung anzunehmen, die auf die bloße Herabsetzung und Diffamierung einer anderen Person gerichtet ist, ohne sich inhaltlich mit der Sache auseinanderzusetzen. Erforderlich ist daher insbesondere, dass Anlass und Kontext der Äußerung berücksichtigt werden. Die Äußerungen des Beschwerdeführers sind vor diesem Hintergrund nicht als Schmähkritik einzuordnen. Denn der Beschwerdeführer hat mit seinen Vergleichen nicht die Richterin persönlich diffamieren und herabwürdigen wollen. Vielmehr war allein ihre Verhandlungsführung Anlass für die getätigten Aussagen. Das BVerfG formuliert dazu:
„Die Äußerungen entbehren […] nicht eines sachlichen Bezugs. Sie lassen sich wegen der auf die Verhandlungsführung und nicht auf die Richterin als Person gerichteten Formulierungen nicht sinnerhaltend aus diesem Kontext lösen und erscheinen auch nicht als bloße Herabsetzung der Betroffenen. Die Äußerungen lassen nicht ohne weiteres den Schluss zu, der Beschwerdeführer habe der Richterin eine nationalsozialistische oder „mittelalterliche“ Gesinnung unterstellen wollen. Historische Vergleiche mit nationalsozialistischer Praxis begründen für sich besehen nicht die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik.“
Insbesondere könne es nicht darauf ankommen, dass die Formulierungen für die Verteidigung der Rechtsansichten des Beschwerdeführers nicht erforderlich gewesen sei, da der Beschwerdeführer nicht darauf beschränkt sein dürfe, seine Meinung nur im Rahmen des Erforderlichen zu äußern. Damit handelt es sich bei der Äußerung des Beschwerdeführers nicht um Schmähkritik. Die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers tritt nicht bereits aus diesem Grund hinter die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zurück. Vielmehr bedarf es einer umfassenden Abwägung der widerstreitenden Interessen. Geht diese zugunsten des Beschwerdeführers aus, so ist der Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, es läge eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG vor. Umgekehrt gilt: Der Eingriff wäre gerechtfertigt, wenn die Abwägung ein Überwiegen der Interessen der Betroffenen ergibt. In diesem Fall wäre der Beschwerdeführer nicht in seiner Meinungsfreiheit verletzt.
III. Ausblick
Das Gericht hatte sich allein mit der Frage zu befassen, ob es sich bei den Äußerungen des Beschwerdeführers um Schmähkritik handelte und schon aus diesem Grund seine Meinungsfreiheit hinter den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen zurücktreten muss. Die Klausurbearbeitung darf indes an dieser Stelle nicht stehen bleiben: Zwar bildet die Herausarbeitung der Voraussetzungen der Schmähkritik einen Schwerpunkt, der umfassend erörtert werden muss. Zwingend daran anschließen muss sich aber – sofern das Vorliegen von Schmähkritik zutreffend abgelehnt wurde – eine umfangreiche Abwägung der Meinungsfreiheit und der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Die Entscheidung sollte daher Anlass geben, neben den Anforderungen an die Annahme von Schmähkritik auch die klassische Fallkonstellation der Kollision von Meinungsfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht zu wiederholen, da diese stets beliebter Stoff sowohl für Zwischenprüfungs- als auch für Examensklausuren ist.
Nur wenige Tage vor der Europawahl in Deutschland am 26. Mai 2019 entschied das Verwaltungsgericht Köln, der allseits viel genutzte „Wahl-O-Mat“, der von der Bundeszentrale für politische Bildung zur Verfügung gestellt wird, sei verfassungswidrig und dürfe daher vorerst nicht weiter betrieben werden.
Die Entscheidung gibt Anlass, die einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO sowie den speziellen Anspruch politischer Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 GG i.V.m. Art 3 GG zu wiederholen. Auch aufgrund der großen medialen Aufmerksamkeit kann von besonderer Prüfungsrelevanz der Entscheidung ausgegangen werden.
Was ist passiert?
Wie vor jeder größeren Wahl stellte die Bundeszentrale für politische Bildung auch zur Europawahl einen Wahl-O-Mat zur Verfügung. Hierbei kann der Nutzer zu insgesamt 38 Thesen Stellung beziehen und anschließend eine Gewichtung vornehmen, welche der Thesen ihm persönlich besonders wichtig sind. Sodann kann der Nutzer bis zu acht politische Parteien auswählen, mit denen seine Position verglichen werden soll. Das Ergebnis wird auf einer Übersichtsseite mit Zugang zu den detaillierten Antworten der einzelnen Parteien dargestellt.
Gegen dieses Anzeigeformat wendete sich nun die Partei Volt Deutschland. Diese ist seit März 2018 in Deutschland als Partei registriert und Teil der paneuropäischen Partei Volt Europa. Volt Deutschland ist – gerade im direkten Vergleich mit den etablierten Parteien – noch vergleichsweise unbekannt. Die Partei ist der Ansicht, die Auswahlmöglichkeiten und Anzeigepraxis benachteilige neue und kleine Parteien dadurch, dass lediglich acht Parteien in den direkten Vergleich miteinbezogen werden können. Es sei nicht einmal ein Vergleich mit allen zurzeit im Europaparlament vertretenen Parteien – 14 an der Zahl – möglich.
Wer sich mit mehr als acht Parteien vergleichen wolle, müsse den Vorgang mehrmals wiederholen und die jeweiligen Ergebnisse notieren. Hierunter litten in erster Linie kleinere Parteien, da Nutzer für eine schnelle Orientierung häufig nur die bereits bekannten Parteien auswählten, die auf der Anzeigeseite auch zuoberst angezeigt würden. Aufgrund der großen Bedeutung des Wahl-O-Mats für die politische Meinungsbildung begehrt Volt die Änderung dieses Anzeigeverfahrens. Nachdem die Bundeszentrale für politische Bildung selbst eine Änderung ablehnte, beantragte Volt am 15. Mai 2019 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Verwaltungsgericht Köln. (siehe zu den Gründen auch die Pressemitteilung von Volt Deutschland vom 15. Mai 2019).
Die Entscheidung des VG Köln
Das Verwaltungsgericht gab der Antragstellerin Recht: Kleinere Parteien seien durch den Anzeigemechanismus benachteiligt, wofür die Antragsgegnerin keine ausreichenden Rechtfertigungsgründe habe vorbringen können. In der Pressemitteilung des Gerichts heißt es:
„Hierin sieht die Kammer eine faktische Benachteiligung kleinerer bzw. unbekannterer Parteien, zu denen auch die Antragstellerin gehöre. Dieser Anzeigemechanismus verletze jedenfalls mittelbar das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit gemäß Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG.“
Die von der Antragsgegnerin vorgebrachten Gründe seien nicht geeignet gewesen, die Verletzung der Chancengleichheit zu rechtfertigen. Der weitere Einwand der Antragsgegnerin, die Umsetzung der einstweiligen Anordnung sei technisch nicht möglich, sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden.“
(Siehe Pressemitteilung des VG Köln vom 20. Mai 2019)
Die Entscheidung in einer Klausur
Die Entscheidung bietet eine hervorragende Grundlage für eine Klausur im Verwaltungsrecht. Schwerpunkte dürften die Prüfung der Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO sowie die Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen aus Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG sein. Folgend soll ein Überblick über die wichtigsten Punkte gegeben werden. Es ist anzumerken, dass die Argumentation nicht unmittelbar der Pressemitteilung des Gerichts entnommen werden konnte, sodass in erster Linie auf die von den Parteien im Voraus vorgebrachten Argumente abgestellt wird.
Zulässigkeit
Im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist beim Prüfungspunkt „Statthafte Antragsart“ stets zu einem Verfahren nach §§ 80, 80a VwGO abzugrenzen, das nur einschlägig ist, sofern sich der Antrag gegen einen adressat-belastenden Verwaltungsakt richtet. Ein solcher liegt nicht vor, sodass nur § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht kommt. Hier ist wiederum zwischen Sicherungs- und Regelungsanordnung abzugrenzen. Die Partei begehrt hier nicht nur eine bloße Zustandssicherung, sondern eine vorläufige Regelung in der Form, dass der Bundeszentrale für politische Bildung das Betreiben des Wahl-O-Mats in der jetzigen Form untersagt wird.
Im Rahmen der besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen ist die Antragsbefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO analog sauber herauszuarbeiten – sie liegt grundsätzlich vor, wenn der Antragsteller auch in der Hauptsache klagebefugt ist, was inzident zu prüfen ist. Hier scheint eine Verletzung von Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG nicht schlechterdings ausgeschlossen, sodass die Antragsbefugnis im Ergebnis zu bejahen ist. Bearbeiter können auch auf die Möglichkeit der Verletzung eines Anspruchs aus § 5 Abs. 1 PartG eingehen, der jedoch im Ergebnis nicht einschlägig sein dürfte, da Volt Deutschland nicht den Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung begehrt.
Der richtige Antragsgegner entspricht ebenfalls dem Klagegegner in der Hauptsache. Eine Verpflichtungsklage in der Hauptsache scheidet aus, sodass sich der Klagegegner nicht aus § 78 VwGO analog, sondern aus dem Rechtsträgerprinzip als allgemeinem Prozessgrundsatz ergibt. Rechtsträger der Bundeszentrale für politische Bildung ist der Bund – mithin ist dieser auch im Rahmen des § 123 VwGO richtiger Antragsgegner.
Eine Antragsfrist ist nicht einzuhalten.
Siehe eine für ausführliche Prüfung der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die klausurmäßige Aufbereitung einer früheren Entscheidung des VG Köln zum Wahl-O-Mat: https://www.juraexamen.info/vg-koln-eilantrag-der-ddp-gegen-wahl-o-mat-abgelehnt/
Begründetheit – Insbesondere: Der Anspruch der Parteien auf Chancengleichheit
Der Antrag ist begründet, wenn der Antragsteller Tatsachen glaubhaft macht, die einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund begründen und wenn die gewünschte gerichtliche Entscheidung nicht über das hinausgeht, was der Antragsteller im vorläufigen Rechtsschutzverfahren verlangen kann.
Schwerpunkt der Prüfung ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs. Dieser kann sich aus einer Verletzung des Rechts der Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG ergeben.
Der sachliche Geltungsbereich dieses Rechts beschränkt sich nicht auf die Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen, sondern auf deren Tätigkeit schlechthin (vgl. Maunz/Dürig/Klein GG Art. 21 Rn. 297). Das Recht ergibt sich nach dem BVerfG „aus der Bedeutung, die der Freiheit der Parteigründung und dem Mehrparteienprinzip für die freiheitliche Demokratie zukommt“ (vgl. dazu. BVerfGE 85, 264 (297)). In der Klausur bietet es sich an, die Verletzung des Rechts anhand des bekannten Aufbaus für die Prüfung der Verletzung von Gleichheitsrechten zu prüfen.
Ungleichbehandlung
Alle Parteien müssen die gleichen Chancen auf das Gehört- und Gewähltwerden haben, um ihrem Mitwirkungsauftrag an der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG nachzukommen (vgl. Gröpl/Windhorst/von Coelln/von Coelln, Studienkommentar GG, Art. 21 Rn. 28). Der Staat soll keinen Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen.
Gerade im Zusammenhang mit Wahlen erlangt dieser Grundsatz besondere Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht führte hierzu aus:
„Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb ist in diesem Bereich – ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler – Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn zu fordern. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen(…).“ (BVerfGE 120, 82 (105)).
Das bedeutet: Die Anforderungen an die Gleichbehandlung der Parteien durch die öffentliche Gewalt sind durch die sich aus Art. 38 Abs. 1 GG ergebenden Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verschärft – der Staat darf nichts tun, um die unterschiedlichen Wettbewerbschancen der Parteien bei Wahlen zu beeinflussen (siehe dazu BVerfGE 85, 264 (297)).
Die Anzeigepraxis des Wahl-O-Mats, bei der nur die Übereinstimmung mit jeweils acht Parteien in einem Durchgang verglichen werden kann, könnte indes eine Beeinflussung der Wettbewerbschancen darstellen. Die meisten Nutzer werden lediglich einen Vergleich vornehmen und dabei ihre Position mit den Parteien vergleichen wollen, die ihm bereits bekannt sind. Die Positionen unbekannterer Parteien bleiben dem Nutzer so unbekannt, sodass diese nicht die gleiche Chance des Gehörtwerdens erlangen. Dies wird dadurch verstärkt, dass die etablierten Parteien auf der Auswahlseite ganz oben angezeigt werden. Diese Einschätzung ändert sich nicht dadurch, dass der Nutzer die Möglichkeit hat, mehrere Vergleichsvorgänge durchzuführen. Aufgrund der fehlenden Möglichkeit der Speicherung der Ergebnisse gestaltet sich dieses Vorgehen äußerst umständlich und dürfte nur in Einzelfällen tatsächlich stattfinden.
Mithin liegt eine Ungleichbehandlung kleinerer Parteien vor.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
An dieser Stelle ist besonders zu betonen, dass es sich bei dem Recht der Parteien auf Chancengleichheit um eine streng formale Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes handelt, sodass die Ungleichbehandlung von Parteien nur aus zwingenden Gründen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann (siehe dazu ausführlich Maunz/Dürig/Klein GG Art. 21 Rn. 306 ff.).
Die Rechtfertigungsgründe, die die Bundeszentrale für politische Bildung hierzu vorgebracht hat, sind im Einzelnen nicht bekannt. Das VG Köln beschränkt sich darauf festzustellen, „die von der Antragsgegnerin vorgebrachten Gründe seien nicht geeignet gewesen, die Verletzung der Chancengleichheit zu rechtfertigen. Der weitere Einwand der Antragsgegnerin, die Umsetzung der einstweiligen Anordnung sei technisch nicht möglich, sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden“(siehe Pressemitteilung des VG Köln vom 20. Mai 2019).
Volt Deutschland argumentierte insbesondere, dass dem Wahl-O-Mat vergleichbare Dienste gewährleisteten, dass die Positionen aller Parteien gleichermaßen zugänglich seien: „Denkbar wäre, dass den Nutzer*innen einfach alle 41 zur Wahl stehenden Parteien angezeigt werden. Das wäre wohl die fairste und beste Lösung, die auch bereits von anderen vergleichbaren Diensten genutzt wird“ (siehe Pressemitteilung von Volt Deutschland vom 15. Mai 2019).
Diese Argumentation scheint das VG Köln zu folgen. Ein zwingender Grund für die Ungleichbehandlung besteht nicht. Mithin ist das Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG verletzt. Ein Anordnungsanspruch besteht.
Anordnungsgrund
Die besondere Eilbedürftigkeit ergibt sich unproblematisch aus der unmittelbar bevorstehenden Europawahl.
Keine Vorwegnahme der Hauptsache
An dieser Stelle des Gutachtens sollte der Bearbeiter stets betonen, dass die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich nicht dazu führen soll, dass der Antragsteller bereits alles Erwünschte erreicht hat, sodass das Verfolgen der Hauptsache überflüssig würde. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dort zu machen, wo dem Antragsteller bei Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache unzumutbare Nachteile drohen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. So gestaltet es sich hier: Wenngleich die Partei mit der Abschaltung bzw. Änderung des Anzeigeformats des Wahl-O-Mats bereits alles erreicht hat, was sie erreichen wollte, so würden ihr bei einem Verweis auf das Abwarten der Hauptsache unzumutbare Wettbewerbsnachteile bei der anstehenden Europawahl drohen. Insoweit ist die Untersagung des Betreibens des Wahl-O-Mats in der jetzigen Form keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache.
Summa und Ausblick
Eine Fallgestaltung wie die vorliegende bietet dem Klausursteller die Möglichkeit, Grundlagen des Verwaltungs- und Verfassungsrechts abzuprüfen und dem Bearbeiter im Rahmen der Prüfung des Anordnungsanspruchs Raum für eigene Überlegungen und Argumentation zu lassen. Fälle der Ungleichbehandlung von Parteien sind stets aktuell und ein beliebtes Prüfungsthema – sie sollten von Examenskandidaten keinesfalls vernachlässigt werden.
