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Schlagwortarchiv für: Grundgesetz

Philip Musiol

BayVGH zum „Kreuzerlass”

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) entschied schon im Juni diesen Jahres über die rechtliche Zulässigkeit einer Regelung, die Landesbehörden aufgibt, ein Kreuz im Eingangsbereich anzubringen (BayVGH, Urt. v. 01.06.2022 – 5 N 20.1331; 5 B 22.674). In der Zwischenzeit befasste sich der BayVGH mit Anträgen auf Zulassung der Berufung zur Entfernung der Kreuze von mehreren Einzelpersonen (BayVGH, Beschl. v. 23.08.2022 – 5 ZB 20.2243). Nunmehr sind die Entscheidungsgründe veröffentlicht. Nachdem sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in jüngerer Vergangenheit im Kontext von Kopftuchverboten mit dem Verhältnis von staatlicher Neutralitätspflicht und (negativer) Religionsfreiheit befasste, wird das Problemfeld von dem BayVGH aus einer anderen Perspektive betrachtet, die nicht weniger prüfungsrelevant ist.

I.             Der Sachverhalt

Die Bayerische Staatsregierung bestimmte mit Erlass aus dem Jahr 2018, dass in Dienstgebäuden im Freistaat Bayern als „Ausdruck der kulturellen Prägung Bayerns“ gut sichtbar ein Kreuz im Eingangsbereich anzubringen sei, § 28 Allgemeine Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaats Bayern (AGO). Daneben bestimmt § 36 AGO: „Gemeinden, Landkreisen, Bezirken und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts wird empfohlen, nach dieser Geschäftsordnung zu verfahren“.

Mehrere Einzelpersonen und zwei als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfasste Weltanschauungsgemeinschaften (Bund für Geistesfreiheit Bayern; Bund für Geistesfreiheit München) wendeten sich gegen die Umsetzung dieses sogenannten „Kreuzerlasses“ der Bayerischen Staatsregierung. Sie beantragten, bei der Bayerischen Staatskanzlei die Entfernung der im Eingangsbereich der Dienstgebäude angebrachten Kreuze. Ferner beantragten sie, den Gemeinden, Landkreisen, Bezirken und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu empfehlen, ebenso zu verfahren. Die Einzelpersonen sahen sich in ihrer negativen Religionsfreiheit verletzt. Die Weltanschauungsgemeinschaften trugen vor, dass auch sie in ihrer negativen Religionsfreiheit und in ihrem Recht auf Gleichbehandlung verletzt seien. Hierdurch werde eine bestimmte Religionsgemeinschaft bevorzugt. Der Staat habe auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten. Die Bayerische Staatskanzlei half den Anträgen nicht ab. Die Kläger verfolgten diese Begehren vor dem Verwaltungsgericht München im Wege der Allgemeinen Leistungsklage weiter. Das Verwaltungsgericht trennte die Verfahren ab und behandelte sie getrennt voneinander. Schließlich wies das Verwaltungsgericht wies die Klagen der Weltanschauungsgemeinschaften und der Einzelpersonen ab, der „Kreuzerlass“ blieb also in Kraft.

II.            Die Entscheidung

Die Berufung der klagenden Einzelpersonen und der Weltanschauungsgemeinschaften vor dem BayVGH blieb ohne Erfolg.

Zunächst zu der Klage der Einzelpersonen: Zum einen könnten sich die Kläger nicht gegen die Verwaltungsvorschrift wenden, da diese keine Außenwirkung entfalte. Als Anknüpfungspunkt kommen also nur die behördlichen Umsetzungsakte in Betracht. Der BayVGH entschied, dass die Klage schon unzulässig sei, da die Kläger nicht klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO seien, der analog auch für die Allgemeine Leistungsklage gelte. Da es keine „generelle“ Allgemeine Leistungsklage gäbe, hätten die Kläger substantiiert vortragen müssen, durch welche Kreuze sie konkret in ihren Rechten betroffen seien. Hieran fehle es, da die Kläger pauschal die Entfernung der Kreuze aus den Dienststellen verlangt hatten. Dieses Begehren richteten sie an die Bayerische Staatskanzlei, hierin sah der BayVGH allerdings keine konkludente Konkretisierung darauf, dass man sich insbesondere gegen das Kreuz im Eingangsbereich der Staatskanzlei richte – wie von den Klägern im Verfahren vorgetragen wurde. Stattdessen sei der Antrag der Kläger „offensichtlich“ nur deshalb an die Staatskanzlei gerichtet worden, weil diese die Bayerische Staatsregierung u.a. bei ihren verfassungsmäßigen Aufgaben unterstützt.

Die Klage sei auch nicht deshalb zulässig, weil die Kläger bei Betreten jedes staatlichen Dienstgebäudes in Bayern potentiell betroffen sein könnten. Insoweit handele es sich der Sache nach um vorbeugenden Rechtsschutz, sodass es zumindest einer möglichen künftigen Verletzung in eigenen Rechten bedarf. Mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG ist vorbeugender Rechtsschutz zulässig, wenn ein besonders schützenswertes Interesse gerade hieran besteht, weil der Verweis auf nachgehenden Rechtsschutz mit für die Kläger unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre. Der BayVGH hielt diese Voraussetzungen für nicht erfüllt, da es an einem Eingriff in das Grundrecht auf negative Religionsfreiheit der Kläger fehle. Die Anbringung eines Kreuzes durch staatliche Stellen könne nur dann als Eingriff in das Grundrecht eines Einzelnen aus Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 107 Abs. 1 BV gewertet werden, wenn der Einzelne durch eine vom Staat geschaffene Lage ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens oder seiner Symbole ausgesetzt wird. Hieraus ergebe sich zunächst, dass ein Eingriff in das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 GG nicht automatisch schon immer dann vorliegt, wenn der Staat gegen seine objektiv-rechtliche Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verstoßen sollte. Die Kläger würden durch das Anbringen eines Kreuzes im Eingangsbereich staatlicher Dienststellen nicht dem Einfluss eines bestimmten Glaubens oder seiner Symbole in grundrechtswidriger Weise ausgesetzt. Denn zum einen handele es sich bei dem Kreuz an der Wand um ein im wesentlichen passives Symbol ohne missionierende oder indoktrinierende Wirkung. Zum anderen handele es sich bei dem Eingangsbereich eines Dienstgebäudes um einen Durchgangsbereich, der nicht dem längeren Verweilen der Bürger diene. Zwar ginge die Konfrontation mit dem Kreuz vom Staat aus. Dennoch befinde sich das Kreuz nur im Eingangsbereich, der Bürger werde also nicht unmittelbar bei der Ausführung staatlicher Aufgaben mit dem Kreuz konfrontiert. Hierdurch unterscheide sich der Sachverhalt etwa von Kreuzen in Unterrichtsräumen, bei denen der Bürger über einen längeren Zeitraum gerade im Zusammenhang mit staatlichen Aufgaben mit religiösen Symbolen konfrontiert sei.

Eine Verletzung der Kläger in ihren subjektiven Rechten sei auch nicht wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität anzunehmen. Hierbei handelt es sich um ein objektives Verfassungsprinzip, das als solches keine einklagbaren subjektiven Rechte der Kläger begründet. Der Verstoß gegen objektive Verfassungsprinzipien kann nicht im Wege der allgemeinen Leistungsklage geltend gemacht werden, die dem Schutz der subjektiven Rechte des Klägers dient.

Auch die Berufung der beiden Weltanschauungsgemeinschaften blieb ohne Erfolg: Der BayVGH hielt die Klagen für zulässig, aber unbegründet. Der BayVGH stellte zunächst fest, dass das Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG sowie das Rechts auf Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nach Art. 19 Abs. 3 GG auch Weltanschauungsgemeinschaften zusteht und hielt eine Verletzung dieser Rechte zumindest für möglich. Aus dem Grundsatz der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates, der sich aus einer Zusammenschau der Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1, Abs. 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV ableiten lässt, folge, dass der Staat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten habe. Wo er mit Religionsgemeinschaften zusammenarbeitet oder sie fördert, dürfe dies nicht zu einer Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften oder zu einer Privilegierung bestimmter Bekenntnisse führen. Auf der Ebene der Begründetheit kam der BayVGH gleichwohl zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung besagter Rechte nicht vorliege, obwohl die objektiv-rechtliche Neutralitätspflicht des Staates verletzt werde. Durch die Anbringung der Kreuze in den Eingangsbereichen der staatlichen Dienstgebäude werde das Symbol des christlichen Glaubens in einem öffentlich zugänglichen staatlichen Raum präsentiert. Die Symbole anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften werden nicht in gleicher Weise ausgestellt. Hierin liege eine sachlich nicht begründete Bevorzugung des christlichen Symbols. Zwar berief sich der Freistaat Bayern darauf, dass das in Dienstgebäuden anzubringende Kreuz als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns zu verstehen sei. Jedoch könne der Freistaat keine Deutungshoheit über das Symbol beanspruchen. Nach dem maßgeblichen Empfängerhorizont eines Besuchers könne das Kreuz im Sinne einer Nähe zum Christentum interpretiert werden. Erneut betonte das Gericht, dass die Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität ein objektiv-rechtliches Verfassungsprinzip sei, das als solches keine einklagbaren subjektiven Rechte der Kläger als Weltanschauungsgemeinschaften begründe. Subjektiven Schutz gegen eine staatliche Maßnahme, die zugleich gegen die Neutralitätspflicht verstößt, können Weltanschauungsgemeinschaften wie die Kläger erst dann beanspruchen, wenn nicht bloß eine Berührung des Schutzbereichs, sondern ein nicht gerechtfertigter, benachteiligender Eingriff in die Grundrechte vorliegt, aus denen das Verfassungsprinzip hergeleitet wird, nämlich aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Die strittige Maßnahme hebe zwar objektiv ein Symbol des christlichen Glaubens hervor. Damit sei aber keine Einmischung in das subjektive Recht der Kläger zu religiöser oder weltanschaulicher Betätigung, zur Verbreitung ihrer Weltanschauung sowie zu deren Pflege und Förderung verbunden. Das Anbringen von Kreuzen erfolge auch nicht im Benehmen und im erkennbaren Interesse christlicher Kirchen. Das Kreuz als christliches Symbol könne seiner religiösen Bedeutung jedoch nicht entkleidet werden. Gleichwohl gäbe es daneben weitere, z.B. historische oder kulturelle Deutungsmöglichkeiten. Jedenfalls sei weder nach dem Wortlaut von § 28 AGO noch nach dem prozessualen Vorbingen des Freistaats Bayern von diesem eine Identifikation mit christlichen Glaubensinhalten und christlichen Glaubensgemeinschaften oder eine Bezugnahme auf den christlichen Glauben bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben und Befugnisse beabsichtigt. Auch seien die Kreuze im Eingangsbereich von Dienstgebäuden anzubringen, wo keine inhaltliche Wahrnehmung behördlicher Aufgaben stattfinde und daher keine hinreichende Verknüpfung zwischen staatlicher Aufgabenerfüllung und Verwendung des christlichen Symbols gegeben sei. Abermals stellte der BayVGH darauf ab, dass dem Kreuz keine missionierende oder indoktrinierende Wirkung zukomme, wodurch die Weltanschauungsfreiheit der beiden Kläger nicht beeinträchtigt werde. Daher nehme der Staat keinen grundrechtsrelevanten Einfluss auf den Wettbewerb der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften untereinander.

III.          Einordnung der Entscheidung

Die Entscheidung ist im Kontext zu den Entscheidungen des BVerfG zum Kopftuchverbot für Referendarinnen und zu dem Beschluss des BVerfG zur Zulässigkeit eines Kreuzes im Klassenzimmer (BVerfG, Beschl. v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91) zu sehen.

Auf prozessualer Ebene ist herauszuarbeiten, dass Verwaltungsvorschriften keine Außenwirkung haben und deshalb nur die behördlichen Umsetzungsakte angegriffen werden können. Insoweit kann die Frage aufgeworfen werden, ob durch die gewählte Handlungsform ein Verstoß gegen die Wesentlichkeitstheorie vorliegt. Dass der BayVGH dies nicht annahm, ist angesichts des Umstands, dass er schon die Eingriffswirkung der Maßnahme ablehnte, konsequent.

Materiell ist klar zwischen einem Verstoß gegen objektive Verfassungsprinzipien und der Betroffenheit in subjektiven Rechten zu unterscheiden. Für einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit der Bürger durch die Verwendung religiöser Symbole durch staatliche Stellen kommt es nach gefestigter Rechtsprechung darauf an, ob der Bürger den Symbolen in einer unausweichlichen Art und Weise „ausgeliefert“ ist. Dies verneinte der BayVGH hier, da das Kreuz „nur“ in dem Eingangsbereich der Behörden aufzuhängen war. Zwar ist richtig, dass der Bürger damit nicht bei der unmittelbaren Behördentätigkeit mit dem Kreuz konfrontiert wird (wie etwa bei einem Kreuz im Klassenzimmer oder im Gerichtssaal). Der Bürger werde im Eingangsbereich, der häufig ein Durchgangsbereich sei, nur „flüchtig“ mit dem Kreuz konfrontiert. Gleichzeitig erkennt der BayVGH an, dass die Kreuze in sämtlichen Behördengebäuden anzubringen seien. Hieraus folgert er lediglich, dass es sich um vorbeugenden Rechtsschutz handele, weil die Kläger nicht hinreichend konkretisiert hätten, durch welches Kreuz sie betroffen seien. Zu diskutieren wäre wohl auch, ob nicht dadurch, dass in jedem Behördengebäude ein Kreuz angebracht ist, der Eindruck erweckt wird, dass sämtliches behördliche Handeln „im Angesichts des Kreuzes“ erfolge. Da jeder Bürger im Laufe seines Lebens darauf angewiesen ist, behördliche Gebäude zu besuchen (Beantragen von Ausweisdokumenten etc.), kann insoweit durchaus von einem gewissen Ausgeliefertsein ausgegangen werden. Unabhängig davon, ob man hier einen Eingriff annimmt, sollte deutlich werden, dass die Bearbeitung zwischen einer Verletzung von objektiven, nicht einklagbaren Verfassungsprinzipien und einer Verletzung von subjektiven Rechten unterscheidet.