Insoweit ist auch auf die kürzlich ergangene Entscheidung des BVerfG zu einem Wahlwerbespot der NPD zu verweisen, siehe dazu: https://www.juraexamen.info/bverfg-keine-ausstrahlung-von-npd-wahlwerbespot/
Nachdem die Bundeszentrale für politische Bildung ursprünglich angekündigt hatte, Beschwerde gegen den Beschluss des VG Köln einzulegen, haben sich die Beteiligten außergerichtlich geeinigt. Der Wahl-O-Mat ist nun wieder online.
Neue Karteikarten findet ihr regelmäßig auf Instagram:
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Das Semester ist noch jung, doch es ist nie zu früh, sich schon mal mit dem auseinanderzusetzen, was einen am Ende des Semesters erwartet: Die ersten juristischen Klausuren. Auch wenn diese noch weit entfernt scheinen, schadet es nicht, sich frühzeitig die richtige Herangehensweise anzueignen. Hier sind unsere fünf Schritte für ein erfolgreiches Abschneiden in der Klausur:
1. Schritt: Die richtige Vorbereitung
Ohne eine richtige Vorbereitung ist keine Klausur zu meistern. Eigentlich eine Banalität. Allzu häufig zeigt sich jedoch, dass Studenten den Umfang des Stoffes verkennen: Steht die Abschlussklausur am Ende des Semesters an, so sollte es doch genügen, nach den Weihnachtsferien mit dem Lernen anzufangen. Mehr als ein bis zwei Wochen Vorbereitung seien doch nicht erforderlich. Ein weit verbreiteter Trugschluss. Die Fülle des erwarteten Stoffes in kurzer Zeit zu lernen, wird selbst den Begabtesten kaum gelingen. Doch das soll keineswegs Panik in euch auslösen. Der Stoff ist in der Tat umfangreich, wenn man allerdings von Anfang an „am Ball bleibt“, können auch keine Lücken entstehen und am Ende des Semesters wird man nicht vor einem schier unüberwindbaren Berg stehen. Genug der Metaphern: Wenn ihr die Vorlesung nachbereitet und die Inhalte regelmäßig wiederholt sowie in den Arbeitsgemeinschaften folgen könnt, müsst ihr euch hinsichtlich der Klausuren keinerlei Sorgen machen.
Noch ein, zwei Tipps: Gründet von Anfang an mit ein bis zwei Freundinnen oder Freunden eine Arbeitsgruppe, in der ihr Fälle gemeinsam durchsprecht und löst. Das schärft euer Problembewusstsein. Wenn ihr von Beginn an die Herangehensweise an einen Fall übt, wird euch dies später in der Klausur leichter fallen. Eure Arbeitsgruppe kann euch hier den Einstieg erleichtern – zudem lässt sich in der Gemeinschaft auch leichter Motivation finden, sich mit unbekannten und daher unbequemen Fällen auseinanderzusetzen.
Tipp 2: Besorgt euch vor dem Ernstfall einen Klausurblock. Das hilft dabei, dass die Klausur auf den Korrektor einen ordentlichen Eindruck macht. Niemand will den Korrektor von Anfang an missgelaunt stimmen, indem er ihn dazu verdonnert, seitenweise hingekritzelte Hieroglyphen zu entziffern. Es ist wie so oft im Leben: Der erste Eindruck zählt.
2. Schritt: Erfassen des Sachverhalts und der Fallfrage
Auch Schritt 2 klingt auf den ersten Blick banal. Vielleicht zu banal. Erfahrungen zeigen aber immer wieder: Viele Studenten überfliegen den Sachverhalt und stürzen sich gleich auf bekannte Probleme – und übersehen dabei nur allzu oft die eigentlichen Schwerpunkte des Falles. Bei Sachverhalten, die lediglich aus drei Zeilen bestehen und in denen bloß zwei Personen vorkommen, mag dieser Punkt noch nicht so sehr ins Gewicht fallen. Im Verlauf des Studiums werden die Sachverhalte jedoch tendenziell länger. In der Examensklausur ist es nicht ungewöhnlich, wenn sich ein Sachverhalt über vier bis fünf Seiten erstreckt – irgendwie müssen ja auch die fünf Stunden Bearbeitungszeit gefüllt werden. Doch auch schon der Sachverhalt einer Abschlussklausur im ersten Semester wird regelmäßig eine DIN A4-Seite füllen. Dass oftmals drei, vier, fünf Personen darin vorkommen ist ebenfalls nichts ungewöhnliches, wenn man sich vor Augen führt, dass Stellvertretung im Zivilrecht oder etwa Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht typische Problemfelder des BGB AT bzw. des Strafrecht AT sind – eben jene Fächer, die im ersten Semester gelesen werden. Das Ganze soll jetzt jedoch keinesfalls abschreckend wirken. Im Gegenteil: Auch komplex anmutende Sachverhalte verlieren ihren Schrecken, wenn man sich klargemacht hat, was eigentlich passiert ist.
Daher unser Tipp: Ließ den Sachverhalt zunächst einmal völlig unbefangen. Mache dich nun mit der Fallfrage vertraut. Denn eine Lösung zu verfassen nach der gar nicht gefragt ist, ist in etwa so wie an Ostern den Weihnachtsbaum aufzustellen. Ließ nun den Sachverhalt nochmals und markiere dir Schlagwörter sowie wichtige Passagen. Am Rand oder auf einem Schmierzettel kannst du dir bereits erste Ideen notieren. Insbesondere wenn mehrere Personen beteiligt sind, bietet sich die Anfertigung eines Schaubilds an. Nun sollte man soweit sein, den Handlungsablauf chronologisch nachvollziehen zu können. Erst jetzt, wenn man Sachverhalt und Fallfrage vollständig erfasst hat, kann mit dem Anfertigen einer guten Lösungsskizze begonnen werden.
3. Schritt: Die Lösungsskizze
Eine gute Lösungsskizze ist das A und O einer erfolgreichen Klausur. Deshalb sollte man sich für das Erstellen auch genügend Zeit einplanen. Doch Vorsicht: Verwendet man zu viel Zeit auf für das Erstellen der Lösungsskizze, kann es mit der Reinschrift eng werden (siehe dazu auch Schritt 4: Das Zeitmanagement). Es ist daher unumgänglich, die Lösungsskizze bloß stichpunktartig zu fassen und ggf. auch – für einen selbst verständliche – Abkürzungen zu verwenden. Auch das Schriftbild darf hier gerne vernachlässigt werden – solange man selber lesen kann, was man zuvor geschrieben hat (persönliche Erfahrungen zeigen, Letzteres ist nicht selbstverständlich…).
Die Lösungsskizze ist die Schablone für die fertige Lösung; sie gibt die Struktur der späteren Lösung vor: Die Prüfungsreihenfolge der in Betracht kommenden Ansprüche bzw. der zu prüfenden Straftatbestände, die Gliederungsebenen und der zu prüfenden Tatbestandmerkmale, eine Sortierung der Argumente, etc. Es gilt dabei die Grundregel: Die Informationen aus dem Sachverhalt haben auch in der Lösung aufzutauchen. Die Lösungsskizze bietet dabei die Möglichkeit, die Sachverhaltsangaben an den richtigen Stellen zu verordnen.
Und einen weiteren Vorteil bietet die Lösungsskizze: Widersprüche in der eigenen Lösung lassen sich leichter erkennen und somit vermeiden (und im Zweifel nachträglich korrigieren). Und Widersprüche in der eigenen Lösung gilt es unbedingt zu vermeiden! Je knapper man die Lösungsskizze hält, desto mehr Zeit verbleibt für die Reinschrift. Eines sollte man sich jedoch bewusst sein: Fällt einem beim Erstellen der Lösungsskizze ein Fehler auf, den man zuvor gemacht hat, so lässt sich dieser relativ schnell korrigieren. Ist die Lösung jedoch erst einmal ausformuliert, ist die Korrektur eines Fehlers nicht nur mühsam, sondern oftmals auch nicht mehr in der vorgegebenen Zeit zu bewältigen. Daher ist das Erstellen einer Lösungsskizze absolut empfehlenswert!
4. Schritt: Das Zeitmanagement
Im universitären Betrieb scheint ein Zeitparadoxon zu herrschen: Während sich in mancher Vorlesung der Minutenzeiger nur mit stoischer Ruhe fortbewegt, scheint er während der Klausur zu rasen. Die zwei (bzw. drei) Stunden Bearbeitungszeit vergehen meistens wie im Flug. (Und auch in fünfstündigen Examensklausuren wird man regelmäßig in Zeitdruck geraten.) Ein richtiges Zeitmanagement ist daher besonders wichtig. Oberste Prämisse ist dabei: Fertig werden! Kaum etwas wirkt sich auf die Bewertung der Klausur negativer aus, als eine unfertige Lösung – einen Verstoß gegen das Abstraktionsprinzip oder die Prüfung der Strafbarkeit eines Toten einmal ausgenommen.
Die Zeiteinteilung muss daher immer darauf ausgerichtet sein, eine vollständige Lösung aufs Papier zu bringen. Dass man dabei unter Zeitdruck gerät, liegt dabei nicht unbedingt nur am eigenen Arbeitstempo: Viele Klausuren sind gerade darauf angelegt, den Prüfling unter Zeitdruck zu setzen. Man sollte sich daher unbedingt genug Zeit für das Ausformulieren der Lösung lassen. Das soll jedoch keineswegs Appell sein, das Erstellen einer Lösungsskizze zu vernachlässigen. Wie viel Zeit man zur Reinschrift benötigt, hängt natürlich auch vom eigenen Schreibtempo ab. Als Faustregel lässt sich festhalten: Mindestens die Hälfte – eher zwei Drittel – der Bearbeitungszeit ist für das Ausformulieren der Lösung zu veranschlagen. Das kann aber auch nur ein grober Richtwert sein – und kann individuell deutlich variieren. Aber keine Sorge: Das richtige Zeitmanagement lässt sich sehr gut üben. Probeklausuren geben einem dazu eine gute Möglichkeit. Aber auch wenn solche nicht angeboten werden, kann man zuhause für sich üben. Tipp: Schaffe dir selber reale Klausurbedingungen, d.h. Laptop, Netflix und Radio aus, Handy auf Flugmodus, Timer an und los geht’s! Eine Probeklausur im Strafrecht findet ihr zum Beispiel hier.
5. Schritt: Übung macht den Meister
„Man muss nicht hundert schlechte Klausuraufgaben zur Übung schreiben, sondern zehn gute, und sie wirklich durchdenken.“[1] Diese Aussage von Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., hat durchaus Diskussionen in der juristischen Welt hervorgerufen. Meines Erachtens völlig zu Recht: Nicht nur, dass man sein Zeitmanagement durch regelmäßiges Klausurenschreiben verbessert, die praktische Anwendung des gelernten Wissens zeigt einem gerade auch, an welcher Stelle noch Lücken bestehen, die es zu schließen gilt. Zudem führt regelmäßiges Klausurenschreiben zu einigen schönen Nebeneffekten: Standardformulierungen und Definitionen „brennen“ sich ins Gedächtnis ein, mit der Folge, dass man in nachfolgenden Klausuren über diese Punkte nicht mehr nachdenken muss. Das spart im Ernstfall kostbare Zeit, die man auf die wirklich interessanten Fragen verwenden kann. Dass mit der Übung auch die Schreibgeschwindigkeit zunimmt, bedarf keiner näheren Ausführung.
Der meines Erachtens jedoch wichtigste Punkt ist folgender: Durch regelmäßiges Klausurenschreiben verliert man die Angst vor der Klausur. Da man die Herangehensweise bereits öfters trainiert hat – und damit auch Situationen kennengelernt hat, in denen man nicht auf Anhieb weiterweiß – kann auch der „Ernstfall“ einen nicht aus der Ruhe bringen. Daher unser Tipp: Schreibt alle Übungsklausuren, die angeboten werden.
Ein letzter Tipp zum Abschluss: Um immer auf dem aktuellen Stand zu bleiben, abonniert juraexamen.info auf Facebook (juraexamen.info) und Instagram (@juraexamen.info), dann kann in den Klausuren gar nichts schiefgehen. 😉
[1] https://www.zeit.de/campus/2014/06/thomas-fischer-jurastudium-vorurteile-auswendig-lernen/seite-2
Wir freuen uns sehr, nachfolgend einen Gastbeitrag von Felix Bleckmann veröffentlichen zu können. Der Autor hat an der Universität zu Köln studiert und ist dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Staatsrecht.
Für das Posten einer „zerschnittenen“ Deutschlandfahne, bei der der goldene Teil (bis auf einen sichtbaren Rest) abgetrennt war, hat das AG Tiergarten einen Angeklagten mit Urteil vom 31.07.2018 zu einer Geldstrafe von 2.500 € verurteilt.[1] Dieses Urteil bietet Anlass, sich mit der klausur- und examensrelevanten Materie des Verhältnisses von Grundrechten und dem Schutz staatlicher Symbole auseinander zu setzten. Der Beitrag zeigt, wie das wichtige Grundlagenwissen zur Meinungs- und Kunstfreiheit in einer Klausur mit speziellen Tatbeständen wie dem des § 90a StGB verknüpft werden kann und worauf hierbei besonders zu achten ist.
I. § 90a StGB
Der auch im aktuellen Fall einschlägige § 90a StGB ist die wichtigste strafrechtliche Bestimmung zum Schutz staatlicher Symbole.[2] Schutzgegenstand der Norm ist der Bestand der Bundesrepublik, ihrer Länder und Symbole gegen öffentliche Herabsetzung.[3] Nach Abs. 1 wird das Beschimpfen und böswillige verächtlich Machen der Bundesrepublik oder eines ihrer Länder oder ihrer verfassungsmäßigen Ordnung (Nr. 1) und die Verunglimpfung der Farben, der Flagge oder der Hymne der Bundesrepublik (Nr. 2) in der Öffentlichkeit, in einer Versammlung oder durch das Verbreiten von Schriften mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe bestraft. Das selbe Strafmaß sieht Abs. 2 für die Entfernung, Zerstörung, Beschädigung, Unbrauchbar- oder Unkenntlichmachung einer öffentlich gezeigten Flagge der Bundesrepublik oder eines ihrer Länder oder eines von Behörden öffentlich angebrachten Hoheitszeichens vor.
II. Verfassungsrechtliche Grenzen
Je nach Fallgestaltung steht dieser strafrechtliche Schutz staatlicher Symbole in einem Spannungsverhältnis zu den Grundrechten der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) und Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG). Das Bundeverfassungsgericht hat sich bereits mit verschiedenen Judikaten zu § 90a StGB auseinandergesetzt: So waren etwa die satirische Verfremdung des Deutschlandlieds,[4] die Darstellung des Urinierens auf eine Bundesflagge in einer Collage, die Verwendung des aus der Weimarer Zeit überlieferten Kampfbegriffs „schwarz-rot-senf“[5] oder die Bezeichnung des „BRD-Systems“ als „verkommen“[6] Gegenstand von Entscheidungen der Karlsruher Richter. In der Gesamtbetrachtung ergeben sich aus diesen Entscheidungen einige Besonderheiten, die bei einer Prüfung zu beachten sind.
1. Verfassungsprozessuale Besonderheiten
Die staatsrechtlichen Fallgestaltungen zu § 90a StGB sind prozessual regelmäßig in eine Urteilsverfassungsbeschwerde eingekleidet. Hier sind einige Besonderheiten hinsichtlich des Prüfungsmaßstabes zu beachten. Abweichend von der sonst üblichen Prüfung der „Verletzung spezifischen Verfassungsrechts“[7] dehnt das Bundesverfassungsgericht betreffend Art. 5 Abs. 3 S.GG[8] und der Meinungsfreiheit[9] den Prüfungsumfang weit aus.
2. Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG)
Die Meinungsfreiheit schützt von den Elementen der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägte Äußerungen, im Rahmen der geistigen Auseinandersetzung, unabhängig von Wert, Richtigkeit oder Vernünftigkeit.[10] Die davon abzugrenzenden, dem Beweis zugänglichen Tatsachenbehauptungen sind vom Schutzbereich nur erfasst, soweit sie Grundlage der Meinungsbildung sind.[11] Äußerungen, die den Tatbestand des § 90a StGB verwirklichen, sind häufig zugleich Meinungsäußerungen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Zu beachten ist, dass es auf Schutzbereichsebene irrelevant ist, ob diese gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind, oder ob es sich um eine Form von Schmähkritik handelt. Das Bundeverfassungsgericht sieht auch Äußerungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen als vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst an, unabhängig von der Realisierbarkeit im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung.[12] Dies ist bei den Fällen des § 90a StGB von besonderer Bedeutung. Selbiges gilt für Schmähkritik, die ebenfalls dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfällt.[13]
Die Meinungsfreiheit wird begrenzt durch die Schranke der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG). Hierunter ist nach der „Kombinationsformel“ des Bundesverfassungsgerichts jede Norm zu fassen, die sich weder gegen die Meinungsfreiheit an sich noch gegen bestimmte Meinungen richtet, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf bestimmte Meinungen, zu schützenden Rechtsguts dient.[14] § 90a StGB ist nach ständiger Rechtsprechung ein solches allgemeines Gesetz und somit eine den Gesetzesvorbehalt ausfüllenden Schrankenregelung.[15]
Bei der Prüfung der Schranken-Schranken sind die Besonderheiten der Wechselwirkungslehre zu beachten.[16] Die Gerichte haben bei Auslegung und Anwendung strafrechtlicher Vorschriften die Bedeutung der Meinungsfreiheit zu beachten.[17] Hierzu gehört insbesondere eine Erfassung des Sinns der umstrittenen Äußerung und die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aus Sicht eines „unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums“. Bei den Staatsschutznormen wie § 90a StGB ist hier besonders sorgfältig zwischen zulässiger Polemik einerseits und einer Beschimpfung oder böswilligen Verächtlichmachung andererseits zu differenzieren.[18] Das Bundesverfassungsgericht überträgt die Maßstäbe seiner Schmähkritik-Rechtsprechung auf die Staatsschutzdelikte.[19] Bei der Bejahung von Schmähung ist an dieser Stelle Zurückhaltung geboten:[20] Nicht einmal das offenkundige Anknüpfen an die Mostrich-Rhetorik der Weimarer Zeit in Verbindung mit den Aussagen „Heil dem deutschen Reich“ und „wird dereinst unser Volk und Reich in neuem Glanz erstehen“ waren nach Ansicht des Gerichts hierfür ausreichend.[21]
Die zahlreichen ablehnenden Judikate zu Verurteilungen nach § 90a StGB dürfen aber nicht dahingehend fehlinterpretiert werden, dass der Meinungsfreiheit ein grundsätzlicher Vorrang zukomme. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung gilt es genau zu prüfen: handelt es sich um „eine böswillige Verächtlichmachung, die über eine – Systemkritik einschließende – Polemik hinausgeht“[22] und unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs eine Verurteilung nach § 90a StGB zu rechtfertigen vermag?
3. Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG)
Die für den sachlichen Schutzbereich der Kunstfreiheit zentrale Bestimmung des Kunstbegriffs nimmt das Bundesverfassungsgericht anhand von drei kumulativ anwendbaren Kunstbegriffen vor: formal, materiell und offen.[23] Ausgehend von dem sich daraus ergebenden weiten Schutzbereich der Kunstfreiheit ergibt sich das Konfliktpotential der von § 90a StGB erfassten Verhaltensweisen.
Einschränkungen der vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit sind anders als Eingriffe in die Meinungsfreiheit nur auf Grundlage kollidierenden Verfassungsrechts möglich. Dies ist bei den Schutzgütern des § 90a StGB nicht unproblematisch und in der Klausur ist an dieser Stelle eine umfassende Argumentation gefragt. Die Bundesflagge betreffend ist zunächst ein Anknüpfen an Art. 22 Abs. 2 GG geboten. Da sich dessen normative Aussage allerdings auf die Festlegung der Bundesfarben beschränkt, ist er nur Ausgangspunkt der Argumentation und enthält alleine keine unmittelbare oder ausschließliche Begründung für strafrechtlichen Schutz der Bundesflagge.[24] Das Bundesverfassungsgericht sieht eine über den unmittelbaren Inhalt der Norm hinausgehende Bedeutung in der Form, dass mit dem dort vorausgesetzten Recht des Staates, sich zur Selbstdarstellung solcher Symbole zu bedienen, der Zweck einhergehe, an das Staatsgefühl der Bürger zu appellieren.[25] Das Grundgesetz nehme diese Wirkung der Flagge nicht lediglich in Kauf, vielmehr sei die Bundesrepublik als freiheitlicher Staat auf die Identifikation ihrer Bürger mit den in der Flagge versinnbildlichten Grundwerten angewiesen. Die in Art. 22 Abs. 2 GG enthaltenen Staatsfarben ständen für diese Werte und für die freiheitlich demokratische Grundordnung. Aus dieser Bedeutung ergebe sich das der Kunstfreiheit widerstreitende Schutzgut. Diene die Flagge als wichtiges Integrationsmittel, so könne ihre Verunglimpfung die für den inneren Frieden notwendige Autorität des Staates beeinträchtigen.[26]
Anknüpfend an diese Argumentation räumt das Bundverfassungsgericht auch dem Schutz der Hymne Verfassungsrang ein, da diese ebenso wie die Bundesflagge Symbol der Bundesrepublik sei.[27] Problematisch ist, dass die Hymne im Gegensatz zur Flagge nicht im Grundgesetz erwähnt ist. Vor dem Hintergrund der oben genannten Argumente und des wenig ergiebigen Wortlauts des Art. 22 Abs. 2 GG erscheint eine Verschiedenbehandlung nicht geboten, sodass auch in Fällen der Hymne oder anderer von § 90a StGB geschützter Symbole eine verfassungsimmanente Begrenzung der Kunstfreiheit zu bejahen ist.[28]
Das Bundesverfassungsgericht setzt hohe Hürden für die verfassungsrechtliche Angemessenheit von mit § 90a StGB verbundenen Eingriffen in die Kunstfreiheit.[29] Im Lichte des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG dürfe der Symbolschutz nicht zur Immunisierung des Staates gegen Kritik und Ablehnung führen.[30] Aus diesem Grund spricht eine Vermutung für den Vorrang der Kunstfreiheit und der Unzulässigkeit einer strafrechtlichen Verurteilung, solange die Kunst bei kunstspezifischer Betrachtung noch als (wenn auch überzogene) Kritik gedeutet werden kann.[31]
4. Verhältnis von Kunst und Meinungsfreiheit
Sind Kunst- und Meinungsfreiheit einschlägig, stellt sich die Frage der Spezialität. Dieses Verhältnis ist nicht unumstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kunstfreiheit im Mephisto-Beschluss als „lex specialis“ gegenüber der Meinungsfreiheit eingestuft.[32] Teile des Schrifttums kritisieren die Widersprüchlichkeit der Ausführungen des Gerichts an dieser Stelle und lehnen eine Spezialität ab, mit der Folge, dass die Grundrechte nebeneinander zur Anwendung kommen.[33] Beide Ansichten sind vertretbar, nicht zu empfehlen ist die Lösung über einen Erst-Recht-Schluss, da hier die unterschiedlichen Anforderungen an die Grundrechte nicht hinreichend berücksichtigt werden.[34]
III. Ausblick
Die Berliner Entscheidung zeigt die Aktualität des „Klausurklassikers“, der dem Klausursteller vielfältigen Gestaltungsspielraum eröffnet und sich eignet klassische grundrechtliche Problemstellung in Kombination mit bereichspezifischem Wissen abzuprüfen. Vor dem Hintergrund der hohen verfassungsrechtlichen Hürden erscheint es sehr fraglich, ob die Entscheidung des AG-Tiergarten – die Anwältin des Verurteilten hat die Einlegung von Rechtsmittel angekündigt[35] – Bestand haben wird.
Fußnoten:
[1] AG Berlin-Tiergarten, Urt. v. 31. 07. 2018 – 229 DS 111/17. Siehe dazu auch taz, Deutschland unten ohne , 31.07.2018 (https://www.taz.de/Strafe-fuer-Flaggen-Kuerzung/!5520585/). Das Urteil ist bisher nicht veröffentlicht.
[2] Vgl. Burkiczak, JR , 2005, 50 (51); als weiteres Delikt kommt noch § 124 OWiG in Betracht, bei dem die selben verfassungsrechtlichen Erwägungen zu Grunde zu legen sind.
[3] Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Auflage (2018), § 90a, Rdnr. 1.
[4] BVerfGE 81, 298.
[5] BVerfG, NJW , 2009, 908.
[6] BVerfG, NJW , 2012, 1273.
[7] Zum Prüfungsmaßstab Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, S. 310 ff.
[8] Wittreck, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Auflage (2013), Art. 5 III, Rdnr. 67.
[9] BVerfG, NJW , 2009, 908 (909).
[10] BVerfGE 124, 300 (320).
[11] Epping, Grundrechte, 2017, Rdnrn. 214 f.; nicht erfasst sind erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen.
[12] BVerfGE 124, 300 (320 f.).
[13] BVerfGE 82, 272 (281); Grabenwarter, Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. 1, Rdnr. 61 (a.A. vertretbar).
[14] BVerfGE 7, 198 (209 f.).
[15] St. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht BVerfG, NJW , 2009, 908 (909); BVerfG, NJW , 2012, 1273 (1274); zum Begriff der allgemeinen Gesetze Epping (o. Fußn. 11), Rdnrn. 241 ff.
[16] Siehe zur Wechselwirkungslehre Epping (o. Fußn. 11), Rdnrn. 249 ff.
[17] So. st. Rechtsprechung seit BVerfGE 7, 198 (208 f.).
[18] BVerfG, NJW , 2009, 908 (909).
[19] Hufen, JuS , 2009, 951 (951).
[20] Vgl. Schultze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar, 3. Auflage (2013), Art. 5 I, II, Rdnr. 179.
[21] Peisner, NJW , 2009, 897 (898) und Hufen, JuS , 2009, 951 (951).
[22] BVerfG, NJW , 2009, 908 (909).
[23] Siehe dazu Epping (o. Fußn. 11), Rdnrn. 274 ff.
[24] BVerfGE 81, 278 (293).
[25] BVerfGE 81, 278 (293).
[26] BVerfGE 81, 278 (293 f.).
[27] BVerfGE 81, 298 (308).
[28] So auch m.w.N. Burkiczak, JR , 2005, 50 (51); ablehnend Gusy, JZ , 1990, 640 (641).
[29] Burkiczak, JR , 2005, 50 (51).
[30] BVerfGE 81, 278 (294).
[31] Wittreck (o. Fußn. 8), Rdnr. 59.
[32] BVerfGE 30, 173 (191 f.); daran anknüpfend Epping (o. Fußn. 11), Rdnr. 266; Wittreck (o. Fußn. 8), Rdnr. 76.
[33] So insbesondere Sachs, Verfassungsrecht II Grundrechte, 2017, S. 414.
[34] So zutreffend Kobor, JuS , 2006, 593 (596).
[35] taz, Schwaz-rot-gelbe Umgangsformen , 01.08.2018 (https://www.taz.de/!5520652/).
Schema: Art. 8 GG – Versammlungsfreiheit
A. Schutzbereich
I. Persönlicher Schutzbereich: Deutschengrundrecht
Die Versammlungsfreiheit von Ausländern ist über Art. 2 I GG geschützt.
II. Sachlicher Schutzbereich: Zusammenkunft mehrerer Personen zu einem bestimmten Zweck.
1. Versammlung
a) Personenanzahl
h.M.: Zwei Personen, Arg.: Art. 8 GG schützt die Entfaltung der Persönlichkeit und dient dem Schutz vor Isolation.
b) Anforderungen an den Zweck
– M1: Weiter Versammlungsbegriff, d.h. jeder beliebe Zweck ist ausreichend.
– M2: Der Zweck der Versammlung muss die Meinungsbildung oder Meinungsäußerung sein.
– hM: Enger Versammlungsbegriff: Der Zweck der Versammlung muss die Meinungsbildungs- und Meinungsäußerung in öffentlichen Angelegenheiten sein.
2. Friedlich und ohne Waffen
- Versammlung ist unfriedlich, wenn sie einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt.
– Gewalttätig ist eine Versammlung dann, wenn aus ihr heraus oder in ihr körperlich auf Personen oder Sachen eingewirkt wird, wobei die Einwirkung von einiger Erheblichkeit sein muss.
- Entscheidend ist die Mehrheit der Versammlungsteilnehmer, unfriedliches Verhalten Einzelner beeinträchtigt die Friedlichkeit der Versammlung insgesamt grundsätzlich nicht.
– Ein aufrührerischer Verlauf ist gegeben, wenn aktiver körperlicher Widerstand gegen rechtmäßig handelnde Vollstreckungsbeamte geleistet wird.
– Waffen sind solche im technischen Sinne und gefährliche Werkzeuge.
B. Eingriff
Jede Beeinträchtigung der Ausübung der grundrechtlich geschützten Freiheit.
C. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
I. Versammlungen in geschlossenen Räumen (Art. 8 I GG)
1. Schranken: Nur zum Schutz kollidierenden Verfassungsrecht
2. Schranken-Schranken: Beachtung der allgemeinen Anforderungen, insbesondere Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
II. Versammlungen unter freiem Himmel (Art. 8 II GG)
1. Schranken: Schlichter Gesetzesvorbehalt
2. Schranken-Schranken: Beachtung der allgemeinen Anforderungen, d.h. das einschränkende Gesetz muss insbesondere seinerseits verfassungsmäßig sein.
Das Schema ist in den Grünzügen entnommen von myjurazone.de.
Schema: Individualverfassungsbeschwerde
A. Zulässigkeit
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde ergeben sich aus Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90, 92ff. BVerfGG.
I. Zuständigkeit des BVerfG
Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG
II. Beschwerdefähigkeit: „Jedermann“, § 90 I BVerfGG
– Natürliche Personen
– Juristische Personen nach Art. 19 III GG, soweit das jeweilige Grundrecht seinem Wesen nach auch auf juristische Personen anwendbar ist.
III. Prozessfähigkeit
- Fähigkeit, einen Rechtsstreit führen zu können.
-Ausschlaggebend ist die Grundrechtsmündigkeit, d.h. die nötige Einsichtsfähigkeit, im grundrechtlich geschützten Bereich eigenverantwortlich agieren zu können.
IV. Beschwerdegegenstand: Akt öffentlicher Gewalt, § 90 I BVerfGG
= „jeder Akt der öffentlichen Gewalt“, d.h. Legislative, Exekutive und Judikative
V. Beschwerdebefugnis, § 90 I BVerfGG
1. Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten - d.h. Verletzung eines solchen Rechts darf nicht offensichtlich ausgeschlossen sein. - (P) Drittwirkung der Grundrechte
2. Betroffenheit
a) Selbst
= Die Maßnahme betrifft den Beschwerdeführer.
b) Gegenwärtig
= Die Beeinträchtigung ist nicht nur irgendwann in Zukunft möglicherweise zu erwarten.
c) Unmittelbar
= Es bedarf keines weiteren Vollzugsakts mehr um die Betroffenheit herbeizuführen.
VI. Rechtswegerschöpfung, § 90 II BVerfGG
VII. Subsidiarität
d.h. über § 90 II BVerfGG hinaus müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen.
VIII. Frist, § 93 BVerfGG
IX. Form, §§ 23 I, 92 BVerfGG
B. Begründetheit
I. „Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde“
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer durch die angegriffene Maßnahme in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.
II. „Urteils-Verfassungsbeschwerde“
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer durch die gerichtliche Entscheidung in spezifisch verfassungsrechtlicher Weise in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.
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Schema: Art. 4 I, II GG – Religions-, Weltanschauungs-, und Gewissensfreiheit
A. Schutzbereich
I. Glaubensfreiheit, Art. 4 I Fall 1, II GG
= Freiheit, einen Glauben oder eine Weltanschauung zu bilden und zu haben (forum internum) sowie seine religiöse bzw. weltanschauliche Überzeugung kundzutun, zu praktizieren und ihnen entsprechend zu handeln (forum externum).
– Auch negative Glaubensfreiheit.