Auch das der BayVGH dem Kreuz „keine missionierende oder indoktrinierende“ Wirkung beimisst, ist zumindest fragwürdig, handelt es sich doch um das zentrale Symbol des christlichen Glaubens für das Leiden Christi. Hier ist Argumentationsarbeit gefragt, auch ein Hinweis darauf, dass dem Freistaat Bayern hier keine Interpretationshoheit zukommt, sollte in einer Klausur nicht fehlen.

12.09.2022/1 Kommentar/von Philip Musiol
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Philip Musiol https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Philip Musiol2022-09-12 12:24:572022-10-24 14:39:30BayVGH zum „Kreuzerlass”
Philip Musiol

Ein Königreich für eine Gaststättenlizenz – OVG Münster zur Zulässigkeit der Schließung des Vereinslokals des „Königreichs Deutschland“

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verwaltungsrecht

Mit Beschluss vom 12.08.2022 (Az.: 4 B 61/21) entschied das OVG Münster im Eilverfahren unter anderem über die Zulässigkeit der Schließung und Versiegelung einer Gaststätte. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Entscheidung lohnt sich nicht nur angesichts des ungewöhnlichen Sachverhalts: Denn der Fall führt quer durch das gesamte Öffentliche Recht, was ihn für Prüfungsämter besonders interessant machen dürfte. Der Kern des Falls liegt im Ordnungs- und Verwaltungsvollstreckungsrecht, daneben stellen sich prozessuale und sogar völkerrechtliche Fragen. Dass der Schwerpunkt einer Examensklausur im Völkerrecht liegt, ist zwar genauso unwahrscheinlich, wie dass hierin vertiefte Kenntnisse erwartet werden. Trotzdem sehen die Prüfungsordnungen der meisten Bundesländer vor, dass zumindest „völkerrechtliche Bezüge“ Teil des Pflichtfachstoffs sind, s. etwa § 18 Abs. 2 Nr. 5 lit. a JAPO (Bayern).

I.             Der Sachverhalt

Die Antragstellerin betrieb in Köln eine Gaststätte, die sie als „Zweckbetrieb“ des „Königreichs Deutschland“ als Vereinslokal ohne gaststättenrechtliche Genehmigung führen wollte. Sie wies ihre Gäste darauf hin, dass das Lokal nur von „Staatsangehörigen und Zugehörigen des Königreichs Deutschland“ betreten werde dürfe, und dass die Gäste mit dem Betreten des Lokals temporär „Zugehörige des Königreichs Deutschland“ seien. Noch am Tag der Eröffnung kam es zu Verstößen gegen Hygienevorschriften zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Die Antragstellerin war der Ansicht, dass neben dem Recht des „Königreichs Deutschland“ keine weiteren Rechte und Pflichten – insbesondere nicht die Gesetze der Bundesrepublik – zu beachten seien. Nachdem es am Folgetag erneut zu Verstößen kam, schloss die Stadt Köln das Lokal und versiegelte es. Hiergegen ging die Antragstellerin um Eilverfahren vor. Im Rahmen des Eilverfahren beantragte sie „sinngemäß“, das „Königreich Deutschland“ beizuladen.

II.            Die Entscheidung

Das OVG entsprach dem Antrag, das „Königreich Deutschland“ beizuladen nicht. Dafür hätten die rechtlichen Interessen des „Königreichs“ als Drittem nach § 65 Abs. 1 VwGO durch die Entscheidung berührt werden müssen. Ein rechtliches Interesse besteht, wenn der Dritte in einer solchen Beziehung zu einem Hauptbeteiligten des Verfahrens oder zu dem Streitgegenstand steht, dass das Unterliegen eines der Hauptbeteiligten seine Rechtsposition verbessern oder verschlechtern könnte. Nach den Feststellungen des Gerichts fehlte es hieran, denn Betreiberin der Gaststätte war allein die Antragstellerin selbst, ebenso war sie allein Mieterin der Räumlichkeiten. Zur Untervermietung der Räumlichkeiten an das „Königreich Deutschland“ war sie dagegen ausdrücklich nicht berechtigt. Auch für das Vorbringen der Antragstellerin, dass sie das Lokal als „Zweckbetrieb“ für das „Königreich Deutschland“ betreibe, sah das OVG Münster „keine nachvollziehbare Grundlage im geltenden Recht“: An dieser Stelle thematisierte das OVG, ob es sich beim „Königreich Deutschland“ um einen Staat im Sinne des Völkerrechts handele. Maßgeblich für das Bestehen eines Staates ist das Vorhandensein eines Staatsvolks, eines Staatsgebiets und einer souveränen Staatsgewalt. Erforderlich ist, dass sich ein auf einem bestimmten Gebiet sesshaftes Volk unter einer selbstgesetzten, von keinem Staat abgeleiteten, effektiv wirksamen und dauerhaften Ordnung organisiert hat. Da das „Königreich Deutschland“ weder völkerrechtlich als Staat anerkannt ist noch über ein eigenes Staatsgebiet verfügt, handelt es sich um keinen Staat im Sinne des Völkerrechts. Daneben könne sich das „Königreich Deutschland“ dafür, dass Zweckbetriebe durch abhängige Inhaber betrieben werden, nicht auf Art. 9 Abs. 1 GG berufen. Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG sei nicht eröffnet, weil keine „dem in Deutschland geltenden Recht entsprechende Organisationsform erkennbar“ sei, aus der das „Königreich Deutschland“ auf Grundlage von Art. 9 GG eigene Rechte ableiten könnte.

Nach Ansicht des OVG Münster war die Schließung und Versiegelung des Lokals als Zwangsmaßnahme durch die Stadt Köln rechtmäßig. Die Maßnahme stützte sich dabei auf §§ 55 Abs. 2, 57 Abs. 1 Nr. 3, 62, 66, 69 VwVG NRW, es handelte sich also um eine Maßnahme des sofortigen Vollzuges, mit der einer Gefahr begegnet werden sollte, die aufgrund außergewöhnlicher Dringlichkeit des behördlichen Eingreifens ein gestrecktes Verfahren nicht zugelassen hätte. Die Voraussetzungen hierfür lagen vor, die Stadt Köln war zu der im Wege der Versiegelung vollstreckten Schließung des Gaststättenbetriebs nach § 31 GastG iVm. § 15 Abs. 2 S. 1 GewO befugt. Nach § 31 GastG iVm. § 15 Abs. 1 S. 1 GewO kann die Fortsetzung des Betriebes von der zuständigen Behörde verhindert werden, wenn ein Gewerbe, zu dessen Ausübung eine Erlaubnis, Genehmigung, Konzession oder Bewilligung (Zulassung) erforderlich ist, ohne diese Zulassung betrieben wird. Nach § 2 Abs. 1 GastG bedarf der Betrieb eines Gaststättengewerbes einer Erlaubnis. Ob eine Gaststätte vorliegt, richtet sich nach § 1 GastG. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin eine genehmigungspflichtige Gaststätte betrieb. Eine Ausnahme ergebe sich nicht aus § 23 Abs. 2 S. 1 GastG: Denn hierfür hätte das Lokal einem Verein im Sinne des BGB überlassen sein müssen, was, wie eingangs festgestellt, nicht der Fall war. Damit wäre eine Genehmigung erforderlich gewesen, die – unstreitig – nicht vorlag.

Die Antragstellerin war auch richtige Adressatin der Maßnahme, da sie allein Betreiberin der Gaststätte war. Dem „Königreich Deutschland“ standen keine Rechte an dem Betrieb zu, stattdessen war die Antragstellerin wie gesehen Vertragspartnerin des Mietvertrags sowie Vertragspartnerin sämtlicher Lieferanten.

Auch war die Anwendung von Verwaltungszwang für die Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig. Einerseits handelte es sich angesichts der fehlenden Genehmigung um einen formell rechtswidrigen Gaststättenbetrieb. Andererseits wäre der Betrieb einer Gaststätte durch die Antragstellerin auch materiell rechtswidrig, die Antragstellerin sei „unzuverlässig“ im Sinne des Gewerberechts. Unzuverlässig ist ein Gewerbetreibender, der nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür bietet, dass er sein Gewerbe künftig ordnungsgemäß betreibt. Eine Gaststättenbetreiberin, die sich nicht an geltendes Recht gebunden fühlt, bietet offenkundig nicht die Gewähr dafür, den Betrieb zukünftig in Übereinstimmung gerade mit diesem geltenden Recht zu führen. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Antragstellerin im Verfahren wohl mehrfach erkennen ließ, ausschließlich die Gesetze des „Königreichs Deutschland“ zu achten.

III.          Einordnung der Entscheidung

Erneut ist die Prüfungsrelevanz der Entscheidung hervorzuheben. Es handelt sich um ein Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz, wodurch sich prozessuale Schwierigkeiten stellen. Statthafte Antragsart gegen die Schließung und Versiegelung einer Gaststätte im Wege des Sofortvollzuges ist nach Ansicht des VG Köln und des OVG Münster § 80 Abs. 5 VwGO. Auch muss sich mit der Frage, ob das „Königreich Deutschland“ beizuladen ist, auseinandergesetzt werden. Im Klausuraufbau geschieht dies eleganterweise zwischen der Prüfung der Zulässigkeit und der Begründetheit des Antrags. Hier sind Grundkenntnisse des Völkerrechts gefragt, es muss sauber begründet werden, wieso das „Königreich Deutschland“ kein Staat im Sinne des Völkerrechts ist, was mithilfe der Sachverhaltsinformationen gelingen dürfte. Abhängig davon, wie breit das Problem im Sachverhalt angelegt ist, könnten auch Ausführungen dazu gemacht werden, ob die Antragstellerin überhaupt dem deutschen Recht unterworfen ist. Ebenfalls muss in diesem Zusammenhang auf Art. 9 GG eingegangen werden. Hier macht es sich das OVG Münster augenscheinlich zu leicht, wenn es zur Ablehnung von Art. 9 GG schlicht darauf verweist, dass das „Königreich Deutschland“ nicht in einer Weise dem in Deutschland geltenden Recht entsprechenden Form organisiert sei. Auch wenn zur Definition einer „Vereinigung“ (als Gedächtnisstütze) auf § 2 Abs. 1 VereinsG zurückgegriffen wird, kann das einfache Recht das Verfassungsrecht nicht verbindlich definieren. Art. 9 Abs. 1 schützt mit dem (formalen) Begriff der Vereinigung auch – aus der Sicht des einfach-gesetzlichen Vereins- und Gesellschaftsrechts – atypische Zusammenschlüsse; Voraussetzungen für deren verfassungsrechtlichen Schutz ist allein, dass sie die verfassungsrechtlichen Begriffsmerkmale einer Vereinigung erfüllen (Scholz in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 97. EL Januar 2022, Art. 9 GG Rn. 63). Soweit das Gericht darauf hinauswollte, dass Art. 9 GG einer Vereinigung kein Recht verleiht, in Gerichtsprozessen beigeladen zu werden, weil es hierfür auf die Rechtsfähigkeit der Vereinigung ankommt, wird dies dagegen nicht hinreichend deutlich. In einer Klausur sind solche Ungenauigkeiten zwingend zu vermeiden!

Zuzustimmen ist dem OVG Münster dagegen, soweit es im Rahmen der Frage, ob es sich um ein Vereinslokal handelt (§ 23 Abs. 2 S. 1 GastG), darauf hinweist, dass das „Königreich Deutschland“ nicht in einer Rechtsform nach deutschem Recht organisiert ist. Denn hierfür kommt es tatsächlich darauf an, dass es sich um einen Verein nach Bürgerlichem Recht handelt. Auch im Übrigen ist die Entscheidung nachvollziehbar. Das Gewerbe- und Gaststättenrecht dürfte zwar in der Examensvorbereitung nur in Grundzügen behandelt werden, es lohnt sich aber, sich zumindest einen Überblick über das Rechtsgebiet zu verschaffen. Dabei ist im Rahmen der Prüfung, ob eine Gaststätte eröffnet bzw. geschlossen werden darf im Grundsatz nach dem aus dem Baurecht bekannten Schema vorzugehen. Einerseits sind die Genehmigungspflichtigkeit und -fähigkeit des Vorhabens zu prüfen, andererseits, sofern es um die Schließung geht, die formelle und materielle Illegalität der Gaststätte.

Die Erteilung einer gaststättenrechtlichen Erlaubnis richtet sich nach §§ 2, 4 GastG, Rücknahme und Widerruf der Erlaubnis richten sich nach § 15 GastG. Im Grundsatz besteht ein Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis, sofern nicht ein Versagungsgrund nach § 4 GastG vorliegt. Auf eben diese Versagungsgründe kommt es auch im Rahmen des § 15 GastG an, wonach die Erlaubnis zurückzunehmen bzw. zu widerrufen ist, wenn nachträglich ein entsprechender Grund eintritt bzw. bekannt wird. § 31 GastG enthält schließlich eine wichtige Verweisungsklausel auf die GewO, nachdem der im Fall entscheidende § 15 Abs. 2 S. 1 GewO, der die Schließung eines Gewerbes regelt, anwendbar ist. Zentral wird es in Klausuren zum Gaststätten- und Gewerberecht zumeist auf die Frage ankommen, ob ein Betreiber „zuverlässig“ ist.