– Geschützt ist auch die kollektive Religionsausübung nach weiterer Maßgabe derArt. 136 ff. WRV, die nach Art. 140 GG in die Verfassung inkorporiert werden.
– Eine Religion ist eine Gesamtsicht, auf die Welt die umfassend den Sinn der Welt und des Lebens erklärt und dabei eine irgendwie geartete Gottesvorstellung voraussetzt. Eine Weltanschauung ist auf innerweltliche Bezüge beschränkt.
II. Gewissensfreiheit, Art. 4 I Fall 2 GG
= Freiheit des Einzelnen, eine Entscheidung, die an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ orientiert ist zu treffen und ihr entsprechend zu handeln.
– Prozess, ein bestimmtes Gewissen zu bilden und danach zu entscheiden, sowie das Recht, sein Gewissen nach außen hin zu verwirklichen.
B. Eingriff
- Jedes staatliche Handeln, das den Einzelnen zu einem Handeln oder Unterlassen verpflichtet, das gegen ein Ge- oder Verbot seines Glaubens verstößt oder ihn dazu zwingt, entgegen seiner Gewissensentscheidung zu handeln.
- Erforderlich ist, dass der Betroffene die Verhaltensregel für sich als binden erfährt und er nicht ohne innere Not von ihr abweichen kann. Nicht erforderlich ist, dass die Regel von einer Mehrheit in der Gesellschaft oder der Religionsgemeinschaft ebenfalls als hindern empfunden wird.
C. Einschränkungsmöglichkeit
- Grds. vorbehaltlos gewährleistet, Einschränkungen sind nur aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts durch oder aufgrund eines Gesetzes möglich.
- Nach einer mM steht die Glaubensfreiheit unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze aus Art. 140 iVm Art. 136 I WRV. Nach dem BVerfG wird Art. 136 I WRV aber von Art. 4 GG überlagert. Zudem besteht kein Grund, die Glaubensfreiheit anders zu behandeln als die Gewissensfreiheit, die unstreitig nicht unter einem Gesetzesvorbehalt steht.
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Im Rahmen eines Nichtannahmebeschlusses vom 08. März 2017 – 2 BvR 483/17 hat das BVerfG sich zu Wahlkampfveranstaltungen türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland geäußert. Konkret ging es um den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim am 18. Februar in Oberhausen, der für das in einem Referendum am 16.4.2017 zur Abstimmung gestellte Präsidialsystem warb. Die Debatte, ob derartige Kundgebungen durch türkische Regierungsmitglieder verboten werden sollten, ist in den letzten Tagen immer lebendiger geworden. Das BVerfG hat nun in rechtlicher Hinsicht klar Stellung bezogen.
Erstens: Staatsoberhäupter und Mitglieder ausländischer Regierungen haben keinen Anspruch auf Einreise in das Bundesgebiet und die Ausübung amtlicher Funktionen in Deutschland. Ein solcher kann weder aus der Verfassung noch aus allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG hergeleitet werden. Damit kann bereits die Einreise und nicht nur der Auftritt verboten werden.
Zweitens: Die Entscheidung über die Zulassung von Wahlkampfveranstaltungen ausländischer Regierungsmitglieder liegt in der alleinigen Entscheidung der Bundesregierung im Rahmen ihrer Kompetenz für die Außenpolitik. Es besteht demnach ein regierungsseitiges Zustimmungserfordernis.
Hierzu bedarf es der – ausdrücklichen oder konkludenten – Zustimmung der Bundesregierung, in deren Zuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten eine solche Entscheidung gemäß Art. 32 Abs. 1 GG fällt (vgl. BVerfGE 104, 151 <207>; 131, 152 <195>; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. Juli 2016 – 15 B 876/16 -, juris, Rn. 15 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 32 Rn. 11).
Drittens: Ausländische Staatsoberhäupter genießen keinen grundrechtlichen Schutz in Deutschland bei Ausübung ihrer amtlichen Funktionen. Es liegt kein Ober-Unterordnungsverhältnis vor, wie dies für die unmittelbare Anwendung der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG notwendig ist. Überzeugend führt das BVerfG hierzu aus:
(…) bei einer Versagung der Zustimmung würde es sich nicht um eine Entscheidung eines deutschen Hoheitsträgers gegenüber einem ausländischen Bürger handeln, sondern um eine Entscheidung im Bereich der Außenpolitik, bei der sich die deutsche und die türkische Regierung auf der Grundlage des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten begegnen.
Auch wenn die Verfassungsbeschwerde mangels subjektiver Betroffenheit des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung angenommen wurde, ist sie ein wichtiger Diskussionsbeitrag in der hitzigen Diskussion um Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland. Nicht nur im Hinblick auf konkrete polizeirechtliche Gefahrenlagen, sondern auch aus außenpolitischen Erwägungen können diese verboten werden. Mit Blick auf die politischen Unruhen in der Türkei und den teils hetzerischen Charakter der bisher in Deutschland durchgeführten Veranstaltungen sprechen gute Gründe dafür, den türkischen Wahlkampf nicht unmittelbar auf deutschem Boden auszutragen. Dies ist aber – wie das BVerfG zurecht ausführt – eine politische Entscheidung, die die Bundesregierung zu treffen hat. Es bleibt spannend, ob und wie sich diese positionieren wird.
Eigentumsgarantie, Art. 14 GG
A. Schutzbereich
I. Schutzgegenstand: Eigentum
Eigentum = Die vom einfach Gesetzgeber zu einem bestimmten Zeitpunkt gewährten vermögenswerten Rechte.
– Privatrechtliche Positionen
– Öffentlich-rechtliche Positionen, soweit sie auf eigener Leistung beruhen.
– Nicht geschützt ist das Vermögen als solches.
II. Schutzumfang
– Geschützt ist nur der Bestand des Eigentums, also das Erworbene.
– Nicht geschützt sind bloße Erwartungen auf den künftigen Erwerb.
III. Persönlicher Schutzbereich
Geschützt werden nur natürliche oder juristische Personen des Privatrechts.
B. Eingriff
Eingriffe sind möglich in Form von:
– Inhalts- und Schrankenbestimmungen gem. Art. 14 I 2 GG
– Enteignung Art. 14 III GG
I. Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 I 2 GG)
– Verkürzung einer bestehenden Eigentumsposition durch abstrakt-generelle Festlegung von neuen Rechten und Pflichten des Eigentümers.
– Inhalt des bestehenden und grds. bestehen bleibenden Eigentums wird neu festgelegt und dadurch verkürzt.
– Kann im Einzelfall sogar enteignend wirken.
– Dass der Gesetzgeber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die Auswirkungen der Inhalts- und Schrankenbestimmung dadurch abmildert, dass er eine finanzielle Entschädigung vorsieht, steht der Annahme einer Inhalts- und Schrankenbestimmung nicht entgegen.
II. Enteignung (Art. 14 III GG)
Jede finale konkret-individuelle Entziehung eigentumsrechtlicher Positionen für öffentliche Zwecke.
Es gilt der formale verfassungsrechtliche Enteignungsbegriff:
1. Ganz oder teilweiser Entzug einer von Art. 14 GG geschützten Rechtsposition.
2. Final, d.h. der die Maßnahme muss bewusst darauf abzielen eigentumsrechtliche Positionen zu entziehen.
3. Durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes
– Legalenteignung = durch Gesetz
– Administrativenteignung = augrund eines Gesetzes
4. Zur Verwendung für einen öffentlichen Zweck, d.h. der Entzug darf nicht (nur) zugunsten Privater erfolgen.
C. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
I. Zulässigkeit einer Enteignung
1. Art. 14 III GG unterliegt einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt
2. Eingriff durch Parlamentsgesetz (Legalenteignung): Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes
a) Formelle Verfassungsmäßigkeit
b) Materielle Verfassungsmäßigkeit
aa) Besondere Anforderungen des Art. 14 GG:
(1) Die Enteignung muss dem Wohl der Allgemeinheit dienen.
(2) Besonderer Grund, der es erforderlich macht, die Enteignung durch Gesetz vorzunehmen. Grund: Nur bei einer Enteignung aufgrund eines Gesetzes steht dem Betroffenen der Rechtsweg zu den Fachgerichten offen.
(3) Entschädigungsregelung, Art. 14 III 2 GG: Das Gesetz, das in Art. 14 GG eingreift, muss eine Entschädigung vorsehen und deren Art und Ausmaß regeln (Junktim-Klausel).
bb) Allgemeine Anforderungen, insbesondere Verhältnismäßigkeit.
cc) Wahrung der Institutsgarantie
3. Eingriff durch Einzelakt (Administrativenteignung):
a) Verfassungsmäßigkeit der Norm, aufgrund derer der Einzelakt erfolgt.
b) Einzelakt muss Anforderungen der Grundrechte genügen
aa) Eingriff muss dem Wohl der Allgemeinheit dienen
bb) Verhältnismäßigkeit des Einzelakts
II. Zulässigkeit einer Inhalts- und Schrankenbestimmung
1. Art. 14 I 2 GG unterliegt einem einfachen Gesetzesvorbehalt.
2. Eingriff durch Parlamentsgesetz (Legaltenteignung):
a) Formelle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes
b) Materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, insbesondere Verhältnismäßigkeit: Im Einzelfall kann bei einer besonders schwerwiegenden Beeinträchtigung ein Entschädigung erforderlich sein (sog. ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung).
3. Eingriff durch Einzelakt (Administrativenteigung):
a) Verfassungsmäßigkeit der Norm, aufgrund derer der Einzelakt erfolgt.
b) Einzelakt muss den Anforderungen der Grundrechte genügen, insb. verhältnismäßig sein.
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Sie ist wieder da. Gestern diskutierte der Bundestag erstmalig den vom Bundeskabinett am 27.05.2015 beschlossenen Gesetzesentwurf zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung (abrufbar unter https://www.bundesrat.de/bv.html?id=0249-15). Zu diesem einige erste Gedanken:
I. Zur Erinnerung
Mit Urteil vom 2. März 2010 hat das BVerfG die §§ 113a und 113b des TKG und auch § 100g Abs. 1 S. 1 StPO, soweit danach Verkehrsdaten nach § 113a TKG erhoben werden durften, wegen Verstoßes gegen Art. 10 Abs.1 GG (unverhältnismäßiger Eingriff) für nichtig erklärt (BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 – 1 BvR 256/08 u.a.). §§ 113a und b TKG sahen eine Verpflichtung für Diensteanbieter vor, Verkehrsdaten ihrer Teilnehmer für sechs Monate zu speichern und diese Daten auf Anforderung den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung zu stellen. Die Strafverfolgungsbehörden waren gem. § 100g StPO u.a. bei einem Verdacht des Vorliegens einer Straftat von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung zum Abruf der Daten befugt. Die den §§ 113a und b TKG und § 100g Abs. 1 S. 1 StPO zugrundeliegende europäische Richtlinie 2006/24/EG hat der EuGH mit Urteil vom 8. April 2014 wegen Verstoßes gegen Artt. 7 und 8 EUGRC für unwirksam erklärt (EuGH, Urt. v. 08.04.2014 – C-293/12 u.a.).
II. Die drei Kernregelungen des Gesetzesentwurfs
Die Vorratsdatenspeicherung soll im Wesentlichen in Umsetzung folgender drei Kernregelungen wieder eingeführt werden:
1. Neuregelung der Erhebung von Verkehrsdaten nach § 100g StPO-E
Während in § 100g Abs. 1 StPO-E die Erhebung von Verkehrsdaten geregelt wird, die aus geschäftlichen Gründen bei den Erbringern öffentlich-zugänglicher Telekommunikationsdienste gespeichert werden, legt § 100g Abs. 2 StPO fest, unter welchen Voraussetzungen die nunmehr durch die neue Speicherpflicht nach § 113b TKG-E (dazu sogleich II. 2.) gespeicherten Daten erhoben werden dürfen. Die Erhebung der nach § 113b TKG-E gespeicherten Verkehrsdaten soll nach Maßgabe des § 100g Absatz 2 StPO-E nur unter engen Voraussetzungen möglich sein, nämlich zur Verfolgung besonders schwerer, in § 100g Absatz 2 Satz 2 StPO-E im Einzelnen benannter Straftaten, die auch im Einzelfall besonders schwer wiegen müssen. Bei der Erhebung von Verkehrsdaten sind in der Begründung ihrer Anordnung oder Verlängerung die wesentlichen Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit gesondert darzulegen (§ 101a Absatz 1 StPO-E).
2. Neuregelung der Speicherpflicht nach §§ 113a, b TKG-E
113a TKG-E bestimmt den Kreis der zur Speicherung von Verkehrsdaten Verpflichteten und sieht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine Entschädigungsregelung vor, wenn die Speicherpflicht zu unbilligen Härten führen würde. In § 113b TKG-E wird die Speicherung von genau bezeichneten Verkehrsdaten angeordnet. Dabei wird hinsichtlich der Speicherdauer differenziert. Während die Verbindungsdaten für zehn Wochen zu speichern sind, ist die Speicherung der besonders sensiblen Standortdaten auf vier Wochen beschränkt.
3. Einführung des neuen Straftatbestandes der Datenhehlerei, § 202d StGB-E
Gemäß § 202d StGB-E soll sich strafbar machen, wer nicht öffentlich zugängliche Daten, die ein anderer durch eine rechtswidrige Tat erlangt hat, sich oder einem anderen verschafft, einem anderen überlässt, verbreitet oder sonst zugänglich macht, um sich oder einen Dritten zu bereichern oder einen anderen zu schädigen. Die Tat soll mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht werden, wobei die Strafe nicht schwerer sein darf als die für die Vortat angedrohte Strafe.
Die Tat soll nur auf Antrag verfolgt werden, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält (§ 205 Abs. 1 S. 2 StGB-E).
III. Zweifel an der Verfassungs- und Europarechtskonformität des Gesetzesentwurfs
Der Gesetzesentwurf wird bisweilen für »grundrechtlich nicht vertretbar« gehalten (so der ehemalige »oberste deutsche Datenschützer« Peter Schaar, vgl. hier). Er ignoriere klare Vorgaben des EuGH, meint Renate Künast, die Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz im Deutschen Bundestag ist (vgl. hier). Auch der AK Vorrat (vgl. hier), der DAV (vgl. hier) und nicht zuletzt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages (vgl. hier) hat Zweifel an der Vereinbarkeit des Gesetzesentwurfs mit dem Europa- und Verfassungsrecht geäußert. Diese teilt der DRB wohl nicht, attestiert dem Entwurf aber fehlende Praktikabilität (vgl. hier).
1. Vorratsdatenspeicherung nicht per se verfassungs- oder europarechtswidrig
Zunächst ist festzuhalten, dass eine anlasslose, vorsorgliche Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten nach Auffassung des BVerfG nicht schlechthin mit Art. 10 Abs. 1 GG unvereinbar ist (BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 – 1 BvR 256/08 u.a., Ls. 1 – juris). Entsprechendes lässt sich nach der Rechtsprechung des EuGH für Artt. 7, 8 EUGRC, die gem. Art. 51 Abs. 1 EUGRC i.V.m. Art. 15 Abs. 1 der RL 2002/58/EG für nationale Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung einschlägig sind, feststellen (vgl. Simitis, NJW 2014, S. 2158, 2160). Die mit der Vorratsdatenspeicherung einhergehenden Eingriffe könnten grundsätzlich durch die legitimen Zwecke der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr gerechtfertigt werden. Um jedoch auch verhältnismäßig im engeren Sinne zu sein, müssten sie sich auf das »absolut Notwendige« beschränken, mithin besonderen Anforderungen an die Datensicherheit, den Umfang der Datenverwendung, die Transparenz und den Rechtsschutz genügen (vgl. BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 – 1 BvR 256/08 u.a., Rn. 220 ff. – juris; EuGH, Urt. v. 08.04.2014 – C-293/12 u.a., Rn. 52 ff. – juris)
2. Aber: Unzureichender Schutz von Berufsgeheimnisträgern und fehlende Normenklarheit?
Die Kritiker des Gesetzesentwurfs machen ihre Zweifel an dessen Verfassungs- und Europarechtskonformität im Wesentlichen an zwei Punkten fest: Erstens berücksichtige er den Schutz von Berufsgeheimnisträgern nicht ausreichend. Zweitens sei die Vorratsdatenspeicherung nicht »normenklar« formuliert.
Der Schutz von Berufsgeheimnisträgern wird nach dem Gesetzesentwurf zweistufig gewährleistet. Gem. § 113b Abs. 6 TKG-E dürfen Verbindungsdaten i.S.v. § 99 Abs. 2 S. 2 TKG nicht gespeichert werden. Betroffen sind Verbindungen zu Anschlüssen von Personen, Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen, die grundsätzlich anonym bleibenden Anrufern ganz oder überwiegend telefonische Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten und die selbst oder deren Mitarbeiter insoweit besonderen Verschwiegenheitspflichten unterliegen. Gespeichert aber von den Ermittlungsbehörden nicht erhoben werden dürfen gem. § 100g Abs. 4 StPO-E Verkehrsdaten der in § 53 Abs. 1 Nrn. 1 – 5 StPO genannten Berufsgeheimnisträger (Rechtsanwälte, Ärzte, Psychologen etc.). Ob es im Gegensatz hierzu verfassungs- oder europarechtlich geboten ist, Berufsgeheimnisträger in ihrer Gesamtheit von der Speicherung ihrer Verkehrsdaten auszunehmen, ist unsicher.
Mit Blick auf die RL 2006/24/EG kritisierte der EuGH zwar:
»Zudem sieht sie keinerlei Ausnahme vor, so dass sie auch für Personen gilt, deren Kommunikationsvorgänge nach den nationalen Rechtsvorschriften dem Berufsgeheimnis unterliegen« (EuGH, Urt. v. 08.04.2014 – C-293/12 u.a., Rn. 58 – juris).
Das BVerfG führte in seiner Entscheidung zu §§ 113a, b TKG und § 100g Abs. 1 S. 1 StPO hingegen aus:
»Angesichts der hohen Schwellen, die nach den vorstehenden Maßgaben schon grundsätzlich für die Verwendung vorsorglich gespeicherter Telekommunikationsverkehrsdaten gelten, hat der Gesetzgeber bei der näheren Regelung des Umfangs der Datenverwendung allerdings einen Gestaltungsspielraum. Insbesondere steht es ihm grundsätzlich auch frei, solche Verhältnismäßigkeitserwägungen dem zur Entscheidung über die Anordnung eines Datenabrufs berufenen Richter bei der Prüfung im Einzelfall zu überlassen. Verfassungsrechtlich geboten ist als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedoch, zumindest für einen engen Kreis von auf besondere Vertraulichkeit angewiesenen Telekommunikationsverbindungen ein grundsätzliches Übermittlungsverbot vorzusehen. Zu denken ist hier etwa an Verbindungen zu Anschlüssen von Personen, Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen, die grundsätzlich anonym bleibenden Anrufern ganz oder überwiegend telefonische Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten und die selbst oder deren Mitarbeiter insoweit anderen Verschwiegenheitsverpflichtungen unterliegen (vgl. BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 – 1 BvR 256/08 u.a., Rbn. 238 – juris).«
Mit Händen zu greifen ist dagegen die fehlende, vom BVerfG verlangte »Normenklarheit« des Gesetzesentwurfs (vgl. BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 – 1 BvR 256/08 u.a., Ls. 2 – juris). Hierzu zwei Beispiele:
- Wie gesehen dürfen nach dem Gesetzesentwurf Verbindungen zu Anschlüssen von Personen in kirchlichen Bereichen, die grundsätzlich anonym bleibenden Anrufern ganz oder überwiegend telefonische Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten gem. § 113b Abs. 6 TKG-E i.V.m. § 99 Abs. 2 S. 2 TKG nicht gespeichert werden. Diesem Speicherverbot unterliegen jedoch gem. § 100g Abs. 4 StPO-E i.V.m. § 53 Abs. 1 Nrn. 1 StPO nicht solche Verkehrsdaten, die die seelsorgerische Arbeit von Geistlichen betreffen. Ein offener Widerspruch.
- Plastisch ist auch die Formulierung von § 100g Abs. 1 StPO-E: »Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, dass jemand als Täter oder Teilnehmer eine Straftat […] begangen hat, so dürfen Verkehrsdaten (§ 96 Absatz 1 des Telekommunikationsgesetzes) erhoben werden, soweit dies zur Erforschung des Sachverhalts erforderlich ist und die Erhebung der Daten in einem angemessenem Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht. Im Fall des Satzes 1 Nummer 2 ist die Maßnahme nur zulässig, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos wäre […]«. Die Vorschrift ordnet im Ergebnis eine (unvollständige) Verhältnismäßigkeitsprüfung an, wobei scheinbar die Anforderungen an die Erforderlichkeit der Datenerhebung in den Fällen von § 100g S. 1 Nr. 2 StPO-E verschärft sein sollen. Ob diese Verschärfung mit dem formulierten Maßstab eintritt, ist zweifelhaft. Die Datenerhebung nach § 96 Abs. 1 TKG darf ohnehin nur durchgeführt werden, wenn sie das mildeste der gleich geeigneten Mittel zur Sachverhaltsaufklärung darstellt (»erforderlich«). Im Übrigen ist unklar, wann die Erforschung des Sachverhaltes auf andere Weise »aussichtlos« ist.
IV. Fazit
Die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung ist ein rechtlich heikles Unterfangen. Zweifel an der Europarechts- und Verfassungskonformität des aktuellen Gesetzesentwurfes sind nicht von der Hand zu weisen. Die letzten Worte werden wohl das BVerfG und der EuGH haben. Spannung(en) ist (sind) garantiert.
Der nachfolgende Beitrag stammt aus der gemeinsamen Kooperation mit jur:next und behandelt einen examensrelevanten Beschluss des BVerfG bzgl. der Unterbringung eines unter Videoüberwachung stehenden, vollständig entkleideten Strafgefangenen im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.
Beschluss des BVerfG vom 18. März 2015 Az.: – 2 BvR 1111/13 –
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Unterbringung eines Strafgefangenen in einem besonders gesicherten Haftraum mit Videoüberwachung unter vollständiger Entkleidung.
Leitsatz: „Im Hinblick auf die Ausstrahlungswirkung des Art. 1 Abs. 1 GG auf den Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und die hieraus resultierende besondere Wertigkeit dieses Schutzgutes berührt die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum mit permanenter Videoüberwachung bei vollständiger Entkleidung die durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Intimsphäre des Betroffenen.“
I. Zum Sachverhalt
Der Beschwerdeführer (B) war in der Abteilung für psychisch auffällige in der Justizvollzugsanstalt Kassel untergebracht, wo eine Zahnarztsprechstunde vorgesehen war. Nachdem diese Behandlung nicht durchgeführt werden konnte, begann der Gefangene gegen seine Haftraumtür zu schlagen und zu treten. Daraufhin wurde dieser in einen besonders gesicherten videoüberwachten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände verbracht und dort zum Ausschluss von Selbstverletzungen vollständig entkleidet. Der Haftraum war zwar dauerhaft beheizt, jedoch erhielt der B erst am folgenden Tag eine Hose und eine Decke aus schnell reißendem Material. Dies wurde von der JVA unter Verweis auf § 88 I, III iVm. Abs. 2 Nr. 1 StVollzG damit begründet, dass anfangs zu befürchten gewesen sei, dass er diese verwenden könne, um eine Überschwemmung des Haftraums durch Verstopfen der Toilette zu erzielen. Nach Beschreiten des Rechtsweges vor dem LG Kassel („Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ nach § 109 I StVollzG)[1] und vor dem OLG Frankfurt („Rechtsbeschwerde“ nach § 116 I StVollzG)[2], die die Maßnahmen der JVA unbeanstandet ließen erhob B frist- und formgerecht Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Er sah sich durch die JVA einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt, was das LG im Urteil und das OLG zudem in der unzulässigen Ablehnung der Verfahrensrüge verkannt hätten.
II. Problemaufriss
Die Zulässigkeit der VfB richtet sich nach Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 I Nr. 8 a BVerfGG. Beschwerdegegenstand ist einerseits die vollständig entkleidete Unterbringung als Akt der Exekutive sowie die darauf bezogenen bestätigenden Urteile der Gerichte als Akte der Judikative. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass B durch die Maßnahmen der JVA, aber auch durch die Urteile in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 19 Abs. 4 GG selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist, womit er auch beschwerdebefugt ist. Zwar sind die Maßnahmen der JVA bereits vollstreckt und der B ist zwischenzeitlich aus der Haft entlassen worden, jedoch wirken die bestätigenden Urteile immer noch belastend. Zudem stellt das BVerfG klar, dass auch das Rechtsschutz-interesse nicht entfallen ist: „[…] wenn gewichtige Grundrechtsverletzungen in Frage stehen, besteht das Rechtsschutzinteresse trotz Erledigung fort.“[3] Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert, dass zudem alle sonstigen Mittel, die dem Beschwerdeführer zur Korrektur der Verletzung zur Verfügung stehen, ergriffen werden müssen. Die nach § 116 Abs. I StVollzG erhobene Verfahrensrüge, mit der die Verletzung der Amtsaufklärungspflicht gerügt wird, ist wie der Grds. der Subsidiarität nur dann ausgeschöpft, wenn der Beschwerdeführer angibt, auf welchem Weg die Strafvollstreckungskammer die erstrebte Aufklärung hätte versuchen müssen. Nach Sinn und Zweck dieses Grundsatzes ist aber dann kein ausdrückliches Vorbringen zu bestimmten Rügepunkten zu verlangen, wenn sich bereits aus dem angegriffenen Beschluss selbst tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, den zur Entscheidung unterbreiteten Fall unter ganz bestimmten Gesichtspunkten zu würdigen.[4] Vor diesem Hintergrund hatte B einen durchgreifenden Verfahrensmangel gerügt und so mit seiner Rechtsbeschwerde alles ihm Zumutbare zur gerichtlichen Korrektur unternommen. Form und Frist gemäß §§ 23 I, 93 I S. 1 BVerfGG waren, da er sich zumindest auch gegen das letzte Urteil des OLG wendete, gewahrt. Die VfB ist somit insgesamt zulässig.
Begründet ist die VfB gemäß Art. 93 I Nr. 4 a GG, wenn der Akt öffentlicher Gewalt in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift und dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist in den folgenden Fällen begründet: die Rechtsgrundlage ist verfassungswidrig; der Einfluss der Grundrechte wurde ganz oder grds. verkannt; die Rechtsanwendung ist grob oder offensichtlich willkürlich oder die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung wurden überschritten.
Das Urteil des OLG Frankfurt könnte zunächst die Reichweite der Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG[APR]) verkannt haben. Der Schutzbereich der Menschenwürde (Art. 1 I GG) umfasst als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte den sozialen Wert – und Achtungsanspruch, der dem Mensch aufgrund seiner Subjektqualität zukommt.[5] Gerade auch im Strafvollzug müssen die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins dem Gefangenen erhalten bleiben. Aus dieser Prägung des APR durch Art. 2 I iVm Art. 1 I GG ergibt sich der Bereich einer geschützten Intimsphäre des Betroffenen. Dieser war durch die vollständig entkleidete Unterbringung in einem Haftraum mit permanenter Videoüberwachung der ständigen Beobachtung durch die Vollzugsbediensteten ausgesetzt, womit ein Eingriff in die Intimsphäre vorliegt.[6] An dieser Stelle verweist das BVerfG zudem auf die Wertungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen sind. Dieser hatte auch bei Vorliegen einer ernsthaften Gefahr der Selbstverletzung oder Selbsttötung festgestellt, dass der Gefangene durch die Entziehung der Kleidung bei gleichzeitiger Videoüberwachung einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist.[7]
Der Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II S. 1 GG) umfasst die menschliche Gesundheit im biologosch-physiologischen Sinne.[8] Der Gefangene musste die Nacht ohne Kleidung und Bettwäsche verbringen und war so zumindest einer Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens durch „Frieren“ ausgesetzt. Angaben bezüglich der Temperatur oder dessen regelmäßigen Kontrolle fehlten in den Aussagen der JVA und der Urteile, sodass bereits aufgrund diesen Umstands eine Unterkühlung nicht auszuschließen und ein Eingriff in Art. 2 II S. 1 GG vorliegt.[9]
Weiterhin könnte ein Eingriff in das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 IV GG) durch das Verkennen der Zulässigkeit der Verfahrensrüge vor dem OLG vorliegen. Aufgrund der gegebenen Rechtswegmöglichkeiten ist konsequenterweise nicht jede Verkennung von Grundrechten bzw. der Zulässigkeit von Klagen ein Eingriff in Art. 19 IV GG. Das Grundrecht ist jedoch dann berührt, wenn ins Auge springende Grundrechtsverletzungen im Haftvollzug von den Gerichten in der Folge ohne ausreichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden.[10] Die JVA hatte hier vorgetragen, dass die Darlegungen des Gefangenen nicht den Tatsachen entsprächen, das LG dem offenbar ohne Weiteres Glauben geschenkt und schließlich das OLG die dies betreffende Verfahrensrüge ohne weitere Prüfung wegen formeller Mängel abgelehnt (§ 118 Abs. 2 Satz 2 StVollzG), sodass auch ein Eingriff in Art. 19 IV GG vorliegt.
Die Rechtfertigung der Eingriffe erfordert eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage und deren verfassungsgemäße Anwendung. Ermächtigungsgrundlage für die Bestätigung des rechtmäßigen Handelns der JVA in den Urteilen war § 88 I, III iVm. II Nr. 1 StVollzG. Zur Verfassungsmäßigkeit der Norm bezieht das BVerfG keine Stellung. In einer Klausur sollte aber zumindest klargestellt werden, dass „der Entzug oder die Vorhaltung von Gegenständen“ (§ 88 II Nr. 1 StVollzG) als schwerwiegender Eingriff in das APR nur durch gleichwertige Verfassungsgüter („Abwendung erheblicher Gefahren für den Gefangenen“) gerechtfertigt sein kann. Dem Rahmen möglicher verfassungskonformer Auslegung genügt es nur dann, wenn es eng begrenzte Anwendungsräume gibt und die Maßnahme systematisch ultima ratio ist. Der Eingriff durch das Urteil in Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG bzw. Art. 2 II S. 1 GG wäre dann gerechtfertigt, wenn in der Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen der „Abwendung erheblicher Gefahren für den Gefangenen“ (§ 88 I StVollzG) oder der „Gefahr erheblicher Störung der Anstaltsordnung“ (§ 88 III StVollzG) der Reichweite der Grundrechte genüge getan worden wäre. Die Wegnahme einzelner Kleidungsstücke kann in diesem Zusammen-hang insbesondere bei Suizidgefahr zwar gerechtfertigt sein. Der Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit erfordert bezüglich dieses legitimen Ziels jedoch einen angemessen Ausgleich zur Erheblichkeit des Eingriffs. So konnte dem Gefangenen als milderes Mittel Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung gestellt werden, um ihn nicht zum bloßen Objekt des Strafvollzuges zu degradieren. Dieses war auch gleich geeignet, da die auf das bloße Trommeln an die Zellentür gestützte Annahme der Selbstgefährdung nicht trägt. Im Hinblick auf die zusätzliche Möglichkeit der Videoüberwachung, durch die auch ein etwaiges Verstopfen der Toilette unmittelbar hätte verhindert werden können, war die Maßnahme damit bereits nicht erforderlich. Somit das stellt das Urteils des LG bloße Ordnungsbelange über den die Würde berührenden Intimbereich des Betroffenen und verkennt die Tragweite von Art. Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG bzw. Art. 2 II S. 1 GG. Bezüglich des Eingriffs in Art. 19 IV GG ist festzustellen, dass die bloße Darstellung des LG der (strittigen) ausreichenden Beheizung des Haftraums nicht ausreichend ist. Sie verkennt, dass bei „einer kumulativen Anordnung einzelner Sicherungsmaßnahmen die Notwendigkeit jeder einzelnen Maßnahme detailliert zu begründen ist.“[11] Die daran anschließende automatische Ablehnung der Verfahrensrüge wegen formeller Mängel vor dem OLG stellt eine unzumutbare, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigende Erschwerung des effektiven Rechtsschutzes dar.