29.08.2022/1 Kommentar/von Philip Musiol
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Philip Musiol https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Philip Musiol2022-08-29 07:55:552022-10-24 14:43:38Ein Königreich für eine Gaststättenlizenz – OVG Münster zur Zulässigkeit der Schließung des Vereinslokals des „Königreichs Deutschland“
Dr. Yannick Peisker

Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung

Fallbearbeitung und Methodik, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Tagesgeschehen, Verfassungsrecht

Mit Beschluss vom 21. Juli 2022 hat das BVerfG entschieden, dass die Masernimpfpflicht nach § 20 IfSG verfassungsmäßig ist. Angesichts der noch ausstehenden Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-Impfpflicht besitzt die Entscheidung nicht nur Bedeutung für Examenskandidaten, sondern eine weit darüberhinausgehende Relevanz für die Gesamtgesellschaft, womöglich auch mit nicht zu unterschätzender sozialer Sprengkraft. Ein Blick in die Entscheidungsgründe lohnt sich daher umso mehr.

Der hiesige Beitrag setzt sich mit der Entscheidung technisch auseinander und beinhaltet eine klausurmäßige Aufbereitung für Examenskandidaten, damit die Bausteine der Entscheidung im juristischen Gutachten auch an der richtigen Stelle verortet werden. Dort wo Ausführungen in der Klausurlösung nicht unbedingt erwartet werden können oder wo davon auszugehen ist, dass der Sachverhalt hierzu keine Angaben macht oder machen kann, werden einige Passagen der Entscheidungsbegründung ausgelassen. Diese lassen sich natürlich hier aber noch einmal in der gesamten Länge nachlesen. Angesichts der Ausführlichkeit der Entscheidung wird hier auf eine Darstellung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verzichtet. Stattdessen wird sich auf eine Prüfung der Begründetheit konzentriert.

A. Der Sachverhalt

Die Beschwerdeführer richten sich gegen mehrere Regelungen des § 20 IfSG, im Einzelnen gegen § 20 Abs. 8 S. 1-3; Abs. 9 S. 1 und 6; Abs. 12 S. 1 und 3 sowie gegen Abs. 13 S. 1 IfSG.

Abs. 8 der Vorschrift regelt, dass Personen, die in einer bestimmten Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern, oder aber eine Immunität aufweisen müssen. Diese Pflicht gilt auch dann, wenn ausschließlich sogenannte Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die also mehrere Impfstoffkomponenten gegen verschiedene Krankheiten beinhalten. Für Personen, die in einer solchen Einrichtung tätig werden, gilt dies nach § 20 Abs. 9 ebenso. Kann eine betreute oder beschäftigte Person einen entsprechenden Nachweis nicht vorlegen, darf sie nach § 20 Abs. 9 S. 6 und 7 weder in der Einrichtung tätig werden, noch dort betreut werden. Es handelt sich also um eine sogenannte mittelbare Impfpflicht, da kein unmittelbarer Impfzwang ausgeübt wird, sondern lediglich nachteilige Maßnahmen an die Nichtimpfung geknüpft werden. Zu einer Impfung selbst zwingt das Gesetz nicht unmittelbar. Der Nachweis ist nach Abs. 12 S. 1 dem zuständigen Gesundheitsamt vorzulegen, ist das Kind minderjährig, trifft diese Pflicht die Eltern (§ 20 Abs. 13 S. 1).

Die hiesigen Beschwerdeführer waren die Eltern mehrerer Kinder, die in einer solchen Gemeinschaftseinrichtung untergebracht werden sollten. Die minderjährigen Kinder sind nicht geimpft und verfügen auch über keine Immunität gegen Masern. Gerügt wird die Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit der Kinder (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie eine Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Die Entscheidung setzt sich damit ausschließlich mit der Impfpflicht für betreute Personen, nicht aber für Beschäftigte auseinander. Die Erwägungen des BVerfG lassen sich aber übertragen. Sollte der Klausursachverhalt auf die Beeinträchtigung der Grundrechte der dort Beschäftigten abzielen, kann daher ähnlich verfahren werden. Zu prüfen wäre dann eine Verletzung des Art. 12 GG neben einer Verletzung des Art. 2 GG.

B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die behauptete Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt ist.

I. Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG

Zunächst könnte das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die körperliche Integrität des Grundrechtsträgers […]. Träger dieses Rechts ist „jeder“, mithin auch ein Kleinkind […]. Kindern kommt außerdem ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu (Art. 2 Abs. 1 GG). Dabei bedürfen sie des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln zu können. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verpflichtet den Gesetzgeber, die hierfür erforderlichen Lebensbedingungen des Kindes zu sichern. Diese im grundrechtlich geschützten Entfaltungsrecht der Kinder wurzelnde besondere Schutzverantwortung des Staates erstreckt sich auf alle für die Persönlichkeitsentwicklung wesentlichen Lebensbedingungen. Die vom Gesetzgeber näher auszugestaltende Schutzverantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes teilt das Grundgesetz zwischen Eltern und Staat auf. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist sie in erster Linie den Eltern zugewiesen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 78-79.

Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, wenn durch zielgerichtetes staatliches Handeln in Form eines Rechtsaktes, welcher mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, unmittelbar in grundrechtlich geschützte Positionen eingegriffen wird. Nach dem modernen Eingriffsbegriff kann ein Eingriff auch dann vorliegen, wenn ein grundrechtlich geschütztes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird, unabhängig davon, ob die Wirkung final, unmittelbar, rechtlich erfolgt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist, sofern die Grundrechtsbeeinträchtigung einer grundrechtsgebundenen Gewalt zugerechnet werden kann und nicht unerheblich ist. Nach diesen Maßstäben liegt hier ein Eingriff vor:

„Nach Art und Gewicht wirken die beanstandeten Vorschriften in einer Weise auf die den sorgeberechtigten Eltern anvertraute Sorge über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder ein, dass sie als zielgerichteter mittelbarer Eingriff in das Recht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu bewerten sind. Die Masernschutzimpfung wirkt durch das Einbringen eines Stoffes und die damit verbundenen Nebenwirkungen auf die körperliche Integrität der Kinder ein. Zwar hindert das Infektionsschutzgesetz Eltern nicht daran, auf die Masernschutzimpfung bei ihren Kindern zu verzichten. Dadurch wäre eine gegenständliche Einwirkung auf die körperliche Integrität vermieden. Allerdings sind mit dieser Disposition über die körperliche Unversehrtheit der Kinder erhebliche nachteilige Folgen für diese verbunden. Wegen des in § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG angeordneten Betreuungsverbots verlieren sie ihren eingeräumten Anspruch auf frühkindliche oder vorschulische Förderung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII oder können diesen jedenfalls nicht mehr durchsetzen […]. Diesen Förderformen misst der Gesetzgeber aber selbst erhebliche Bedeutung für die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte kindliche Persönlichkeitsentwicklung zu. Wird eine solche Betreuung und Förderung ‒ wie vorliegend ‒ von den sorgeberechtigten Eltern gewünscht, geht von den bei Ausbleiben des Impfnachweises eintretenden Folgen ein starker Anreiz aus, die Impfung vornehmen zu lassen und damit auf die körperliche Unversehrtheit der Kinder durch die Verabreichung des Impfstoffs einzuwirken. Dieser vom Gesetzgeber intendierte Druck auf die Eltern, die Gesundheitssorge für ihre Kinder in bestimmter Weise auszuüben, kommt in seiner Wirkung dem unmittelbaren Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gleich. Da insbesondere der von dem Betreuungsverbot ausgehende Druck auf die entscheidungsbefugten Eltern nach den Vorstellungen des Gesetzgebers die Gestattung der Impfungen befördern soll, handelt es sich ebenfalls um einen zielgerichteten mittelbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 81

Mithin liegt ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor.

3. Rechtfertigung

Eine Verletzung des Grundrechts liegt nicht vor, wenn der Eingriff gerechtfertigt ist, dies wäre der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) Wahrung des Gesetzesvorbehalts

In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darf nach S. 2 nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, um ein solches handelt es sich bei den angegriffenen Regelungen des § 20 IfSG.

b) Formelle Verfassungsmäßigkeit

§ 20 IfSG müsste formell verfassungsmäßig sein.

aa) Zuständigkeit

Es handelt sich um ein Bundesgesetz, der Bund ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zuständig, es handelt sich um eine Maßnahme gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren.

bb) Verfahren

Die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren wurden eingehalten.

cc) Wahrung des Zitiergebots

Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wurde für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in § 20 Abs. 4 GG gewahrt.

c) Materielle Verfassungsmäßigkeit

Das Gesetz müsste materiell verfassungsmäßig sein.

aa) Verstoß gegen Art. 20 GG

Die Regelung des IfSG wäre nur dann verfassungsmäßig, wenn sie nicht gegen die Grundsätze des Art. 20 GG verstößt. In Betracht kommt vorliegend ein Verstoß gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip in Gestalt des Vorbehaltes des Gesetzes. Diese gebieten konkret, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. Zum einen ist der Gesetzgeber geboten die Fragen zu regeln, die wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind, zum anderen die Regelungen, die für Staat und Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung sind.

„Diesen Anforderungen genügte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nicht, wenn er so zu verstehen wäre, dass § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG auch gilt, wenn nur Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die weitere Impfstoffkomponenten als die bei Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Impfstoffe enthielten […]. Der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG enthält keine ausdrücklichen Beschränkungen von Impfstoffkomponenten „gegen andere Krankheiten“ als Masern, die in auch zur Masernimpfung verwendeten Kombinationsimpfstoffen enthalten sind. So verstanden, wirkte § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG ähnlich wie eine dynamische Verweisung, nach der die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung auch zukünftig bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen mit beliebig vielen weiteren Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten als Masern gölte. Die tatsächlichen Bedingungen der Erfüllung der Auf- und Nachweispflicht wären dann davon abhängig, welche Impfstoffe mit welchen Komponenten nach der jeweiligen Marktlage verfügbar sind. Dann fänden die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, den Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG nachzukommen, jedoch keine hinreichende Grundlage mehr im Gesetz […]. Das Gewicht des Eingriffs in die hier betroffenen Grundrechte der Kinder und ihrer Eltern wird aber durch die Anzahl der in einem Kombinationsimpfstoff enthaltenen Impfstoffkomponenten mitbestimmt. Die Frage, durch welche Impfstoffe die Pflicht erfüllt werden kann, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, ist daher wesentlich für die Grundrechte und grundsätzlich durch den Gesetzgeber zu klären. Inwieweit er darin den Verordnungsgeber einbeziehen kann, bestimmt sich nach Art. 80 Abs. 1 GG.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 96

Ein Verstoß kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn § 20 Abs. 8 S. 3 IfSG verfassungskonform ausgelegt werden kann:

„§ 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG kann verfassungskonform so auslegt werden, dass die Pflicht aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen nur dann gilt, wenn es sich dabei um solche handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken. Allein auf Mehrfachimpfstoffe gegen diese Krankheiten beziehen sich die vom Gesetzgeber des Masernschutzgesetzes getroffenen grundrechtlichen Wertungen […]. Damit werden die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nicht überschritten. Zwar enthält der Wortlaut von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG keine Beschränkung derjenigen Krankheiten, bezüglich derer Impfstoffkomponenten in einem Mehrfachimpfstoff enthalten sein dürfen. Durch die verfassungskonforme Beschränkung auf die vorgenannten Mehrfachimpfstoffkombinationen wird jedoch dem Gesetz weder ein entgegengesetzter Sinn verliehen, noch der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt, oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt […].

So bietet die Entstehungsgeschichte der Vorschrift ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Erfüllung der Pflichten aus § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG bei ausschließlicher Verfügbarkeit von Mehrfachimpfstoffen auf die genannten Kombinationen beschränken wollte. Die Begründung des Gesetzentwurfs nennt allein Kombinationsimpfstoffe gegen Masern-Mumps-Röteln oder Masern-Mumps-Röteln-Windpocke […] und geht von der Anwendbarkeit von Satz 1 bei Verfügbarkeit nur dieser Kombinationsimpfstoffe aus. […] Die vom Paul-Ehrlich-Institut geführte Liste zugelassener Kombinationsimpfstoffe weist zudem aus, dass es sich bei den auch masernwirksamen Kombinationsimpfstoffen seit langem ausschließlich um solche mit den weiteren Komponenten gegen Mumps, Röteln und Windpocken handelt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass sich die seit Jahren unveränderte Lage dahingehend verändern könnte, dass sich Wirkstoffkombinationen der in Deutschland zugelassenen Masernimpfstoffe in absehbarer Zeit ändern und zu den Mumps-, Röteln- und Windpocken-Impfstoffkomponenten weitere hinzukommen könnten.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 98-100

Berücksichtigt man diese Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung, liegt kein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vor. Dieses Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung ist auch für die nachfolgenden Ausführungen zu unterstellen, die Norm besitzt ausschließlich diesen Rechtsgehalt.

bb) Verhältnismäßigkeit der Regelung

Die angegriffenen Normen müssten auch verhältnismäßig sein. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber einen legitimen Zweck verfolgt, die Regelung zur Verfolgung dieses Zwecks geeignet und erforderlich ist und die Regelung angemessen ist, das heißt die Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zu den ihn rechtfertigenden Gründen steht.

(1) Legitimer Zweck

Der Gesetzgeber müsste einen legitimen Zweck verfolgen:

 „Die angegriffenen Vorschriften des Masernschutzgesetzes bezwecken einen verbesserten Schutz vor Maserninfektionen, insbesondere bei Personen, die regelmäßig in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen mit anderen Personen in Kontakt kommen […]. Das soll nicht nur die Einzelnen gegen die Erkrankung schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit in der Bevölkerung verhindern, was eine ausreichend hohe Impfquote in der Bevölkerung erfordert. So können auch Personen geschützt werden, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe im Fall einer Infektion drohen. […] Zudem will der Gesetzgeber das von der Weltgesundheitsorganisation verfolgte Ziel unterstützen, die Masernkrankheit in den Mitgliedstaaten sukzessiv zu eliminieren, um die Krankheit schließlich weltweit zu überwinden […]. […] Damit kommt der Gesetzgeber erkennbar seiner in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Schutzpflicht nach. Lebens- und Gesundheitsschutz sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz Einzelner vor Beeinträchtigungen ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer Gesundheit umfasst, kann daher auch eine Schutzpflicht des Staates folgen, Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu treffen […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 106-107.

Die Impfpflicht verfolgt daher einen legitimen Zweck.

(2) Geeignetheit

Die gesetzliche Regelung müsste geeignet zur Erreichung dieses Zwecks sein, das heißt sie müsste in der Lage sein, diesen Zweck zu fördern:

„Sie können sowohl dazu beitragen, die Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erhöhen als auch dazu, diejenige in solchen Gemeinschaftseinrichtungen zu steigern, in denen vulnerable Personen betreut werden oder zumindest regelmäßig Kontakt zu den Einrichtungen und den dort betreuten und tätigen Personen haben. Werden dort künftig grundsätzlich nur noch Kinder mit Impfschutz oder Immunität betreut, trägt das ‒ ebenso wie das Betreuungsverbot des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG ‒ zu einer Reduzierung der Ansteckungsgefahr mit dem Masernvirus bei. Angesichts einer Betreuungsquote in Kindertagesbetreuung von 34,3 % bei unter 3-Jährigen und von 93 % bei 3- bis 5-Jährigen […] erhöht sich hierdurch auch insgesamt die Impfquote in der Bevölkerung. Bei einer von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG vorgegebenen zweifachen Impfung gegen Masern wird nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen von einer Impfeffektivität von 95 bis 100 % im Mittel ausgegangen. Das gilt auch bei der Verwendung eines von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG erfassten Kombinationsimpfstoffs […] Der Impfschutz wirkt lebenslang.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 114-115

Die Impfpflicht ist zur Zielerreichung geeignet.

(3) Erforderlichkeit

Dies gesetzliche Regelung müsste erforderlich sein, das heißt es dürften keine gleich geeigneten, milderen Mittel zur Zweckerreichung zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht dabei grundsätzlich eine Einschätzungsprärogative zu, die umso weiter reicht, je komplexer die zu regelnde Materie ist.

„Aus den ihm vorliegenden wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen konnte der Gesetzgeber daher […] den Schluss ziehen, dass diese Maßnahmen bislang nicht genügt haben, um eine Herdenimmunität gegen Masern herzustellen. […] Der Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen steht nicht entgegen, dass § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG den Aufweis einer durch Impfung erlangten Masernimmunität auch dann verlangt, wenn lediglich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen und es im Inland seit einigen Jahren auch keine zugelassenen Monoimpfstoffe mehr gibt. […] Denn die Frage der gleichen Eignung muss anhand des Gesetzeszwecks beurteilt werden. Die Bekämpfung sonstiger Krankheiten ist aber nicht Zweck der allein gegen Masern gerichteten Regelung. Gegen die gleiche Eignung einer nur auf Monoimpfstoffe gerichteten Regelung spricht jedoch, dass es im Inland mittlerweile keine Masernmonoimpfstoffe mehr gibt, für früher angebotene Monoimpfstoffe inzwischen mangels Nutzung sogar die Zulassung entfallen ist. Vor diesem Hintergrund wäre der Zweck des Gesetzes mit einer auf Monoimpfstoffe beschränkten Verpflichtung weniger gut zu erreichen, weil alle Kinder ungeimpft blieben, deren Eltern der Verwendung eines Kombinationsimpfstoffs nicht freiwillig zustimmen. Auch eine gesetzliche Verpflichtung zuständiger staatlicher Stellen, solche Monoimpfstoffe herstellen zu lassen oder sonst für deren Verfügbarkeit im Inland zu sorgen, wäre keine gleich geeignete Maßnahme im Sinne der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit […] Ist allerdings der von § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG geforderte Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt worden, ist dies regelmäßig als zur Erreichung des Gesetzeszwecks ebenso geeignetes Mittel anzusehen […]. Die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Mehrfachimpfstoff ist dann nicht erforderlich und darf zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht gefordert werden.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 125-128

Die Impfpflicht ist daher zur Zielerreichung erforderlich.

(4) Angemessenheit

Die gesetzliche Regelung müsste angemessen sein, das heißt die Schwere des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der verfolgten Zwecke stehen:

(aa) Eingriffsintensität

Fraglich ist, als wie gewichtig die Eingriffsintensität der Impfpflicht zu beurteilen ist.

„Der Eingriff in das Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgt mittelbar durch die Einwirkung auf die Ausübung des die Gesundheitssorge betreffenden Elternrechts. Entscheiden sich die sorgeberechtigten Eltern zwecks Meidung des Betreuungsverbots aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, ihr in einer betroffenen Einrichtung betreutes Kind impfen zu lassen, geht dies mit einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes einher. Allerdings ist dieser mittelbare Eingriff weder nach der Art der sich anschließenden körperlichen Einwirkung selbst noch aufgrund der Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit über die körperliche Unversehrtheit besonders schwerwiegend. Zwar kann selbst eine Impfung mit erprobten, weitgehend komplikationslosen Impfstoffen […] nicht ohne Weiteres als unbedeutender vorbeugender ärztlicher Eingriff eingeordnet werden […]. Die Wahrscheinlichkeit gravierender, mitunter tödlicher Komplikationen im Falle einer Maserninfektion ist jedoch um ein Vielfaches höher als die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Impfkomplikationen. Etwas häufiger vorkommende harmlose Impfreaktionen erhöhen das Gewicht des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit nicht maßgeblich […]. […] Zwar gewährleistet das auf die körperliche Integrität bezogene Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz auch, Entscheidungen über die eigene Gesundheit nicht am Maßstab objektiver Vernünftigkeit auszurichten […]. Zur Wahrnehmung dieser Autonomie ist ein Kind anfangs allerdings zunächst entwicklungsbedingt nicht in der Lage. […] Mit dem Grundrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbindet sich darum kein ebenso weitreichendes Recht auf medizinisch unvernünftige Entscheidung wie bei Erwachsenen, die über den Umgang mit ihrer eigenen Gesundheit nach eigenem Gutdünken entscheiden können […]. Dem stärker an medizinischen Standards auszurichtenden körperlichen Kindeswohl dienlich ist regelmäßig die Vornahme empfohlener Impfungen, nicht ihr Unterbleiben. Das gilt auch für die Verabreichung von Kombinationsimpfstoffen […]. Daher kann den angegriffenen, gerade zur Vornahme einer empfohlenen Impfung anreizenden gesetzlichen Regelungen kein besonders hohes Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beigemessen werden. Dabei wird das Gewicht des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch dadurch abgemildert, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufheben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder im Grundsatz belassen. Sie ordnen keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an […]. Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 142-145

Die Eingriffe wiegen nicht besonders schwer.

(bb) Überwiegen die verfolgten Interessen diese Intensität?

Die verfolgten Interessen müssten diese Eingriffsintensität überwiegen.

„Trotz der nicht unerheblichen Eingriffe in das Abwehrrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG konnte der Gesetzgeber der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit durch eine Masernerkrankung gefährdeter Personen den Vorrang einräumen. Für die Schutzpflicht streiten die hohe Übertragungsfähigkeit und Ansteckungsgefahr sowie das nicht zu vernachlässigende Risiko, als Spätfolge der Masern eine für gewöhnlich tödlich verlaufende Krankheit (die subakute sklerosierende Panenzephalitis, SSPE) zu erleiden. Bei Kindern unter fünf Jahren liegt dieses Risiko bei etwa 0,03 und bei Kindern unter einem Jahr bei etwa 0,17 % […].

Demgegenüber treten bei einer Impfung nur milde Symptome und Nebenwirkungen auf; ein echter Impfschaden ist extrem unwahrscheinlich […]. Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein. Hinzu kommt, dass die realistische Möglichkeit der Eradikation der Masern die staatliche Schutzpflicht stützt, weshalb selbst bei einer sinkenden Inzidenz von Krankheitsfällen – zu einem Sinken dürfte es kommen, je näher das Ziel der Herdenimmunität durch eine steigende Impfquote rückt – das Abwehrrecht der Beschwerdeführenden, in das die Auf- und Nachweispflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit Impfunfähiger mittelbar eingreift, aufgrund geringerer Gefahrennähe weniger Gewicht für sich beanspruchen kann, als der vom Gesetzgeber verfolgte Schutz impfunfähiger Grundrechtsträger. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Prognose die Gefahren in der Weise bewertet, dass das geringe Restrisiko einer Impfung im Vergleich zu einer Wildinfektion mit Masern bei gleichzeitiger Beachtung der – auch den betroffenen Kindern zugutekommenden – Impfvorteile zurücksteht. Im Ergebnis führt die Masernimpfung daher zu einer erheblich verbesserten gesundheitlichen Sicherheit des Kindes. […]

Die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht ihrer sorgeberechtigten Eltern sind auch nicht insoweit unzumutbar, als § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG eine Auf- und Nachweispflicht selbst dann vorsieht, wenn zur Erlangung des Masernimpfschutzes – wie es derzeit in Deutschland der Fall ist – ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen […]. Zwar führt dies faktisch dazu, dass die Kinder bei entsprechender Entscheidung ihrer Eltern die Impfung mit zusätzlichen Wirkstoffen hinnehmen müssen, derer es zum Erfüllen der Auf- und Nachweispflicht aus § 20 Abs. 8 und 9 IfSG nicht bedarf und auf deren Schutzeffekte das Gesetz nicht zielt. Das führt jedoch nicht zur Unangemessenheit der angegriffenen Regelungen. Sofern Impfschutz durch einen, etwa auf der Grundlage von § 73 Abs. 3 Halbsatz 1 AMG aus dem Ausland eingeführten, Monoimpfstoff erlangt wurde, ist die Impfung mit einem im Inland zur Verfügung stehenden Kombinationsimpfstoff ohnehin nicht erforderlich und darf dessen Verwendung nicht gefordert werden.

Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, überwiegen im Ergebnis die für den Aufweis anhand eines Mehrfachimpfstoffs sprechenden Argumente. Denn die aktuell in den Mehrfachimpfstoffen enthaltenen weiteren Wirkstoffe betreffen ebenfalls von der Ständigen Impfkommission empfohlene, also eine positive Risiko-Nutzen-Analyse aufweisende Impfungen. Sie sind deshalb ihrerseits grundsätzlich kindeswohldienlich, wenngleich insoweit weder ein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht noch entsprechende schwere Krankheitsverläufe eintreten können. Ausweislich der Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts und der Ständigen Impfkommission besteht zwischen dem Nebenwirkungsprofil eines Monoimpfstoffs und den in Deutschland zugelassenen Kombinationsimpfstoffen jedenfalls kein wesentlicher Unterschied. Dem steht die Dringlichkeit gegenüber, diejenigen Personen, die sich nicht selbst durch Impfung schützen können, mittels Gemeinschaftsschutz zu schützen. Für diesen bedarf es der genannten Impfquote von 95 %, die gerade auch in den Altersgruppen nicht erreicht ist, die in den hier betroffenen Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden. Würde die Pflicht zum Auf- und Nachweis der Masernimpfung auf Situationen beschränkt, in denen ein Monoimpfstoff zur Verfügung steht, würde die erforderliche Impfquote weniger gut erreicht. In der Gesamtabwägung ist es vertretbar, dass der Gesetzgeber den Schutz für vulnerable Personen gegen Masern so hoch gewertet hat, dass dafür auch die Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den vom Gesetzgeber mit der Anordnung in § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG in Kauf genommenen Einsatz der aktuell einzig verfügbaren Kombinationsimpfstoffe hinzunehmen sind. Auch weil damit objektiv ein Schutz gegen die weiteren durch Kombinationsimpfstoffe erfassten Krankheiten verbunden ist, ist das Interesse, dass mangels verfügbarer Monoimpfstoffe Kombinationsimpfstoffe zum Einsatz kommen, höher zu gewichten als die Interessen der betroffenen Kinder und Eltern, diese nicht verwenden zu müssen. Angesichts des die Beeinträchtigungen deutlich überwiegenden Interesses am Schutz vulnerabler Personen gegen Masern erscheint zudem derzeit auch zur Wahrung der Angemessenheit nicht geboten, dass der Staat durch Beschaffung, Herstellung oder Marktintervention die Verfügbarkeit von Monoimpfstoff sichert.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 149-152
(cc) Zwischenergebnis

Die verfolgten Zwecke überwiegen damit das Gewicht des Eingriffs, die verfassungskonform ausgelegte Regelung ist angemessen.