III. Bedeutung für das Studium
Das BVerfG setzt seine Argumentation zu der Behandlung von Strafgefangenen in konkretisierender Weise fort.[12] Diese ist in Bezug auf die Wahrung des APR und des effektiven Rechtsschutzes überaus linear, klar und somit essentielles Basiswissen für jeden im Examen. Abgesehen davon gilt es den immer wiederkehrenden vermischenden Strukturen in den Entscheidungen des BVerfG zu trotzen und eine saubere Prüfung nach den einzelnen Grundrechten und den angegriffenen öffentlichen Akten durchzuführen. Besonders auffällig wird in dieser Entscheidung dabei auch, wie unklar oft die Grenze zu einer Superrevisionsentscheidung verläuft. So darf das BVerfG nur die spezifische Verletzung von Verfassungsrecht in den angeführten Urteilen rügen. Diese Grenze verwischt im vorliegenden Beschluss immer wieder, wenn der von den Vorgerichten bereits ermittelte Sachverhalt in Frage gestellt, anders ausgelegt, oder gar ein Eingriff aufgrund des Fehlens anderslautender Sachverhaltsermittlungen (bspw. zu Art. 2 II GG) einfach angenommen wird. Diese Ungenauigkeiten des BVerfG sind übrigens daher in einer Examensklausur absolut verboten.
[1] Beschl. des LG Kassel v. 12.06.2012 – 3 StVK 12/11.
[2] Beschl. des OLG Frankfurt am Main v. 26.02.2013 – 3 Ws 695/12 (StVollz).
[3] 2 BvR 553/01 -, NJW 2002, 2699 (2700).
[4] Vertiefend dazu: BVerfG, Beschl. v. 18.06.2008 – 2 BvR 1119/07 -, juris, Rn. 16.
[5] Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 6.
[6] Vgl. Rn. 30.
[7] Verstößt insofern gegen Art. 3 der EMRK, vgl. EGMR, Hellig v. Germany, Urt. v. 07.07.2011 – 20999/05 -, § 56 f.
[8] Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 II, Rn. 83.
[9] So das BVerfG durchaus vage in Rn. 43.
[10] Vgl.Rn.39.
[11] Rn. 36.
[12] Vgl. dazu auch BVerfG, Beschl. v. 15.07. 2010 – 2 BvR 1023/08.
Wir freuen uns, auch heute wieder einen Beitrag aus der gemeinsamen Kooperation mit jur:next veröffentlichen zu können. Nachfolgend wird ein Beschluss des OVG NRW besprochen, der wegen der hohen Relevanz des Eilrechtsschutzes in der Ersten Staatsprüfung Anlass bietet, sich anhand einer politisch aktuellen Situation in das Thema einzudenken.
Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 2015 ·
Az. 15 B 45/15
Leitsatz: „Zulässigkeit und Grenzen von staatlichen Aufrufen an die Bevölkerung zu Kundgebungen oder ähnlichen politischen Aktionen sind jedoch bislang in der verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung nicht hinreichend geklärt. Zwar wird die Antragstellerin durch den Aufruf des Antragsgegners jedenfalls in ihren Grundrechten aus Art. 5 und 8 GG berührt. Sie kann aber ihre Versammlung gleichwohl wie geplant durchführen.“
I. Zum Sachverhalt
Der PEGIDA-Ableger DÜGIDA hatte für den 12.01.15 eine Demonstration mit dem allseits bekannten Thema der Islamisierung des Abendlandes geplant. Der Oberbürgermeister der Stadt Düsseldorf wollte dies nicht ohne weiteres hinnehmen. Angelehnt an die Maßnahme des Erzbistums Köln den Dom zu verdunkeln, sollten auch hier sämtliche städtische Einrichtungen als Zeichen der Ablehnung das Licht ausschalten. Auf der Internetseite der Stadt Düsseldorf wurden die Bürger gar zu einer Gegendemonstration aufgerufen. Darüber hinaus wurden auf der öffentlichen Plattform auch die regional ansässigen Betriebe dazu aufgefordert gegen DÜGIDA das Licht auszuknipsen. Ein Antrag einer Demonstrantin D auf einstweilige Untersagung des Handelns des OB von Düsseldorf hatte vor dem ansässigen VG Erfolg.[1] Das Stadtoberhaupt legte jedoch Beschwerde gegen die Untersagung beim OVG in Münster ein, welcher am 12.01.15 stattgegeben wurde.
II. Problemaufriss
Zunächst ein kurzer Überblick zur Zulässigkeit des verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes:
Gem. § 123 V VwGO ist die einstweilige Anordnung nach § 123 I VwGO subsidiär zu § 80 V VwGO. Dieser Fall tritt ein, wenn in der Hauptsache eine Anfechtungsklage statthaft wäre, also sich das Begehren des Klägers auf die Abwehr eines nicht erledigten Verwaltungsakts richtet. Mangels Regelungsgehalts der Aufforderungen des OB im Internet an die Unternehmen ist eine Verwaltungsaktqualität zu verneinen. Bei der Anweisung das Licht in den Verwaltungsgebäuden auszuschalten handelt es sich ferner um eine innerbehördliche Maßnahme, der folglich eine Aussenwirkung fehlt. Vorliegend wäre somit nur eine Leistungsklage in Form des öffentlichrechtlichen Abwehr- und Unterlassungsanspruchs statthaft in der Hauptsache. Die einstweilige Anordnung ist nach § 123 Abs. 1 VwGO zur Sicherung einer vorhandenen Rechtsposition (S. 1) als auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes (S. 2) möglich. Die Anordnung nach Satz 1 ergeht bspw. bei sicherungsfähigen Unterlassungsansprüchen (Sicherungsanordnung). Eine solche nach Satz 2 hingegen zur Erweiterung des Rechtskreises bspw. durch Verpflichtungsverhältnisse (Regelungsanordnung). Das OVG bejaht vorliegend ohne weitere Prüfung eine Regelungsanordnung. Dafür spricht, dass man das Verlangen der D auf ein Lichtanlassen als ein „Mehr“ im Vergleich zur bereits genehmigten und gesicherten Versammlung sehen könnte. Dagegen spricht jedoch klar die dargestellte Unterlassungskonstellation. Die D möchte ihre bereits gesicherte Rechtsposition aus Art. 8 I GG vor einer Gefährdung durch das Handeln des OB schützen. Damit liegt der Fall einer Sicherungsanordnung vor, wobei letztlich jedoch mit guten Argumenten beiden Alternativen gefolgt werden kann. D ist auch gemäß § 42 II VwGO analog antragsbefugt, da sie auch im etwaigen Hauptsacheverfahren möglicherweise in ihrem Rechten aus Art. 8 I, 5 I 1 GG gefährdet wäre. Richtiger Antragsgegner nach § 78 I Nr. 1 VwGO analog ist die Stadt D als Rechtsträger des als in seiner Funktion als Behörde handelnden OB. Das Rechtsschutzbedürfnis im einstweiligen Rechtsschutz kann fehlen, wenn es einfachere Wege zur Erreichung des Begehrens des Antragstellers, bspw. durch einen Antrag bei der Behörde gibt oder auch das Hauptsacheverfahren insgesamt offensichtlich unzulässig wäre. Diesbezügliche Annahmen gibt es nicht, sodass der Antrag der D auf Erlass einer Sicherungsanordnung auch insgesamt zulässig ist.
In der Begründetheit müssen ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund gegeben sein. Ein Anordnungsanspruch besteht wenn die Klage in der Hauptsache nicht offensichtlich unbegründet ist. Demnach ist hier die Unterlassungsklage der D summarisch zu prüfen. Sowohl Art. 8 I GG als auch dessen einfach gesetzliche Konkretisierung in § 1 VersG garantieren das subjektive öffentliche Recht der Freiheit einer Versammlung. Bei der PEGIDA- Demo handelt es sich um ein Zusammentreffen zur politischen Meinungskundgabe und somit bereits nach der engsten Definition um eine Versammlung. Es stellt sich die Frage, ob in diese Rechtsposition hoheitlich eingegriffen worden sein könnte. Der Düsseldorfer OB veröffentlichte die Aufforderungen auf der städtischen Internetplattform und gab innerbehördliche Anweisungen aus, sodass er in seiner hoheitlichen Funktion als gemeindliche Behörde (§ 62 II 2, 63 I GONW) handelte. Gesichert wird durch Art. 8 I GG das umfassende Recht Ort, Zeit und Umfang einer Versammlung frei zu gestalten. Auch in Dunkelheit öffentlicher und gewerblicher Gebäude kann die D ihre Versammlung wie geplant durchführen, da Straßen- und Wegebeleuchtung ihren Marsch sichern. Sinn und Zweck der Versammlungsfreiheit ist jedoch neben der organisatorischen Durchführung eine bestimmte meinungsbildende Wirkung nach außen tragen zu können. Einer vorher öffentlich „ausgeknipsten“ Veranstaltung ist dies nicht in gleicher Weise möglich, wie unter den Alltagsvoraussetzungen, die gerade die Besonderheit einer solchen Kundgebung hervorheben. Ihr wird in diesem Sinne die ausübende Wirkung erschwert. Auch wird sie von staatlicher Seite nicht in gleicher Weise wie eine gewöhnliche Demonstration behandelt. Diese vorliegende Beeinträchtigung der Rechtsposition aus Art. 8 I GG war auch gerade in funktionaler Weise das Ziel des Handelns des OB. Ein darüber hinaus gehender Eingriff in die Meinungsfreiheit aus Art. 5 I GG, kann, wenn man wiederum auf die Wirkungsweise und die Darstellung der Demonstration als beeinträchtige Äußerung abstellt, gleichfalls bejaht werden.
Fraglich ist demnach, ob der Eingriff rechtswidrig war, also insbesondere von der D zu dulden sein könnte. Anmeldepflichtige und nicht verbotene Versammlungen können grds. nur unter den tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 14 ff. VersG beschränkt werden. Eine mögliche Duldungspflicht gegnüber dem Handeln des OB findet sich hier und somit insgesamt nicht. Die öffentlichen Aufrufe könnten jedoch als im politischen Meinungskampf gerechtfertigt sein. Dies wäre nicht der Fall, wenn das Amt des Bürgermeisters, das der OB wie dargestellt ausgenutzt hat, dem staatlichen Neutralitätsgebot unterworfen ist. Das BVerfG hatte erst kürzlich entschieden, dass auch im öffentlichen Meinungskampf zwischen politischen Vertretern und parteilich organisierten Bürgern das staatliche Neutralitätsgebot aus Art. 20 I, II und Art. 21 I GG zu beachten ist. [2] Ob diese Grundsätze auf einen kommunalen Vertreter gegenüber einer politischen Organisation anwendbar sind, wurde, wie auch das OVG feststellt, bisher nicht entschieden.[3] Klar ist, dass Grundsätze der verfassungsmäßigen Ordnung über Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG auch für die Länder und Kommunen gelten. Zwar zielt der Grundsatz auf die besondere Stellung der Parteien und deren Freiheit in Wahlkampfzeiten ab, dies darf jedoch nicht ausschließen, dass die demokratische Willensbildung, die auch gerade durch politische Organisationen erst entstehen kann, gleichfalls geschützt sein muss. Ferner sind Gründe warum dieses verfassungsrechtlich normierte Gebot, das so an Funktion und Ausübung eines Mandats eine Neutralitätspflicht knüpft, nicht auch für einen Gemeindevorsteher gegenüber einer politischen Organisation gelten soll nicht ersichtlich. In beiden Fällen geht es um die Ausnutzung der hoheitlichen Amtsstellung zur Beeinflussung politischer Willensbildung. In beiden Fällen führt dies so zu einem öffentlichkeitswirksamen Vorteil gegenüber den politischen Gegnern. Ausnahmen gelten nur dann, wenn es um offensichtlich verfassungsfeindliche Bestrebungen geht, die innerhalb der Demokratie zu bekämpfen ausdrücklich erlaubt ist (Art. 20 IV GG).[4] All diese Ausführen finden sich wenn überhaupt nur unvollständig in der Entscheidung des OVG wieder. Demnach liegt ein rechtswidriger Eingriff in Art.8 I, 5 I GG vor, ein Erfolg in der Hauptsache wäre zu erwarten und ein Anordnungsanspruch besteht.
Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn eine Eilentscheidung nötig ist, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gefahren zu verhindern (Interessenabwägung). Zunächst ist richtig, dass es sich aufgrund der Kürze der Zeit vorliegend um eine endgültige Entscheidung handelt, das die Hauptsache letztlich vorwegnimmt.[5] Dies liegt jedoch offensichtlich in der Natur der Sache einer Eilentscheidung, die mit einem zeitlich stark befristeten Unterlassungsbegehren verbunden ist. Nach ständiger Rechtsprechung muss das Abwarten für den Antragsteller schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge haben. Ein Abwarten des Hauptsacheverfahrens war offensichtlich mit nicht mehr zu beseitigenden Nachteilen verbunden, da die Versammlung unmittelbar bevorstand. Zudem wurde der nicht unerhebliche Einfluss auf Art und Umfang der Kundgebung bereits dargestellt. Die schon erwähnten gegenteiligen Argumente können aber auch hier zu einer Ablehnung eines Anordnungsgrunds kommen. Sicher ist jedoch, dass die Feststellung durch das OVG: „Sie [die D] (Anm. d. Verf.) kann aber ihre Versammlung gleichwohl wie geplant durchführen“[6], welche zugleich mit dem Ausbleiben einer Würdigung der Hauptsache einherging, offensichtlich unzureichend ist. Das Gericht verwies dafür zwar auf die Kürze der Zeit, wollte aber Mehr oder Minder sagen: „ Ist doch nicht so schlimm, stellen Sie sich nicht so an!“
Nach dem Vorliegen eines Anordnungsgrundes ist dessen Glaubhaftmachung gemäß den §§ 920, 294 ZPO erforderlich. Die Rechtsfolgen einer einstweiligen Anordnungen stehen grds. im Ermessen des Gerichts (§ 123 III iVm § 938 I ZPO). Bezüglich des Ob der Anordnung ist nach ganz herrschender Auffassung bei Bejahung der vorhergehenden Merkmale kein Raum. Jedenfalls muss aber der Inhalt der Entscheidung vom Gericht bestimmt werden. Hier dürfen grds. keine Vorwegnahme und auch kein Überschreiten des Begehrens der Hauptsache erfolgen. Vorliegend handelte es sich wie dargestellt jedoch gerade um einen solchen Ausnahmefall, sodass ein Abwarten in der Hauptsache unzumutbar war. Schließlich konnte damit hier die Anordnung getroffen werden, dass der OB sowohl seine öffentliche Aufforderung als auch seine innerbehördliche Anweisung zur „Lichtblockade“ gegen DÜGIDA zu unterlassen bzw. zurückzunehmen hat.
III. Bedeutung für die Ausbildung
Der verwaltungsgerichtliche Eilrechtsschutz ist ein Dauerbrenner im Examen, da hier die einzelnen Ö- Rechtsgebiete übergreifend beherrscht werden müssen. Sind jedoch die dargestellten Grundzüge der §§80 V, 123 I klar, kann mit guter Argumentation und Überblick gepunktet werden. Das Urteil des OVG selbst ist aus den genannten Gründen zwar nicht lesenswert, jedoch besitzt die Fallkonstellation höchste Aktualität und somit auch Relevanz für die Erste Staatsprüfung.
[1] VG Düsselsdorf: Beschl. v. 9.01.2015, Az. 1 L 54/15.
[2] BverfG, Urteil vom 16.12.2014, Az. 2 BvE 2/14.
[3] Rn. 8.
[4] So bspw. bei einem Aufruf eines Bürgermeisters zu einer Gegendemonstration gegen einen verfassungsfeindlichen Verein: Beschluss des OVG vom 12.06.2005 · Az. 15 B 1099/05.
[5 ] Rn. 6.
[6] So das OVG in diesem Urteil lapidar in Rn. 9.
Das VG Hannover (Urteil vom 08.07.2014 – Az. 7 A 4679/12) hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob es einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellt, wenn Kinder vor laufender Kamera von ihrer Mutter misshandelt werden und diese Szenen anschließend mehrfach im TV ausgestrahlt werden. Der TV-Sender berief sich darauf, dass dies in erster Linie pädagogischen Zwecken und dem Kinderschutz diene. Weiterhin ging es um die Frage, ob eine positive verlaufene Vorab-Überprüfung durch die FSF einer nachträglichen Beanstandung durch staatliche Stellen entgegensteht.
Sachverhalt
2011 strahlte der Privatsender RTL eine Folge der Fernsehserie „Die Super Nanny“ aus, in der eine Mutter ihre drei Kinder im Alter von 3, 4 und 7 Jahren vor laufender Kamera mehrfach schlug, beschimpfte und bedrohte. Um die Mutter mit ihren Handlungen zu konfrontieren, wurden diese Szenen im Laufe der Sendung mehrfach wiederholt.
Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) konnte in der Vorabprüfung der Folge keinen Verstoß gegen die Menschenwürde nach den Bestimmungen des Staatsvertrages über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (JMStV) feststellen und gab sie zur Ausstrahlung frei. Die aufgrund von Zuschauerbeschwerden eingeschaltete Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) sah dies anders: sie stellte einen Verstoß gegen die Menschenwürde fest und beanstandete die Sendung. Die zuständige Niedersächsische Landesmedienanstalt (NLM) war derselben Auffassung. Sie führte in ihrem Beanstandungsbescheid aus, dass es sich um eine „reißerische Darstellung“ handele, die primär auf den „Voyeurismus“ der Zuschauer abziele. Die Kinder würden „zu kommerziellen Zwecken instrumentalisiert“, zur „Objekten der Zurschaustellung herabgewürdigt“ und in ihrem “sozialen Achtungsanspruch verletzt“. Außerdem wurde der Sender aufgefordert, die Ausstrahlung künftig zu unterlassen.
Gegen diesen Bescheid wandte sich RTL mit einer Klage vor dem VG Hannover. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass die Unterlassungsaufforderung in dem Beschluss der KJM nicht enthalten und diese daher rechtswidrig sei. Weiterhin habe sich die KJM nicht abweichend über die Entscheidung der FSF hinwegsetzen dürfen, da diese eine gesetzliche Sperrwirkung entfalte. Auch sei überhaupt kein Verstoß gegen die Menschenwürde gegeben, weil es in der Sendung primär um erziehungspädagogische Ziele und den Kinderschutz gehe.
Entscheidung des VG Hannover
Das VG Hannover hat die Klage abgewiesen. Die Richter sahen in der Ausstrahlung der Folge ebenfalls einen Verstoß gegen die Menschenwürde. Die NLM sei in ihrem Bescheid zu Recht von einem Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 8 JMStV ausgegangen. Die Mutter habe mit ihrem Verhalten gegen das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung sowie das Verbot körperlicher Strafen, seelischer Verletzungen und anderer entwürdigenden Maßnahmen gem. § 1631 Abs. 2 BGB verstoßen. Die gefilmten Gewalthandlungen seien mehrfach in der Folge dargestellt und auch im Vorspann gezeigt worden. Insgesamt seien so 22 Gewalthandlungen ausgestrahlt worden, wovon sich allein 14 gegen den vierjährigen Sohn richteten. Die wiederholte Gewaltdarstellung während der Sendung und die Zusammenstellung dieser Szenen im Vorspann, um Zuschauer anzulocken, verletze die Menschenwürde der Kinder. Auch sei zu beachten, dass 9 der Gewalthandlungen vom Aufnahmeleiter hingenommen wurden, ohne dass dieser dagegen einschritt. Dies müssten die Kinder als ein Gefühl des „Ausgeliefertseins“ empfunden haben. Erst die „Super Nanny“ sei nach ihrem Hinzutreten bei der insgesamt zehnten Gewalthandlung eingeschritten. Dies ergebe sich aus dem Sendungszusammenhang.
Nach § 11 Abs. 3 NMedienG (Niedersächsiches Mediengesetz) war die NLM auch berechtigt, aufgrund der Beanstandung der KLM zugleich die Aufforderung auszusprechen, den Verstoß in Zukunft zu unterlassen. Grund dafür sei, dass es sich hierbei um eine einheitliche Rechtsfolge des Verstoßes handele. Auch entfalte die Entscheidung der FSF keine Sperrwirkung, so dass eine hiervon abweichende nachträgliche Beanstandung von KJM und NLM zulässig war. Die Beurteilung der FSF entfalte nämlich bei verfassungskonformer Auslegung des § 20 Abs. 1 S. 3 JMStV jedenfalls dann keine Sperrwirkung, wenn ein Verstoß gegen die Menschenwürde als oberster Verfassungswert in Frage stehe.
Die Berufung zum OVG wurde zugelassen. Grund dafür ist, dass das VG Hannover der vorliegend zu beantwortenden Frage, ob bei dem Infragestehen eines Verstoßes gegen die Menschenwürde ein Einschreiten der KJM gem. § 20 Abs. 3 S.1 JMStV gesperrt sei, wenn der Rundfunkveranstalter die Vorgaben einer für ihn positiven FSF-Entscheidung beachtet, grundsätzliche Bedeutung beimisst.
Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag
Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ist ein Staatsvertrag zwischen den deutschen Bundesländern, welcher der Selbstkontrolle der Medien dient. Er bezweckt den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor entwicklungsgefährdenen und –beeinträchtigenden Angeboten in Rundfunk und Telemedien. Weiterer Zweck ist der Schutz -auch von Erwachsenen- vor solchen Angeboten, die die Menschenwürde oder sonstige strafrechtlich geschützten Güter verletzen.
Kontrolliert wird die Einhaltung der Vorgaben des JMStV durch die KJM, welche die zentrale Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendschutz im privaten Fernsehen und im Internet ist, sowie durch die zuständige Landesmedienanstalt. Darüber hinaus überprüfen Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle -wie hier die FSF oder die Freiwillige Selbstkontrolle der Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM)- die Einhaltung dieser Bestimmungen.
Um den veränderten Anforderungen im Internet Rechnung zu tragen, soll der JMStV geändert werden. Eine 2010 geplante Novelle des JMStV im Rahmen des 14. Rundfunkänderungsstaatsvertrages ist nach kontroverser Diskussion gescheitert. Bei der geplanten Änderung ging es im Kern um die Einführung einer freiwilligen Alterskennzeichnung von Netzinhalten durch die Anbieter, welche in Kombination mit am Computer zu installierenden Jugendschutzprogrammen ungeeignete Inhalte filtern und sperren sollten. Als Alternative dazu stand im Raum, dass jugendbeeinträchtigende Inhalte erst ab 22 Uhr abrufbar sein sollten. Derzeit wird an einem neuen Entwurf gearbeitet.
Fazit
Das TV-Format wurde bereits 2011 eingestellt, nachdem es vom Deutschen Kinderschutzbund lange Zeit kritisiert wurde. Auch die KJM hatte zuvor schon einmal eine Folge der „Super Nanny“ beanstandet.
RTL bedauert die Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Falls Berufung einlegt wird, bleibt die Entscheidung des OVG abzuwarten. Dass dieses in dem geschilderten Sachverhalt keine Verletzung gegen die Menschenwürde sehen wird, ist wohl eher unwahrscheinlich. Interessant wird die Beantwortung der Frage sein, ob eine vor Ausstrahlung der Sendung positiv verlaufene Kontrolle durch die FSF (bei der es sich ja schließlich um eine private Einrichtung handelt) dazu führen kann, dass der Sender nach den Vorgaben des JMStV keinen Maßnahmen durch die KJM mehr ausgesetzt werden kann.
Gerade im öffentlichen Recht zeigen die Examensdurchgänge der letzten Monate und Jahre (siehe die Original-Examenssachverhalte hier), dass die Klausurersteller äußerst regelmäßig auf die unveränderten Sachverhalte von aktuelleren Gerichtsentscheidungen zurückgreifen. Aus diesem Grund kann den angehenden Examenskandidaten nur angeraten werden, sich regelmäßig über die letzten Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten (eine Auflistung besonders examensträchtiger Entscheidungen findet sich zudem hier).
In den letzten Tagen sind insofern auch wieder eine ganze Reihe von öffentlich-rechtlichen Problemkreisen durch die verwaltungsgerichtliche Judikatur gegangen. Da die Pressemitteilungen der genannten Fälle die jeweils einschlägige Problematik bereits ausreichend erläutern, werden im Folgenden lediglich Auszüge aus den respektiven Mitteilungen zitiert, was ausreichen sollte, um das Problembewusstsein entsprechend zu sensibilisieren.
BVerwG: Heilpraktikererlaubnis kann auch bei Erblindung zu erteilen sein (Urteil vom 13.12.2012 – 3 C 26.11)
Nach den Vorschriften des Heilpraktikergesetzes bestehe ein Rechtsanspruch auf die Erlaubniserteilung, wenn kein Versagungsgrund nach der Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz eingreift. Die Blindheit der Klägerin begründe keinen Versagungsgrund im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen. Zwar könne sie solche Heilpraktikertätigkeiten nicht ausüben, die eine eigene visuelle Wahrnehmung voraussetzen. Es verblieben daneben aber, wie die Vorinstanz für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat, Bereiche, in denen sie selbstverantwortlich heilpraktisch tätig sein kann. Dazu gehöre insbesondere die Behandlung all jener Erkrankungen, die sich allein mit manuellen Methoden diagnostizieren und therapieren lassen.
Es sei zudem unverhältnismäßig, die Heilpraktikererlaubnis unter Hinweis auf eine mangelnde gesundheitliche Eignung zu versagen, meint das BVerwG. Das folge sowohl aus dem Grundrecht auf freie Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) als auch aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf.
OLG Köln: Religiöse Gründe rechtfertigen keine vollständige Schulverweigerung (Beschluss vom 27.11.2012 – 1 RBs 308/12)
Eltern dürfen den Schulbesuch ihrer schulpflichtigen Kinder nicht aus religiösen Gründen vollständig verweigern.
Nach Auffassung der Eltern habe das Kreisschulamt mit dem Durchsetzen der Schulpflicht derweil gegen Menschenrechte und gegen die Grundrechte aus Art. 6 und Art. 7 GG verstoßen. Die im Landesschulgesetz normierte Schulpflicht verstoße gegen die Neutralitätspflicht des Staates. Der Schulunterricht sei neomarxistisch angelegt und ziele darauf ab, die Eltern-Kind-Beziehung zu zerstören und christliche Werte aus der Gesellschaft zu entfernen. Die Schule betreibe die Erziehung der Kinder zur Schamlosigkeit, trainiere sie in der Gossensprache und wolle durch «Gender Mainstreaming» die gottgegebenen unterschiedlichen Wesensmerkmale von Mann und Frau verwischen.
Die Ausübung des elterlichen Erziehungsrechts unterliegt nach Auffassung des Gerichts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG der Überwachung durch die staatliche Gemeinschaft. Nach Art. 7 Abs. 1 GG unterstehe das Schulwesen der staatlichen Aufsicht. Damit dürfe der Staat unabhängig von den erzieherischen Vorstellungen der Eltern auch eigene Erziehungsziele verfolgen. Es bleibe den Eltern unbenommen, im außerschulischen Bereich durch eigene erzieherische Maßnahmen ihrer Meinung nach bestehende Mängel der schulischen Erziehung auszugleichen. Ob der Schulunterricht nach staatlichen Lehrplänen als neomarxistisch einzuordnen sei, erörterte das Gericht indes nicht (siehe zum examensrelevanten Schulrecht zudem auch diesen Beitrag).
VG Köln: Keine Befreiung vom Schwimmunterricht für 12-jährigen muslimischen Jungen (Beschluss v. 20.11.2012 – 10 L 1400/12)
Das VG Köln hat einen Eilantrag abgelehnt, mit dem die Eltern eines 12-jährigen muslimischen Jungen dessen Befreiung vom Schwimmunterricht in der Klasse 7 erreichen wollten. Die Eltern hatten geltend gemacht, während des gemeinsamen (koedukativen) Schwimmunterrichts von Jungen und Mädchen sei ihr Sohn gezwungen, seine nur mit Badekleidung bekleideten Mitschülerinnen anzusehen. Dies sei mit den islamischen Glaubensgrundsätzen der Familie nicht vereinbar.
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts hätten die Eltern schon nicht nachvollziehbar dargelegt, dass der Teilnahme ihres Sohnes am koedukativen Schwimmunterricht von der Familie als verbindlich erachtete religiöse Vorschriften entgegen stünden. So nehme er etwa am allgemeinen koedukativen Sportunterricht teil, bei dem er ebenfalls leicht bekleidete Schülerinnen und Schüler zu sehen bekomme, ohne insoweit einen Gewissenskonflikt geltend zu machen. Jedenfalls sei angesichts der Bedeutung des staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrags eine Teilnahme am Schwimmunterricht hier zumutbar. Der Schüler sei dadurch keinen größeren Konflikten ausgesetzt als im Alltag innerhalb und außerhalb der Schule, wo er ebenfalls Mädchen und Frauen begegne, die gelegentlich nur leicht bekleidet seien. Im Übrigen sei die Schule verpflichtet durch getrennte Umkleidemöglichkeiten, die konkrete Ausgestaltung des Schwimmunterrichts und die pädagogische Einflussnahme auf die Mitschülerinnen und Mitschüler Beeinträchtigungen der Glaubensfreiheit zu vermeiden.
OLG Koblenz: Kommunen dürfen Fütterung von Tauben und Wasservögeln verbieten (Beschluss vom 02.05.2012 – 2 SsBs 114/11)
Kommunen sind grundsätzlich berechtigt, die Fütterung freilebender Tieren wie Tauben oder Wasservögel in ihrem Gebiet zu verbieten, um Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Die Gefahrenabwehrverordnung der Verbandsgemeinde sei wirksam, so das OLG. Sie beruhe auf einer hinreichenden gesetzlichen Ermächtigung und sei auch verhältnismäßig. Die Verbandsgemeinde sei berechtigt, durch eine solche Verordnung bestimmte Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwenden. Hier sei insbesondere der Umstand in den Blick genommen worden, dass Wasservögel an den Menschen gewöhnt würden und vermehrt öffentliche Wege und Plätze beträten, um Futter zu verlangen. Dies könne zu nicht unerheblichen Verschmutzungen von Gehwegen, Straßen und Gebäuden durch Exkremente sowie letztlich zu Substanzschäden an öffentlichem und privatem Eigentum führen (siehe instruktiv zur Rechtmäßigkeit von sog. Gefahrenverordnungen hier sowie zu ordnungsrechtlichen Verboten, die im Wege der Allgemeinverfügung auferlegt werden, hier).
Sachverhalt (verkürzt)
Das VG Aachen hat mit noch nicht veröffentlichtem Urteil (1 K 1518/12) vom 29.11.2012 entschieden, dass ein Bewerber, welcher sich für den Vorbereitungsdienst im Rahmen der Einstellung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst beworben hat, nicht schon deshalb als für den Polizeidienst ungeeignet abgelehnt bzw. nicht schon von vornherein vom Auswahlverfahren ausgeschlossen werden darf, weil dieser an beiden Armen große Tätowierungen von der Schulter bis zu den Unterarmen aufweist. Die Teilnahme am Auswahlverfahren ist für jeden Bewerber Voraussetzung für dessen Einstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst und das am 01.09.2012 beginnende Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung. In diesem Sinne folgt das Urteil einer Entscheidung (1 L 277/12) gleichen Rubrums vom 31.07.2012, welche durch das VG Aachen bereits im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 I 2 VwGO erfolgt ist.
Rechtliche Würdigung
Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zur Geeignetheit eines Beamten aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes häufen sich in den letzten Jahren, sodass damit fast zwangsläufig auch eine gewisse Klausurrelevanz verbunden ist. Es gilt hier stets die Grundrechte des Beamten – oder in diesem Falle des Bewerbers – in Einklang mit den im öffentlichen Dienst vorherrschenden Strukturprinzipien zu bringen.