(5) Zwischenergebnis

Die Regelung ist verhältnismäßig.

cc) Zwischenergebnis

Die Regelung ist materiell verfassungsmäßig.

4. Ergebnis

Die Regelung ist nach verfassungskonformer Auslegung sowohl formell als auch materiell verfassungsmäßig. Der Eingriff in das Grundrecht ist mithin gerechtfertigt. Die Beschwerdeführer sind in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht verletzt.

II. Verletzung von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG

Es könnte jedoch eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vorliegen. Dies wäre der Fall, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich vorliegt.

1. Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG müsste eröffnet sein:

„Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen […]. Das Elternrecht unterscheidet sich allerdings von den anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs wesentlich dadurch, dass es keine Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern, sondern eine solche zum Schutze des Kindes und in dessen Interesse gewährt […]. Dazu gehört im Grundsatz die Sorge für das körperliche Wohl, worunter die Gesundheitssorge insgesamt und damit auch die Entscheidung über medizinische Maßnahmen fällt […]. Schon wegen der möglichen Auswirkungen von Impfungen auf die weitere Entwicklung des Kindes ([…] handelt es sich bei der elterlichen Entscheidung darüber um ein wesentliches Element des Sorgerechts.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 67-69

Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist mithin eröffnet.

2. Eingriff

Es müsste ein Eingriff in dieses Grundrecht vorlegen:

„Wollen Eltern ihren vorhandenen Wunsch nach solcher Betreuung umsetzen, ist dies rechtlich grundsätzlich nur dann möglich, wenn sie einen Nachweis über die Masernimpfung ihrer Kinder vorlegen (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG). Die Entscheidung selbst, Kinder impfen zu lassen, ist wiederum wesentlicher Teil des durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten elterlichen Sorgerechts, das die Entscheidungsbefugnis über die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Kinder umfasst. Bei Ausbleiben des Nachweises wirken die angegriffenen Vorschriften erheblich auf die Entschließungsfreiheit der Eltern bei der Ausübung des Elternrechts in beiden Komponenten ein. Die gesetzlichen Regelungen über die Pflicht zum Auf- und Nachweis einer Masernimpfung sowie das Betreuungsverbot bei Ausbleiben dieses Nachweises kommen in Zielsetzung und Wirkung als funktionales Äquivalent dem direkten Eingriff gleich, der durch eine rechtlich durchsetzbare Impfpflicht bewirkt würde.“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 74-75

Auch ein Eingriff in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG liegt mithin durch § 20 IfSG vor.

3. Rechtfertigung

Der Eingriff in das Grundrecht ist nicht verfassungswidrig, wenn er gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn das Gesetz formell und materiell verfassungsmäßig ist.

a) formelle Verfassungsmäßigkeit

Hinsichtlich Zuständigkeit und Verfahren wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Fraglich ist jedoch, ob auch in Bezug auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG das Zitiergebot eingehalten wurde.

Dafür müsste es für Art. 6 Abs. 2 S. 1 jedoch überhaupt Anwendung finden.

„Das Zitiergebot dient der Sicherung derjenigen Grundrechte, die aufgrund eines spezifischen, vom Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalts über die im Grundrecht selbst angelegten Grenzen hinaus eingeschränkt werden können […]. Von solchen Grundrechtseinschränkungen grenzt es andersartige grundrechtsrelevante Regelungen ab, die der Gesetzgeber in Ausführung ihm obliegender, im Grundrecht vorgesehener Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt […]. Kommt es danach für die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich auf das Vorhandensein grundrechtsspezifischer Gesetzesvorbehalte an, fällt das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in den Anwendungsbereich. Es unterliegt gerade keinem solchen Gesetzesvorbehalt und ist deshalb lediglich sich aus der Verfassung selbst ergebenden Einschränkungen zugänglich […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 92

Das Zitiergebot musste daher nicht gewahrt werden, es kann der Verfassungsmäßigkeit nicht entgegenstehen.

b) materielle Verfassungsmäßigkeit

Ein Verstoß gegen Art. 20 GG liegt bei verfassungskonformer Auslegung der Regelung nicht vor. Es handelt sich um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, welches nur durch verfassungsimmanente Schranken im Wege der praktischen Konkordanz eingeschränkt werden kann. Eine Rechtfertigung des Eingriffs im Wege der praktischen Konkordanz setzt voraus, dass ein kollidierendes Verfassungsgut vorliegt und ein verhältnismäßiger Ausgleich der kollidierenden Güter gewählt wurde. Dies ist der Fall, wenn die Maßnahme zum Ausgleich geeignet, erforderlich und angemessen ist.

aa) Verfolgung des Schutzes eines anderen Verfassungsgutes.

In Gestalt der staatlichen Schutzpflicht verfolgt die gesetzliche Regelung den Schutz eines anderen Verfassungsgutes.

bb) Eignung

Die Maßnahme ist zur Herstellung praktischer Konkordanz geeignet, siehe oben.

cc) Erforderlichkeit

Selbiges gilt für die Erforderlichkeit

dd) Angemessenheit

Der Interessenausgleich müsste angemessen erfolgt sein, dies ist der Fall, wenn die Einschränkung des einen Verfassungsgutes nicht außer Verhältnis zum Gewicht des den Eingriff rechtfertigenden Verfassungsgutes steht.

(1) Eingriffsgewicht

Fraglich ist, wie gewichtig der Eingriff ist.

„Die angegriffenen Regelungen greifen in das vom Elternrecht umfasste Recht auf Gesundheitssorge ein, da sie gebieten, dass Eltern einer Impfung ihrer Kinder zustimmen. Zwar sind sie letztlich nicht unausweichlich verpflichtet, einer Impfung zuzustimmen. Tun sie dies aber nicht, ist dies jedoch mit spürbaren Nachteilen für sie selbst und ihre Kinder verbunden. […] Mit der angegriffenen Nachweispflicht verengt das Infektionsschutzrecht die Wahlmöglichkeit der Eltern nicht unbeträchtlich, indem der Betreuungsanspruch ohne Impfnachweis entfällt oder zumindest nicht durchgesetzt werden kann […]. Dabei dient die Nachweispflicht nicht ihrerseits der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern im Alter vor Schuleintritt, sondern bezweckt neben deren Eigenschutz gegen eine Maserninfektion vor allem den Gemeinschaftsschutz vor den Gefahren von Maserninfektionen […]. Das verstärkt die Intensität des Eingriffs in das Elternrecht, weil die betroffenen Eltern im fremdnützigen Interesse des Schutzes der Bevölkerung entgegen den eigenen Vorstellungen zu einer Disposition über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder gedrängt werden. Da die Wahrnehmung des Betreuungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 IfSG an den Auf- und Nachweis der Masernimpfung geknüpft ist (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG), wirken die beanstandeten Vorschriften auch auf das auf die Gesundheitssorge bezogene Elternrecht ein. […] (135) Bei den hier zu beurteilenden Regelungen ist das Gewicht des die Gesundheitssorge treffenden Eingriffs in das Elternrecht dadurch reduziert, dass die Impfung nach medizinischen Standards gerade auch dem Gesundheitsschutz der auf- und nachweisverpflichteten Kinder selbst dient. Nach fachgerichtlicher Einschätzung bilden die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission den medizinischen Standard ab, und der Nutzen der jeweils empfohlenen „Routineimpfung“ überwiegt das Impfrisiko […]. Regelmäßig ist damit die Vornahme empfohlener Impfungen dem Kindeswohl dienlich. Davon geht auch die fachgerichtliche Rechtsprechung für Sorgerechtsentscheidungen bei Streitigkeiten über empfohlene Schutzimpfungen zwischen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern aus […]. Das lässt den Eingriff in das Gesundheitssorgerecht der Eltern zwar nicht entfallen. Deren Entscheidungen in Fragen der Gesundheitssorge für ihr Kind bleiben auch bei entgegenstehenden medizinischen Einschätzungen im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich schutzwürdig. Da das Grundgesetz ihnen aber die Gesundheitssorge wie alle anderen Bestandteile der elterlichen Sorge im Interesse des Kindes ‒ insoweit zum Schutz seiner durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Gesundheit ‒ überträgt, ist es jedoch für die Eingriffstiefe von Bedeutung, wenn die Einschränkung der Gesundheitssorge ihrerseits nach medizinischen Standards gerade den Schutz der Gesundheit des Kindes fördert. […] Das Elternrecht bleibt ein dem Kind dienendes Grundrecht. Ein nach medizinischen Standards gesundheitsförderlicher Eingriff in die elterliche Gesundheitssorge wiegt weniger schwer als ein Eingriff, der nach fachlicher Einschätzung die Gesundheit des Kindes beeinträchtigte. Dieser objektiv vorhandene Impfvorteil für die Kinder mindert daher das Gewicht des Eingriffs in die elterliche Gesundheitssorge durch das Betreuungsverbot. […]

Eingriffsintensivierend wirkt dagegen unter einem anderen Aspekt des Elternrechts das bei ausbleibendem Impfnachweis geltende Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG. Denn dadurch wird die Vereinbarkeit von Familie und Elternschaft mit der Erwerbstätigkeit der Eltern […] beeinträchtigt. […] Betroffene Eltern müssen daher entweder auf Betreuung außerhalb von Einrichtungen nach § 33 Nr. 1 und 2 IfSG ausweichen oder die eigene Erwerbstätigkeit umgestalten, um die Kinderbetreuung selbst wahrnehmen zu können. Daher geht mit dem Betreuungsverbot wegen der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheit von Eltern, ihr familiäres Leben nach ihren Vorstellungen zu planen und zu verwirklichen, ein nicht unerhebliches Eingriffsgewicht einher. Das Gewicht des Eingriffs in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unter diesem Aspekt wird durch die Beeinträchtigung damit korrespondierender Rechtspositionen der Kinder verstärkt. […] Das Betreuungsverbot aus § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG versperrt aber betroffenen Kindern, auch den jeweiligen Beschwerdeführenden zu 3), die Wahrnehmung ihres Anspruchs, wenn die Eltern eine das Verbot auslösende Entscheidung zur Gesundheitssorge getroffen haben. Dem kommt Gewicht auch deshalb zu, weil nicht allein der dargestellte fachrechtlich eingeräumte Förderanspruch von Kindern betroffen ist, sondern wegen der in § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erfolgten Ausgestaltung auch das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde, gegen den Staat gerichtete Recht von Kindern auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Person in der sozialen Gemeinschaft […].“

BVerfG, Beschl. v. 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 134-139

Der Eingriff ist daher nicht besonders schwerwiegend, aber auch nicht unerheblich.

(2) Ausgleich der Interessen

In Bezug auf den Interessenausgleich lässt sich weitestgehend nach oben verweisen, die dort angeführten Argumente lassen sich hier erneut platzieren.

ee) Zwischenergebnis

Die gesetzliche Regelung stellt einen angemessenen Ausgleich her, der Eingriff ist im Wege praktischer Konkordanz gerechtfertigt.

4. Ergebnis

Auch der Eingriff in das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist gerechtfertigt

III. Gesamtergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet, die Beschwerdeführer sind nicht in ihren verfassungsrechtlich geschützten Rechten verletzt.

C. Eine kurze und abschließende Summa

Die wesentlichen Kernaussagen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine Impfpflicht für Masern ist zumutbar, auch wenn nur ein Kombinationsimpfstoff zur Verfügung steht. Die Vorschrift ist verfassungskonform so auszulegen, dass nur die Kombinationsimpfstoffe verwendet werden dürfen, die im Zeitpunkt des Erlasses der Norm vorliegen. Ein Impfstoff, der ausschließlich Wirkstoffe gegen Masern enthält, wäre jedoch ein milderes und gleichgeeignetes Mittel, sobald diese in Deutschland verfügbar sind, müssen diese verimpft werden. Letztlich sind sowohl Eingriffe in das Elternrecht, aber auch Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit angesichts der staatlichen Schutzpflicht für vulnerable Gruppen – also für Menschen, die nicht durch eine Impfung geschützt werden können – gerechtfertigt. Dies dürfte auch auf eine denkbare Beeinträchtigung der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG zu übertragen sein. Auch mit Blick auf die Corona-Impfpflicht der in Gesundheitseinrichtungen tätigen Personen nach § 20a IfSG dürfte das BVerfG die entscheidenden Weichen gestellt haben.

18.08.2022/3 Kommentare/von Dr. Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannick Peisker2022-08-18 11:03:272022-08-18 15:18:28Masernimpfpflicht verfassungsmäßig – Klausurlösung
Dr. Lena Bleckmann

AfD scheitert vor dem Bundesverfassungsgericht – Kein Anspruch auf Wahl eines Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin des Bundestages

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Mit einer gestern veröffentlichten Entscheidung (Az. 2 BvE 9/20) hat das Bundesverfassungsgericht der Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland (AfD) einen Dämpfer verpasst. Nach Einschätzung des BVerfG hat die Fraktion keinen Anspruch darauf, dass ein von ihr vorgeschlagener Abgeordneter oder eine von ihr vorgeschlagene Abgeordnete zum Stellvertreter oder zur Stellvertreterin des Präsidenten bzw. der Präsidentin des Deutschen Bundestages gewählt wird. Im Folgenden ein Überblick über die wichtigsten Aspekte der Entscheidung.

I. Sachverhalt

Der Sachverhalt ist schnell erzählt. Nach § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT wählt der Bundestag einen Bundestagspräsidenten und seine Stellvertreter und Stellvertreterinnen (VizepräsidentInnen), wobei jede Fraktion nach § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten ist.