In diesem Fall könnten der Einstellung eines auffällig tätowierten Bewerbers für den Polizeivollzugsdienst die in Art. 33 GG verankerten Strukturprinzipien des öffentlichen Dienstrechts entgegenstehen. Betroffen ist, mit der Berücksichtigung für das Auswahlverfahren und der vom Kläger beabsichtigten Einstellung in den Polizeivollzugsdienst, insbesondere der Zugang zu einem öffentlichen Amt. Zwar enthält das in Art. 33 II GG begründete Leistungsprinzip für jeden Bewerber in diesem Zusammenhang das Recht, bei seiner Bewerbung um ein öffentliches Amt allein nach den hier genannten Voraussetzungen – d.h. Eignung, Befähigung und fachliche Leistung – beurteilt und unter gleichen Zugangsmöglichkeiten eingestellt zu werden,[1] doch bleibt insofern fraglich, inwieweit das äußere Erscheinungsbild des Klägers diesem eine Eignung für das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis versagen könnte. Vom Begriff der Eignung umfasst sind die Persönlichkeit sowie auch solche charakterlichen Eigenschaften, die für ein bestimmtes Amt von Bedeutung sind.[2] Zu beachten ist dabei, dass die Auswahlkriterien des Art. 33 II GG in gleicher Weise auch für ein vorgeschaltetes Auswahlverfahren gelten, mit dem der Dienstherr das Vorliegen der Eignungsvoraussetzungen möglichst zuverlässig in Erfahrung bringen möchte.[3]
So führte das Landesamtes für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei Nordrhein-Westfalen (LAFP) aus, dass eine deutlich sichtbare Tätowierung nicht mit der Neutralität eines Polizeibeamten in Einklang zu bringen sei. Ausgehend von einem Erlass des Innenministeriums aus dem Jahre 1995, welche durch einen weiteren Erlass im August des Jahres 2012 bestätigt wurde, stellten derartige Tätowierungen, die beim Tragen von Hemden mit kurzen Ärmeln zu sehen seien, mithin einen Eignungsmangel dar. Von daher berief sich die Einstellungsbehörde darauf, dass der Kläger anhand seines äußeren Erscheinungsbildes nicht dem in Art. 33 II GG enthaltenen Leistungsprinzip gerecht werde und sich somit auch nicht für einen Zugang zum Polizeivollzugsdienst qualifizieren könne.
Gegenüber einem so begründeten, generellen Ausschluss vom Auswahlverfahren zur Einstellung in den Vorbereitungsdienst des Polizeivollzuges, können die Grundrechte des Bewerbers allerdings nicht unbeachtet bleiben. Zum einen könnte sich der Kläger auf sein Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I GG berufen, denn dessen erkennbare Tätowierungen sind gerade ein nach außen kundgegebener Ausdruck seiner Persönlichkeit. Andererseits könnte der Bewerber auch geltend machen, dass eine verfassungsrechtlich unzulässige Vorenthaltung des in Art. 12 I GG verbürgten Grundrechts auf freie Wahl des Berufes bzw. des in Art. 33 II GG grundrechtsgleich gewährleisteten Rechts auf Zugang zu einem öffentlichem Amt verletzt wurde, indem die Einstellungsbehörde die Eignung des Bewerbers fehlerhaft beurteilt hat und diesem so die Teilnahme am erforderlichen Auswahlverfahren versagt hat. Diese verfassungsrechtliche Gewährleistung ist überdies auch einfachgesetzlich in den §§ 8, 9 BeamtStG i.V.m. § 15 III 1 LBG NRW enthalten.
Unter dem Aspekt, dass eine Einschränkung von Grundrechten möglich ist, um die Funktionsfähigkeit des Polizeivollzugsdienstes zu erhalten, ist sodann eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anzustellen, um die Grundrechte des Bewerbers in Einklang mit den Strukturprinzipien des Beamtentums zu bringen. Insoweit könnte der Einstellungsbehörde bei der Beurteilung hinsichtlich der Eignung eines an beiden Armen tätowierten Bewerbers, eine ermessensfehlerhafte Entscheidung im Rahmen des Auswahlermessens zur Last zu legen sein.
Die Versagung der Teilnahme am Auswahlverfahren müsste einen legitimen Zweck verfolgen und an sich auch geeignet sein, diesen legitimen Zweck zu erreichen. Sinngemäß stellt die Einstellungsbehörde hier darauf ab, dass vor allem Polizeibeamten eine Geltung in der Öffentlichkeit zukomme, dessen Auftreten es erforderlich mache, eine gewisse Neutralität und Einheitlichkeit des Staates und seiner Beamten zu bewahren und auszudrücken. Der Respekt gegenüber einem Polizeibeamten könnte von daher vermindert sein, wenn dieser deutlich sichtbare Tätowierungen zur Schau stellt und so eine überzogene Individualität nach außen Preis gibt, mit dem die Toleranz anderer übermäßig beansprucht wird. Um jedoch die Funktionstüchtigkeit des Polizeivollzugsdienstes dahingehend zu sichern, dass den Beamten in der Öffentlichkeit das gleiche Maß an erforderlicher Geltung zukommt, erscheint es durchaus als geeignet, tätowierten Bewerbern bereits die Teilnahme am Auswahlverfahren zu versagen. Allerdings dürfen darüber hinaus keine milderen aber gleich geeigneten Mittel zur Verfügung stehen oder eine unzureichende Abwägung mit den Grundrechten des Bewerbers erfolgt sein.
Das VG führte im Ergebnis hierzu aus, dass eine generelle Versagung der Teilnahme, mit ablehnendem Bescheid des LAFP, zu beanstanden sei, soweit die Behörde die Prüfung einer Entscheidungsrelevanz der individuellen Tätowierung nicht vorgenommen hat. Vielmehr müsse aus einer solchen Einzelprüfung hervorgehen, dass es dem Bewerber an einer geeigneten Persönlichkeit oder charakterlichen Eigenschaft mangele. Es gehe aus dem Bescheid insofern nicht klar hervor, inwieweit es diesbezüglich überhaupt an der Eignung des Bewerbers fehle, zumal das Grundrecht des Bewerbers aus Art. 2 I GG nicht hinreichend beachtet wurde, denn eine Versagung – unter Verweis auf einen 15 Jahre alten Erlass – werde dem vollzogenen gesellschaftlichen Wandel hinsichtlich der Akzeptanz von Tätowierungen in der Öffentlichkeit nicht mehr in anzustellendem Maße gerecht. Schließlich komme auch ein milderes Mittel in Betracht, welches vorrangig zu berücksichtigen wäre, um dem Ausdruck des Persönlichkeitsrechts des Beamten sowie der Funktionsfähigkeit des Polizeivollzugsdienstes gerecht zu werden: Der Dienstherr kann den Beamten auch im Sommer anweisen, ein Hemd mit langen Ärmeln zu tragen, um so die Tätowierungen ggf. zu verdecken. Damit ist es nicht erforderlich, dem Bewerber im vorgeschalteten Auswahlverfahren eine Teilnahme hieran zu versagen, ohne hinreichende Versagensgründe für dessen Eignung darzulegen, welche sich nicht von vornherein aus dessen auffälliger Tätowierung ergeben. Generell könne eine solche Tätowierung nicht als Eignungsmangel herangezogen werden, sodass sich das Auswahlermessen des LAFP jedenfalls dahingehend reduziere, den Kläger zumindest zum Auswahlverfahren zuzulassen.
Bewertung
Eine Entscheidung des VG Aachen, welche im Ergebnis überzeugt und sich ohne weiteres in einer Klausur wiederfinden könnte. Angesichts der Abwägung der Grundrechte des Bewerbers mit der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes sollte das Augenmerk in Bezug auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere auf den gesellschaftlichen Wert der Tätowierung als Ausdruck des Persönlichkeitsrechtes nach Art. 2 I GG sowie die Möglichkeit eines Eignungsmangels im Sinne des Art. 33 II GG gelegt werden.
Das Gericht führte hierzu aus, das Zitiergebot solle den Gesetzgeber immer dann warnen, wenn es um freiheitsverkürzende Gesetze gehe. Die Rechtsprechung des BVerfG, wonach das bundesrechtliche Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG bei der Berufsfreiheit nicht anwendbar sei, sei auf Eingriffe in die Berufsfreiheit aus Art. 49 Abs. 1 der brandenburgischen Landesverfassung nicht übertragbar. Eine derartige Auslegung verwundert, da der Wortlaut der fraglichen Norm des § 5 Abs. 2 S. 3 der Landesverfassung von Brandenburg mit dem des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG quasi identisch ist. Andererseits hat die sehr restriktive Auslegung des BVerfG des verfassungsrechtlichen Zitiergebots einiges an Kritik erfahren (siehe dazu auch hier), so dass eine divergierende Auslegung auf landesrechtlicher Ebene zumindest plausibel erscheint.
Verstoß gegen das Homogenitätsgebot?
Rechtstechnisch möglich ist eine derartige divergierende Auslegung von bundes- und landesverfassungsrechtlichen Rechtstermini jedenfalls. Dies ergibt sich aus der Regelung des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG, wonach die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern nur den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen muss. Es besteht insofern keine Pflicht zu einem Gleichlauf der Regelungen von Bundes- und Landesverfassung (Stichwort: „Keine Pflicht zur Uniformität“). Das Grundgesetz fordert lediglich eine Homogenität zwischen Bundes- und Landesverfassung. Diese Homogenität ist im Falle einer extensiveren Anwendung des Zitiergebots ohne Weiteres gewahrt. Dies stellt insofern nämlich keinen Widerspruch zu den bundesverfassungsrechtlichen Demokratiegrundsätzen dar, sondern eher noch eine Erweiterung im Sinne von effektiverem Grundrechtsschutz.
Sachverhalt (verkürzt)
Mit Beschluss vom 17.08.2012 (OVG 1 S 117.12) hat das OVG Berlin-Brandenburg den tags zuvor erfolgten Beschluss des VG Berlin bestätigt, wonach es der „Bürgerbewegung Pro Deutschland“ nicht untersagt werden könne, bei der am 18.08.2012 angemeldeten Demonstration zu dem Thema „Der Islam gehört nicht zu Deutschland – Islamisierung stoppen“ vor den Einrichtungen dreier islamischer Moschee-Vereine sog. „Mohammed-Karikaturen“ darzubieten. Der Eilantrag der betroffenen islamischen Moschee-Vereine blieb insofern ohne Erfolg.
Rechtliche Würdigung
Gerade im Hinblick auf die hier vorliegende Problematik des Zusammentreffens unterschiedlicher Grundrechte bzw. Interessen der Beteiligten bietet sich dieser Sachverhalt ganz besonders dazu an, Gegenstand einer Examensklausur oder zumindest auch einer Anfängerklausur zu sein.
Fraglich sollte zunächst also sein, nach welchen Kriterien und nach welcher Rechtsgrundlage es der Bürgerbewegung verboten werden könnte, die angefertigten „Mohammed-Karikaturen“ im Rahmen ihrer nach § 14 I VersG angemeldeten Versammlung zu verbieten. Dies ist vor dem Hintergrund zu berücksichtigen, dass der Versammlung der grundrechtliche Schutz des Art. 8 I GG zugute kommt und dieser Schutzbereich hier unproblematisch eröffnet ist. Da es sich bei der Versammlung vor den Einrichtungen der islamischen Moschee-Vereine um eine solche „unter freiem Himmel“ handelt, findet sich die Rechtsgrundlage für einen etwaigen Eingriff im Sinne des Art. 8 II GG auch regelmäßig in § 15 I VersG. Stets zu beachten ist dabei jedoch, dass die Grundrechtsbeschränkung nach Art. 8 II GG nur im Lichte der grundlegenden Bedeutung des Art. 8 I GG auszulegen ist.[1] Demnach kann die zuständige Behörde die Durchführung der Versammlung nur dann von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn erkennbare Umstände vorliegen, die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährden. Zu beachten ist dabei jedoch gleich vorweg, dass es sich bei dem Begriff der „Auflage“ in § 15 I VersG nicht um eine Nebenbestimmung im Sinne des § 36 II Nr.4 VwVfG handelt, sondern vielmehr eine eigenständige Regelung beinhaltet und damit als Verwaltungsakt (VA) zu bewerten ist.[2]
Unabhängig von der Frage, ob die betroffenen islamischen Moschee-Vereine überhaupt einen Anspruch geltend machen können, das Verbot des Zeigens der „Mohammed-Karikaturen“ durchzusetzen, ist nun zu hinterfragen, ob das Verhalten der Bürgerbewegung bei der Durchführung der Versammlung gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung verstoßen könnte. Um eine übersichtliche Darstellung zu bewahren, beschränken sich diese Ausführung auf das Tatbestandsmerkmal der „Öffentlichen Sicherheit“, welches neben der Unversehrtheit der Individualrechtsgüter sowie der grundlegenden Einrichtungen des Staates auch den Schutz der objektiven Rechtsordnung umfasst. Das OVG sowie die Vorinstanz zogen dabei die Prüfung des § 166 I StGB in Betracht, wonach das Zeigen der „Mohammed-Karikaturen“ möglicherweise als Beschimpfung von Religionsgesellschaften bzw. Weltanschauungsvereinigungen anzusehen sein könnte – eine Verletzung des § 166 I StGB machten insbes. die antragstellenden islamischen Moschee-Vereine geltend. Sollte durch das Zeigen der Karikaturen eine strafbewährte Handlung nach § 166 I StGB vorliegen, so wäre damit auch die Rechtsordnung bzw. die öffentliche Sicherheit verletzt, was nach § 15 I VersG einen Eingriff in Form eines Verbotes rechtfertigen könnte.
Das Rechtsgut des § 166 I StGB ist nach der h.M. der öffentliche Friede[3], während der Gegenstand dieser Vorschrift v.a. der Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer ist.[4] Deutlich wird somit, dass § 166 I StGB auch dem Schutz der Religionsgemeinschaften dient und in einer Abwägung mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 I GG auch Art. 4 I GG Beachtung finden muss. Geht es jedoch um die Beurteilung, ob der Tatbestand des § 166 I StGB erfüllt ist und eine Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens durch das Zeigen der Karikaturen vorliegt, so darf dabei auch nicht vernachlässigt werden, dass bei der Auslegung – gerade bei strafrechtlichen Normen – werkgerechte Maßstäbe sowie eine grundrechtsfreundliche Interpretation des Sachverhaltes anzulegen sind.[5] Das OVG Berlin-Brandenburg beurteilt die „Mohammed-Karikaturen“ insoweit als Kunstwerk, sodass auch der Schutzbereich des Art. 5 III GG miteinzubeziehen und zu berücksichtigen sei. Dies führt zu der Schlussfolgerung des Gerichtes, dass, in Folge der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 166 I StGB, eine vom Schutzbereich der Kunstfreiheit erfasste Karikatur, die im Rahmen einer öffentlichen und auf Meinungsdarstellung zielenden Versammlung gezeigt wird, im Zweifel nicht dazu geeignet ist, eine Beschimpfung und somit eine strafbare Handlung darzustellen.
Im Ergebnis lässt sich ein Verbot des Zeigens der „Mohamed-Karikaturen“ demnach nicht auf einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nach § 15 I VersG i.V.m. § 166 I StGB stützen, sodass die antragsstellenden islamischen Moschee-Vereine schließlich auch keinen dementsprechenden Anspruch gelten machen können und deren Eilantrag keine Aussicht auf Erfolg hat.
Bewertung
Im Kern ging es hier insofern um die Frage, ob das Zeigen der „Mohammed-Karikaturen“ im Sinne des § 166 I StGB als Beschimpfung anzusehen ist. Legt das Gericht die einschlägigen Tatbestandsmerkmale aus, so sind insbesondere bei der Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen und Grundrechten mehrerer Beteiligter stets grundrechtsfreundliche Interpretationen und z.B. bei Kunstwerken auch werkgerechte Maßstäbe anzulegen. Der Kunstfreiheit, als Meinungsdarstellung innerhalb der Versammlung, gab das OVG hier zu Recht den Vorrang vor dem Schutze der religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse, da selbst eine satirische Auseinandersetzung als Inhalt einer Versammlung erlaubt sein müsse, um schließlich eine solche Kundgabe innerhalb der Versammlungsfreiheit zu gewährleisten und die Interessen der Versammlungsteilnehmer im Lichte des Art. 8 I GG zu würdigen.