Nachdem der Bundestag die Zahl der Stellvertreter und Stellvertreterinnen für die 19. Legislaturperiode entsprechend der Zahl der im Bundestag vertretenen Fraktionen auf sechs festgelegt hatte, wurde die Wahl der Vizepräsidenten und Vizepräsidentinnen gemäß § 2 Abs. 2 GO-BT durchgeführt. Einzig der AfD-Kandidat konnte auch in drei Wahlgängen keine Mehrheit auf sich vereinen. Das Schauspiel wiederholte sich im Laufe der Legislaturperiode: Insgesamt fünf weitere vorgeschlagene Abgeordnete der AfD-Fraktion fielen in jeweils drei Wahlgängen durch. Bis zum Ende der 19. Legislaturperiode gab es keinen Stellvertreter des Bundestagspräsidenten aus der AfD-Fraktion.

Hierdurch sieht die Fraktion ihre Rechte aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und ihr Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung sowie den Grundsatz der Organtreue verletzt. Sie macht geltend, wenn eine Bestellung eines Gremiums von einer Mehrheitswahl abhängig gemacht werde, müsse dafür Sorge getragen werden, dass Kandidaten nicht aus sachwidrigen Gründen abgelehnt würden. Dies habe der Antragsgegner (der Deutsche Bundestag) durch geeignete Vorkehrungen sicherzustellen. Er müsse verfassungswidrigen Blockaden durch eine oder mehrere Fraktionen oder eine Mehrheit der Abgeordneten durch ein formelles oder informelles Verfahren entgegenwirken.

II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Diese Einschätzung hat das Bundesverfassungsgericht in typischer Art abgelehnt, man möchte fast sagen abgebügelt – der Antrag sei offensichtlich unbegründet. In seiner Untermauerung dieser These geht das BVerfG in drei Schritten vor. Zunächst setzt es sich mit der möglichen Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auseinander, sodann mit einer solchen des Rechts auf effektive Opposition und schließlich dem Grundsatz der Organtreue.

  1. Prozessuales

Die Zulässigkeit des Antrags lässt das BVerfG demgegenüber offen. Prozessual hatte die Bundestagsfraktion der AfD ein Organstreitverfahren gegen den Deutschen Bundestag als Antragsgegner angestoßen. Die einzelnen Prüfungspunkte sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Sollte sich der Sachverhalt jedoch einmal in einer Klausur wiederfinden, sollten Prüflinge sich jedenfalls kurz mit der Antragsbefugnis der Fraktion auseinandersetzen. Nach § 64 Abs. 1 BVerfGG muss der Antragsteller geltend machen, dass er oder das Organ, dem er angehört, in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. „Durch das Grundgesetz“ ist hier der entscheidende Satzteil – das verletzte oder gefährdete organschaftliche Recht muss ein solches sein, das durch die Verfassung gewährleistet wird. An Rechtspositionen, die allein aus der Geschäftsordnung des Bundestags folgen, kann ein Organstreitverfahren nicht geknüpft werden.

Achtung: Zwar nennt Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG auch andere Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Die Nennung der Geschäftsordnungsrechte bezieht sich hier aber allein auf die Beteiligtenfähigkeit im Organstreit, nicht aber auf die Antragsbefugnis (vgl. Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Bethge, § 64 BVerfGG, Rn. 61).

Das schließt nicht aus, dass die GO-BT im Rahmen der Antragsbefugnis relevant werden kann. Die von ihr gewährten Rechte müssen sich aber an ein bereits aus der Verfassung folgendes Statusrecht des antragstellenden Organs ergeben und dieses ausgestalten (vgl. etwa BVerfGE 87, 207, 208 f.). 

Hinweis: Das BVerfG hat die Frage der Zulässigkeit zwar offen gelassen, es erscheint in der Klausur angezeigt, die Antragsbefugnis mit Blick auf die Möglichkeitstheorie zunächst zu bejahen und die relevanten Probleme in der Begründetheit zu erörtern.

  1. Zu Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG

Erster Anknüpfungspunkt ist Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, der zunächst einmal das freie Mandat der Abgeordneten des Bundestages regelt. Aus dieser Norm leitet das Bundesverfassungsgericht auch die Rechtsstellung der Fraktionen und insbesondere ein Recht auf formale Gleichheit der Abgeordneten und Fraktionen ab:

„Die Antragstellerin ist als Fraktion im Deutschen Bundestag ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung – ebenso wie der Status der Abgeordneten – aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleiten ist. Dementsprechend haben die Fraktionen gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 28, Nachweise im Zitat ausgelassen).

Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich dabei nach den Ausführungen des BVerfG auch auf Fragen der Organisation des Bundestages, auch für die Besetzung von Ämtern und damit auf für den Zugang zum Bundestagspräsidium (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 28).

Mag so auch ein Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung der Abgeordneten am und im Präsidium bestehen, so wird dieses doch wiederum begrenzt durch Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG, der die Wahl (!) des Bundestagspräsidenten und der Stellvertreter und Schriftführer vorsieht. Das BVerfG nimmt dies zum Anlass, die Grundsätze und Bedeutung von Wahlen zu erläutern:

„Dabei ist die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG frei. Wahlen zeichnen sich gerade durch die Wahlfreiheit aus, wenngleich die Wählbarkeit von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängen kann. Der mit einer Wahl einhergehende legitimatorische Mehrwert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten oder einer bestimmten Kandidatin gäbe. Der Wahlakt unterliegt grundsätzlich keiner über Verfahrensfehler hinausgehenden gerichtlichen Kontrolle, weswegen sein Ergebnis auch keiner Begründung oder Rechtfertigung bedarf.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 31, Nachweis im Zitat ausgelassen).

Dies knüpft das Gericht ergänzend an das freie Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG. An einer späteren Stelle im Urteil heißt es darüber hinaus, „mit einer freien Wahl im Sinne des Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG wäre es unvereinbar, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte. Könnte eine Fraktion – mittels der von der Antragstellerin begehrten „prozeduralen Vorkehrungen“ oder gar durch ein Besetzungsrecht – einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin durchsetzen, wäre die Wahl ihres Sinns entleert.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 35).

Weder könnten daher die Abgeordneten oder Fraktionen verpflichtet werden, die Stimmabgabe offenzulegen oder zu begründen, noch soll das Recht der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG durch prozedurale Vorkehrungen, welche die Wahl letztlich steuern und einengen, beschränkt werden (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 33, 36). Diese Grundsätze führen das BVerfG zu dem folgenden, eindeutigen Ergebnis:

„Der Anspruch einer Fraktion auf Mitwirkung und Gleichbehandlung mit den anderen Fraktionen bei der Besetzung des Präsidiums aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG steht mit Blick auf Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG unter dem Vorbehalt der Wahl. Er ist darauf beschränkt, dass eine Fraktion einen Kandidaten für die Wahl vorschlagen kann und dass die freie Wahl ordnungsgemäß durchgeführt wird. Gelingt die Wahl nicht, bleibt die Stellvertreterposition unbesetzt, solange nicht ein von der zu vertretenden Fraktion einzubringender neuer Personalvorschlag die erforderliche Mehrheit erreicht. Das in § 2 Abs. 1 und Abs. 2 GO-BT vorgesehene Vorschlags- und Wahlrecht sichert hinreichend das Mitwirkungsrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und bringt dieses in einen angemessenen Ausgleich zu der verfassungsrechtlichen Vorgabe in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 37).

  1. Zum Recht auf effektive Opposition

Deutlich kürzer fasst sich das Gericht im Hinblick auf das Recht auf effektive Opposition. Ein solches ist zwar in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt (BVerfGE 142, 22, Rn. 85 ff.).  Es begründet aber keine spezifischen Oppositionsrechte, was auch mit der Freiheit des Mandats nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht vereinbar wäre (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 42).

Hinweis: Das BVerfG spricht hier einen Klausurklassiker an. Wem das Recht auf effektive Opposition nichts sagt, der sollte hier noch einmal im Lehrbuch oder Kommentar nachlesen!

Dass dieses Recht hier nicht betroffen ist, begründet das BVerfG weiterhin damit, dass es  nicht dazu dienen kann, die Minderheit vor Entscheidungen der Mehrheit im Rahmen freier Wahlen zu bewahren, sowie damit, dass das Bundestagspräsidium zu parteipolitischer Zurückhaltung angehalten ist und Oppositionsarbeit im Amt gerade nicht angezeigt ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 43).

  1. Zum Grundsatz der Organtreue

Auch mit dem Grundsatz der Organtreue ließ sich das von der AfD-Fraktion gewünschte Ergebnis nicht begründen. Da die Wahlvorgänge für alle vorgeschlagenen Abgeordneten gleichermaßen durchgeführt wurden und die AfD-Fraktion ihr Vorschlagsrecht (mehrfach) ausüben konnte, sah das BVerfG keine Anhaltspunkte für eine gleichheitswidrige Behandlung oder unfaire oder illoyale Durchführung der Wahlvorgänge (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 45).

III. Was bleibt?

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liest sich wie ein Grundkurs in Sachen Demokratie. Das ist insbesondere den Ausführungen zu den Grundsätzen der freien Wahl und auch dem freien Mandat der Abgeordneten geschuldet. Das Thema bleibt politisch brisant, zeichnet sich doch für die jetzige Legislaturperiode bereits ein ähnliches Spiel ab. Der Fall bietet viel Argumentationsspielraum und Möglichkeiten, Bezüge verschiedener Normen innerhalb des Grundgesetzes zueinander aufzuzeigen. Es wäre daher nicht überraschend, ihn früher oder später als Gegenstand von Klausuren oder mündlichen Prüfungen wiederzufinden.

23.03.2022/0 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2022-03-23 11:38:002022-07-21 09:00:22AfD scheitert vor dem Bundesverfassungsgericht – Kein Anspruch auf Wahl eines Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin des Bundestages
Dr. Lena Bleckmann

Neues zur Schmähkritik – Das BVerfG entscheidet zu Hasskommentaren bei Facebook

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Dass die in sozialen  Medien mögliche Anonymität einige Nutzer zuweilen verleitet, unter ihrem Deckmantel Hass und Hetze zu verbreiten, dürfte inzwischen hinlänglich bekannt sein. Insbesondere Politiker sehen sich solchen Hasskommentaren besonders häufig ausgesetzt. Einzelne wissen sich jedoch zu wehren: Renate Künast, MdB und Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen, verlangte, nachdem ihr gegenüber auf Facebook Dinge geäußert wurden, die man ihr wohl kaum ins Gesicht gesagt hätte, von dem Unternehmen die Auskunft über die Bestandsdaten der jeweiligen Nutzer – zum Zwecke der Rechtsverfolgung wollte sie die Identität der Nutzer herausfinden.
Das Verfahren hat bereits erhebliche mediale Aufmerksamkeit erlangt. Zu mehreren Entscheidungen der Berliner Gerichte tritt nun ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.12.2021, Az. 1 BvR 1073/20. Die wichtigsten Eckpunkte der Entscheidung des BVerfG sollen im Folgenden überblicksweise dargestellt werden.


I. Was bisher geschah
Im Instanzenzug war Künast nur teilweise erfolgreich – so gestattete das LG Berlin (Beschl. v. 21.1.2020 – 27 AR 17/19) die Auskunft über die Bestandsdaten der Nutzer in sechs Fällen, das KG Berlin (Beschl. v. 11.3.2020 – 10 W 13/20) später für weitere sechs Kommentare. Im Übrigen sahen die Gerichte die Schwelle zur strafbaren Beleidigung nicht überschritten. Voraussetzung für einen Auskunftsanspruch über die Daten nach § 14 Abs. 3 Telemediengesetz a.F., der hier noch einschlägig war, ist jedoch eine Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche wegen Verletzung absolut geschützter Rechte aufgrund rechtswidriger Inhalte, die von § 10a Abs. 1 des Telemediengesetzes oder § 1 Abs. 3 des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) in der damaligen Fassung erfasst werden, begehrt wird. Rechtswidrig i.d.S. sind insbesondere Äußerungen, die tatbestandlich eine Straftat gegen die persönliche Ehre nach §§ 185 ff. StGB darstellen.
Hinweis: Zur Wiederholung der Prüfung der §§ 185 ff. StGB siehe hier unseren Beitrag zu dem Thema.
Hinsichtlich von Äußerungen wie „Pädophilen-Trulla“, „Die ist Geisteskrank“, „Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren“ oder „Gehirn Amputiert“ führte das KG Berlin jedoch aus:
„Der Senat verkennt dabei keineswegs, dass es sich insoweit gleichfalls um erheblich ehrenrührige Bezeichnungen und Herabsetzungen der Ast. handelt. Unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben ist allerdings festzustellen, dass die Schwelle zum Straftatbestand der Beleidigung gem. § 185 StGB nicht überschritten wird. Denn es liegt kein Fall der abwägungsfreien Diffamierung (Angriff auf die Menschenwürde, Formalbeleidigung bzw. Schmähkritik) vor und die Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Ast. erreicht auch nicht ein solches Gewicht, dass die Äußerungen unter Einbeziehung des konkret zu berücksichtigenden Kontexts – anders als die zu Ziff. I. zu beurteilenden Äußerungen lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung der Ast. erscheinen (…)“  (KG Berlin, Beschl. v. 11.3.2020 – 10 W 13/20)
Insbesondere aufgrund eines Bezugs zu dem Ausgangspost bejahte das KG für einzelne Äußerungen einen Sachbezug und stützte darauf die Ansicht, die Grenze der Beleidigung sei, da der Kommentar damit nicht ausschließlich der Diffamierung diene, nicht überschritten. In dem Ausgangspost wurde eine Äußerung Künasts aus einer Bundestagsdebatte derart verkürzt wiedergegeben, dass für den Leser der Eindruck entstehen konnte, Künast billige pädophile Praktiken.


 II. Die Entscheidung des BVerfG im Überblick
Künast zog schließlich vor das Bundesverfassungsgericht – und dort bekam sie nun Recht. Das BVerfG sieht die Beschwerdeführerin in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Wie immer befasst sich das BVerfG nur mit der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Dieses müssen die Fachgerichte bei der Entscheidung hinreichend berücksichtigen. Zentrale Frage ist daher: Haben die Fachgerichte das Allgemeine Persönlichkeitsrecht so interpretationsleitend berücksichtigt, dass sein „wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt“  (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 27).
In Fällen wie dem hier in Rede stehenden bewegt man sich im Spannungsbereich zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Aufhänger für die Grundrechtsprüfung musste vorliegend insbesondere § 185 StGB sein. Ist dessen Tatbestand erfüllt, liegt eine rechtswidrige Äußerung i.S.d. § 1 Abs. 3 NetzDG in der damaligen Fassung vor, ebenso wie eine Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 823 Abs. 2 BGB sowie die Verletzung des APR als absolut geschütztes Recht, was einen Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 BGB analog eröffnet.
Für die Prüfung, ob denn eine strafbare Beleidigung nach § 185 StGB vorliegt, haben die Gerichte nun schrittweise vorzugehen. Zunächst muss der Inhalt der Äußerungen erfasst und bei Interpretationsspielraum gedeutet werden. Zur Erinnerung: Schon auf dieser ersten Stufe ist die Meinungsfreiheit des sich Äußernden zu berücksichtigen, bei mehreren möglichen Auslegungsmethoden ist meinungsfreundliche Auslegungsvariante zugrunde zu legen (vgl. auch Kahl/Ohlendorf, JuS 2008, 682, 684)
Ist der Sinngehalt der Äußerung ermittelt, erfordert die Feststellung einer Beleidigung i.S.d. § 185 StGB weiterhin grundsätzlich eine Abwägung von Meinungsfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht. Der strafrechtliche Schutz der persönlichen Ehre darf nicht zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG führen, zugleich muss ein hinreichender Schutz des Persönlichkeitsrechts gleichwohl gewährleistet sein. Mit den Worten des BVerfG:
„Die Belange der Meinungsfreiheit finden demgegenüber vor allem in § 193 StGB Ausdruck, der bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen eine Verurteilung wegen ehrverletzender Äußerungen ausschließt und – vermittelt über  § 823 Absatz 2 BGB – auch im Zivilrecht zur Anwendung kommt. Diese Vorschriften tragen dem Umstand Rechnung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Nach  Artikel 2 Absatz 1 GG wird es durch die verfassungsmäßige Ordnung einschließlich der Rechte anderer beschränkt. Zu diesen Rechten gehört auch die Freiheit der Meinungsäußerung aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG. Auch diese ist nicht vorbehaltlos garantiert. Sie findet nach Artikel 5 Absatz 2 GG ihre Schranken unter anderem in den allgemeinen Gesetzen und in dem Recht der persönlichen Ehre (…)“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 26, Nachweise im Zitat ausgelassen).
Die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter kann allerdings im Einzelfall entbehrlich sein – dies insbesondere dann, wenn ein Fall von Schmähkritik vorliegt. Schmähkritik liegt vor, „wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 29).
Einen solchen Fall von Schmähkritik hatte das KG Berlin nun abgelehnt, der Sachbezug insbesondere der Äußerung „Pädophilen-Trulla“ wurde ausdrücklich betont (a.a.O.). Hier kann die Prüfung nun allerdings nicht stehen bleiben. Denn: Dass eine Äußerung keine Schmähkritik darstellt, heißt noch nicht, dass es sich auch nicht um eine strafbare Beleidigung handelt. Das BVerfG moniert in der aktuellen Entscheidung aber nun eine solche Gleichsetzung von Beleidigung und Schmähkritik:
„Es mag die im Ausgangsverfahren vertretene Auffassung der Beschwerdeführerin gewesen sein, dass es sich bei der Äußerung um Schmähkritik handele. Dies dispensiert aber das Fachgericht nicht davon, bei Nichtvorliegen einer besonderen Anforderungen unterworfenen Schmähkritik die einfache Beleidigung, die eine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen erfordert, in Betracht zu ziehen und zu prüfen. Vorliegend hat sich das Fachgericht aufgrund einer fehlerhaften Maßstabsbildung, die eine Beleidigung letztlich mit der Schmähkritik gleichsetzt, mit der Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls nicht auseinandergesetzt. Hierin liegt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin. Bereits dieser – praktisch vollständige – Abwägungsausfall muss zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung führen.“ (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20, Rn. 45 f.)
Das Kammergericht hätte mithin nach der Ablehnung einer Schmähkritik noch eine weitere Abwägung der betroffenen Rechtsgüter – Meinungsfreiheit und Allgemeines Persönlichkeitsrecht – vornehmen müssen. Schon die Tatsache, dass dies nicht erfüllt ist, stellt nach Ansicht des BVerfG eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin dar und führt daher zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde. Welche Punkte in die vorzunehmende Abwägung mit einzubeziehen sind, ist im Beschluss des BVerfG unter den Randnummern 30 ff. nachzulesen.


III. Was aus der Entscheidung mitzunehmen ist
Was Klausur- und Examenskandidaten aus der Entscheidung mitnehmen sollten, lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Schmähkritik und strafrechtlich relevante Beleidigung sind keine Synonyme. Die Ablehnung des Vorliegens von Schmähkritik befreit nicht von der Notwendigkeit einer Abwägung der betroffenen Rechtsgüter. Die Entscheidung enthält damit wenig grundlegend Neues. Sie sollte aber allemal als Anlass genommen werden, die Grundsätze der Meinungsfreiheit, des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Verhältnisses zueinander zu wiederholen. Da strafrechtliche Erwägungen in Klausuren hier oft den Aufhänger bieten, sollten auch die §§ 185 ff. StGB in ihrer Relevanz nicht unterschätzt werden.

03.02.2022/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2022-02-03 14:33:112022-08-03 08:36:07Neues zur Schmähkritik – Das BVerfG entscheidet zu Hasskommentaren bei Facebook
Alexandra Ritter

Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG (Teil 2)

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Nach dem ersten Teil der Besprechung des Urteils des BVerfG zur sog. Bundesnotbremse im Hinblick auf Kontaktbeschränkungen, hier nun der zweite Teil, der die Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen in den Blick nimmt.
II. Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG geschützte Fortbewegungsfreiheit ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass die Beschwerdeführer als natürliche Personen vom Schutzbereich umfasst sind.
Der sachliche Schutzbereich bezieht sich auf die „im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen […]. Das Grundrecht gewährleistet allerdings von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenzt und überall hin bewegen zu können […]. Die Fortbewegungsfreiheit setzt damit in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Subjektiv genügt ein darauf bezogener natürlicher Wille […].“ (Rn. 241)
Der Schutzbereich der Fortbewegungsfreiheit ist somit eröffnet.
b) Eingriff
aa) Fortbewegungsfreiheit
Ein Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit liegt vor, „wenn die betroffene Person durch die öffentliche Gewalt gegen ihren Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum, der ihr an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist, aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen zu verlassen […].“ (Rn. 243)
Die Regelung des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG wirkt zunächst jedoch psychisch und nicht physisch. Zu dieser Eingriffskonstellation nimmt das BVerfG ausführlich Stellung. Im Einzelnen:
„Für den Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist konstitutiv, dass die Betroffenen durch die öffentliche Gewalt gegen ihren Willen daran gehindert werden, einen Ort oder Raum, der ihnen an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist, aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen zu verlassen. […] In notwendiger Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit […] können aber auch staatliche Maßnahmen in die Fortbewegungsfreiheit eingreifen, die auf den Willen des Betroffenen zur Ausübung der Fortbewegungsfreiheit in vergleichbarer Weise wirken wie bei unmittelbarem Zwang. Hebt staatlich veranlasster körperlich wirkender Zwang die an sich tatsächlich und rechtlich bestehende Möglichkeit auf, von der Fortbewegungsfreiheit Gebrauch zu machen, handelt es sich stets um einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Regelmäßig genügt dafür aber auch bereits, dass solcher Zwang angedroht wird oder ein Akt der öffentlichen Gewalt die rechtliche Grundlage für die Anwendung derartigen Zwangs schafft […]. Dementsprechend kann in die Fortbewegungsfreiheit auch durch allein psychisch vermittelten Zwang eingegriffen werden. Um einen gegen den Willen auf Ausübung der Fortbewegungsfreiheit gerichteten staatlichen Eingriffsakt annehmen zu können, bedarf es einer davon ausgehenden Zwangswirkung, die nach Art und Ausmaß einem unmittelbar wirkenden physischen Zwang vergleichbar ist […]. Ob eine vergleichbare Zwangswirkung gegeben ist, richtet sich nach den konkreten tatsächlichen und rechtlichen Umständen. Für einen Eingriff können staatlich angeordnete Verbote genügen, einen bestimmten Ort oder Bereich nicht ohne Erlaubnis zu verlassen […].“ (Rn. 246)
Die Ausgangsbeschränkungen vermitteln psychisch einen Zwang, sie einzuhalten und von der Fortbewegungsfreiheit keinen Gebrauch zu machen (Rn. 247). Bezüglich der Vergleichbarkeit der Zwangswirkung mit unmittelbar physisch wirkendem Zwang, stellt das BVerfG zum einen darauf ab, dass ein Verstoß gegen die Ausgangsbeschränkungen mit physisch wirkendem Zwang im Rahmen des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts durchsetzbar ist – das allein genügt aber nicht, denn „ansonsten würde sich Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG wegen der Möglichkeit, mit gefahrenabwehrrechtlichen Maßnahmen auf jeden Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung zu reagieren, zu einer Art Übergrundrecht wandeln.“ (Rn. 248)
Deshalb hält es zum anderen fest, dass das verbotene Verhalten selbst einen deutlichen Bezug zur Fortbewegungsfreiheit aufweist, indem es für ein knappes Drittel der Tageszeit verboten war, sich außerhalb einer Wohnung aufzuhalten (Rn. 248). Die Vergleichbarkeit sei somit gegeben.
bb) Freiheitsentziehung gem. Art 104 Abs. 2 GG
Die Schwelle der Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 104 Abs. 2 GG wurde durch § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nach Auffassung des BVerfG nicht überschritten (Rn. 250). Eine Freiheitsentziehung liegt vor, „wenn die Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird, was eine besondere Eingriffsintensität und grundsätzlich eine nicht nur kurzfristige Dauer der Maßnahme voraussetzt […]“ (Rn. 250). Dadurch dass der Ort – unter Wahrung der geltenden Kontaktbeschränkungen und soweit es sich um eine Wohnung oder Unterkunft handelte – frei ausgewählt werden konnte und die Maßnahme auf Zeiten geringer Mobilität beschränkt war, ist die Schwelle zur Freiheitsentziehung nicht überschritten (Rn. 250).
c) Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Die Fortbewegungsfreiheit unterliegt der Schranke von Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit von § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG
In Bezug auf die formelle Verfassungsmäßigkeit gelten die Ausführungen zu den Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Erneut sei an dieser Stelle auf die Darstellung der Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und mit dem Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG verzichtet. Die Vereinbarkeit wird vom BVerfG bejaht.
(1) Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch ein Gesetz
Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG gestattet den Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit auf Grund eines Gesetzes. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG greift als selbst vollziehendes Gesetz jedoch unmittelbar ohne weiteren Vollzugsakt in den Schutzbereich ein. Eine enge Wortlautauslegung der Schranken würde dazu führen, dass Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit durch solche selbst vollziehenden Gesetze stets materiell verfassungswidrig sind.
Das BVerfG geht jedoch nicht von diesem engen Schrankenbegriff aus. Es erkennt an, dass der Wortlaut auf ein kompetenzielles Verständnis der Schranken (i.S.e. Verwaltungsvorbehalts), hindeuten kann (Rn. 268). Dagegen argumentiert es dennoch wie folgt:
„Wenn aber Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG auch auf selbstvollziehende Maßnahmen des Gesetzgebers Anwendung findet, obwohl diese für sich genommen nicht unmittelbar körperliche Zwangswirkung entfalten, ist es konsequent, dass auch ein solcher legislativer Grundrechtseingriff der Schrankenregelung des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG genügen kann.“ (Rn. 268)
Weiter führt es dazu aus:
„Nichts spricht dafür, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG nach ihrem Zweck gegenüber dem Gesetzgeber ein absolutes, uneinschränkbares Recht begründen soll. Wird der Gesetzgeber selbst unmittelbar an dieses Grundrecht gebunden, muss er umgekehrt auch von der vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeit Gebrauch machen können. Der Schrankenvorbehalt steht dem nicht entgegen. Bei Eingriffen in die Fortbewegungsfreiheit unmittelbar durch Gesetz droht kein mit dem Schutzzweck der Schranken unvereinbarer Verlust an Rechtsschutz. Die gesetzliche Anordnung des Freiheitseingriffs schafft keine Lage, die die Schutzmechanismen des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz und Satz 2 GG auslösen müsste. Teleologische Gründe sprechen daher bei einem erweiterten Eingriffsverständnis dagegen, die Schrankenregelungen in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kompetenziell als Verwaltungsvorbehalt auszulegen.“ (Rn. 272)
(Zusätzlich nimmt das BVerfG eine gesetzeshistorische Betrachtung der Schranken vor. Diese ist nach Auffassung des BVerfG nicht nur unergiebig – in der Klausursituation ist eine Auslegung anhand der Gesetzmaterialien im Regelfall nicht möglich. Daher sei auf die Darstellung der diesbezüglichen Ausführungen verzichtet.)
Damit standen die Schranken der Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 GG den als selbstvollziehendes förmliches Gesetz geregelten Ausgangsbeschränkungen aus § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nicht entgegen.
(2) Verhältnismäßigkeit
(a) Legitimer Zweck
Bezüglich des verfassungsrechtlich legitimen Zwecks ergeben sich keine Unterschiede zu den Ausführungen bezüglich der Kontaktbeschränkungen.
(b) Geeignetheit
Bei der Geeignetheitsprüfung der Ausgangsbeschränkungen spielt der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers eine wichtige Rolle. Nach Auffassung des BVerfG lagen nachvollziehbare Gründe für die Annahme des Gesetzgebers vor, dass durch die Ausgangsbeschränkungen mittelbar auch die Anzahl und Dauer privater Zusammenkünfte reduziert werden kann, indem die An- und Abreisezeiten außerhalb der betroffenen Zeiträume liegen müssen (Rn. 277).
Auch sind die fachwissenschaftlichen Grundlagen, auf die sich die Annahmen des Gesetzgebers stützen nicht zu beanstanden (Rn. 278). Diese gehen davon aus, dass Infektionsschutzmaßnahmen in Innenräumen wie Abstandhalten, das Tragen von Masken, Lüften und allgemeine Hygieneregeln dem Infektionsrisiko nur eingeschränkt entgegenwirken können, dies aber zur Nachtzeit im privaten Rückzugsbereich nur eingeschränkt durchsetzbar ist (Rn. 278). Zudem lagen wissenschaftliche Erkenntnisse vor, nach denen nächtliche Ausgangsbeschränkungen zu einer Absenkung des R-Wertes (der R-Wert gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person in einer bestimmten Zeiteinheit im Mittel ansteckt) um 0,1 führen (Rn. 279).
Damit erfüllt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG die Anforderung der Geeignetheit.
(c) Erforderlichkeit
Als alternative Maßnahme kommt für die Ausgangsbeschränkungen die Kontrolle privater Zusammenkünfte zur Nachtzeit unter Verzicht auf die Ausgangsbeschränkungen in Betracht (Rn. 285). Damit diese Kontrolle dem Infektionsrisiko in Innenräumen mit gleicher Wirksamkeit entgegenwirken können, müssten sie zum einen flächendecken angelegt sein und zum anderen müssten die privaten Innenräume durch ein Betreten der Vollzugsbehörden kontrolliert werden (Rn. 285). Damit verbunden wären dann wiederum schwerwiegende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte sowie in die Schutzsphäre von Art. 13 GG. Kontrollen wären somit keine mildere Maßnahme (Rn. 285). Die Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG waren somit auch erforderlich.
(d) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Wie auch bei den Kontaktbeschränkungen erkennt das BVerfG in den Ausgangsbeschränkungen einen schwerwiegenden Eingriff, der sich auf unterschiedliche Weisen auswirken kann (Rn. 292). Das Gewicht des Eingriffs wird auch durch die Bußgeldvorschrift des § 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG erhöht (Rn. 294).
Allerdings enthielt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 lit. a bis g IfSG zahlreiche Ausnahmeregelungen, die die Eingriffsintensität minderten (Rn. 296). Insbesondere die Härtefallklausel nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 lit. f IfSG „stand einer grundrechtsfreundlichen Auslegung und Anwendung offen, die ermöglichte, zwischen dem Lebens- und Gesundheitsschutz und weiteren legitimen Belangen im Einzelfall abzuwägen.“ (Rn. 296)
Im Übrigen wirken sich die tageszeitliche Begrenzung der Ausgangsbeschränkungen, die Befristung der Regelung und deren am Pandemiegeschehen flexible Ausrichtung mildernd aus (Rn. 297). Durch diese Mechanismen hat der Gesetzgeber nicht dem Lebens- Und Gesundheitsschutz sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems einseitig Vorrang eingeräumt, sondern einen angemessenen Interessenausgleich bewirkt (Rn. 299). Insbesondere die Härtefallklausel, die die Berücksichtigung besonderer Umstände im Einzelfall ermöglichte, trug dazu bei (Rn. 300).
d) Zwischenergebnis
28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2IfSG stellt einen Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG dar. Der Eingriff ist jedoch verfassungsmäßig gerechtfertigt.
2. Familien- und Ehegrundrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Zum Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG s.o.
b) Eingriff
Im vorliegenden Fall war es manchen der Beschwerdeführer nicht möglich, eine Zusammenkunft mit Ehe- oder Lebenspartnern so zu gestalten, dass die Anreise vor Einsetzen der Ausgangsbeschränkungen erfolgte. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG griff dadurch in das subjektive Recht dieser Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 GG ein (Rn. 251).
c) Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG unterliegen lediglich verfassungsunmittelbaren Schranken.
Bezüglich der Verhältnismäßigkeit gilt weitestgehend das zur Fortbewegungsfreiheit Gesagte. Zu ergänzen ist, dass der Eingriff durch die Beschränkung familiärer und partnerschaftlicher Kontakte an Gewicht gewinnt.
Allerdings enthielt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 lit. a bis g IfSG Ausnahmebestimmungen, sie sich gerade auf diese Kontakte auswirkten. Darauf stellte auch das BVerfG ab:
„Die Ausnahmen in Buchstabe c für die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts sowie in Buchtstabe d für die Durchführung unaufschiebbarer Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen oder Minderjähriger milderten die Intensität des Eingriffs vor allem in die Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ab. Das Zusammenwirken der genannten Ausnahmen kam unter anderem Alleinerziehenden in ihrer besonderen Belastungssituation entgegen (dazu oben Rn. 296).“ (Rn. 300)
So stellte das BVerfG auch hier im Ergebnis fest, dass der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt war.
3. Allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG
Auch der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ist eröffnet. Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt in der mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG korrespondierenden Bußgeldvorschrift § 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG (Rn. 252). Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt den Schranken von Art. 2 Abs. 1 GG. Auch der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG ist gerechtfertigt (Rn. 304).
 
C. Fazit
Die Frage nach der Vereinbarkeit von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit den Grundrechten ist also mit dem bekannten Prüfungsaufbau zu meistern. Innerhalb der Zulässigkeit ist insbesondere bei der Beschwerdebefugnis darauf zu achten, ob eine Rechtssatz- oder Urteilsverfassungsbeschwerde vorliegt. Das sind aber keine neuen Probleme, sondern gehören zum Standardwissen der Grundrechtsvorlesung.
Im Rahmen der Begründetheit ist dem dynamischen Pandemiegeschehen Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber hatte zum Zeitpunkt, in dem er die Maßnahmen mit § 28b IfSG geregelt hat, einen bestimmten Kenntnisstand bezüglich der Eigenarten der Corona-Pandemie. Die Prüfung muss sich auf diesen Kenntnisstand beziehen und aus der derzeitigen Perspektive vorgenommen werden. Hilfreich dabei ist der weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, der jedoch keinen „Freifahrtschein“ bewirkt. Die Maßnahmen müssen auf tragfähiger Grundlage beruhen, nachvollziehbar sein und dürfen nicht einseitig zulasten der geschützten Freiheitsrechte gehen.
Im Grunde sollte auch die Kenntnis dieser Grundsätze bereits bekannt sein – dieser Beitrag zeigt unter Bezug auf die Erwägungen des BVerfG, wie sie sich in der konkreten Prüfung niederschlagen.

15.12.2021/1 Kommentar/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2021-12-15 09:08:572021-12-15 09:08:57Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG (Teil 2)
Alexandra Ritter

Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Darstellung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 zu den durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG für einen Zeitraum von gut zwei Monaten eingefügten bußgeldbewehrten Kontaktbeschränkungen (Teil 1) sowie bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkungen (Teil 2) nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG zur Eindämmung der Corona-Pandemie, der sogenannten Bundesnotbremse.
Die Begutachtung von Sachverhalten unter Berücksichtigung des Pandemiegeschehens ist auch in den (Examens)Klausuren angekommen. Die Fallgestaltungen dazu sind vielfältig und können das Zivil- und Strafrecht, aber insbesondere das öffentliche Recht betreffen. So hat das BVerfG in dem Beschluss geprüft, inwiefern die Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG (bußgeldbewehrte Kontaktbeschränkungen) und nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG (bußgeldbewehrte Ausgangsbeschränkungen) in Freiheitsgrundrechte eingriffen und ob die Eingriffe gerechtfertigt waren. Die Prüfung fand im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde statt und betrifft eine klassische Prüfungskonstellation für Klausuren. Die Folgende Darstellung ordnet die wesentlichen Erwägungen des BVerfG in den Prüfungsaufbau ein. Die behandelten Aspekte können in der Klausur jedoch nicht nur rein grundrechtlich, sondern auch verwaltungsrechtlich oder staatsorganisationsrechtlich (bspw. im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle) eingekleidet werden. Im Übrigen soll der Schwerpunkt der Darstellung auf der Begründetheitsprüfung liegen. Zuvor werden aber auch einzelne Aspekte der Zulässigkeitsprüfung aufgegriffen.
Die Verweise auf Randnummern beziehen sich auf die Randnummern in der vom BVerfG veröffentlichten Fassung des Beschlusses, die unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/11/rs20211119_1bvr078121.html (letzter Abruf v. 9.12.2021) abrufbar ist. Zur besseren Übersichtlichkeit und Lesbarkeit wurden die Verweise auf Quellen innerhalb der Zitate aus dem Beschluss ausgespart.
A. Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
I. Beschwerdebefugnis
In der Zulässigkeitsprüfung liegt nur ausnahmsweise der Schwerpunkt der Prüfung. Die Beschwerdebefugnis sollte dennoch nicht zu knapp bearbeitet werden. Die Beschwerdebefugnis einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass eine Möglichkeit der Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist.
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Zunächst müssen der Beschwerdeführer substantiiert die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung darlegen. Die reine Behauptung der Verletzung eines Grundrechts genügt nicht. In seinem Beschluss stellte das BVerfG fest, dass nicht hinreichend dargelegt wurde, wie die Kontaktbeschränkungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG die Grundrechte aus Art. 11 Abs. 1 GG, Art. 8 GG, Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 1 Abs. 1 GG verletzen können. Bezogen auf diese Grundrechte hat das BVerfG die Möglichkeit einer Verletzung im konkreten Fall abgelehnt (Rn. 91 ff.)
Nicht abgelehnt hat das BVerfG aber die Möglichkeit einer Verletzung der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG durch die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG, sowie die Möglichkeit einer Verletzung der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 GG und Art. 2 Abs. 1 GG  durch die Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG.
2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen
Die Beschwerdeführer machten die Verletzung eigener Rechte und damit Selbstbetroffenheit geltend. Zudem traten die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen ab der Überschreitung des Inzidenzwertes von 100 ein, sodass keine Durchführungsmaßnahme notwendig war. Damit waren die Beschwerdeführer unmittelbar betroffen.
Gegenwärtige Betroffenheit setzt voraus, dass die angegriffene Maßnahme bereits Rechtswirkung entfaltet und sich noch nicht erledigt hat. Bei zwei der Beschwerdeführer lag im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde die Inzidenz noch unter dem die Maßnahmen auslösenden Schwellenwert. Das BVerfG stellte hierzu fest:
„Jedoch bestand bei beiden Beschwerdeführenden nicht lediglich eine vage Aussicht, dass sie irgendwann einmal in der Zukunft von den angegriffenen Regelungen betroffen sein könnten […]. Der Schwellenwert von 100 wurde am Wohnort der Beschwerdeführenden zu 1) und 2) schon ab 27. April bis einschließlich 3. Mai 2021 überschritten. Das zum maßgeblichen Zeitpunkt dynamische Infektionsgeschehen ließ auch für sie zeitnah nach Inkrafttreten des Gesetzes die Geltung der Beschränkungen erwarten. Das genügt für ihre gegenwärtige Betroffenheit in eigenen Rechten.“ (Rn. 86)
II. Rechtsschutzbedürfnis
Zum Rechtsschutzbedürfnis sind in aller Regel keine besonderen Ausführen anzustellen; in den meisten Fällen genügt die positive Feststellung, dass es vorliegt. In manchen Konstellationen ist es jedoch angezeigt, das Rechtsschutzbedürfnis ausführlicher darzulegen. Denn das Rechtsschutzbedürfnis muss auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVerfG vorliegen. Dem könnte hier entgegenstehen, dass in diesem Zeitpunkt die angegriffenen Regelungen nicht mehr galten (die Maßnahmen waren beschränkt auf einen Zeitraum bis zum 20. Juni 2021) oder dass die Inzidenzen in den örtlichen Bezugsräumen gesunken sind.
Trotz Erledigung kann das Rechtsschutzinteresse aber fortbestehen, „wenn andernfalls entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt […].“ (Rn. 98)
Das Pandemiegeschehen war weder mit Sinken der Inzidenzwerte noch mit Ablauf der Maßnahmen beendet, sodass auch in Zukunft „Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen werden [könnten], die sich in der Regelungstechnik und den Regelungsinhalten an den hier angegriffenen Vorschriften orientieren.“ (Rn. 99)
Damit besteht das Rechtsschutzinteresse fort.
III. Subsidiarität und Rechtswegerschöpfung
Bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde sind zuletzt noch Ausführungen bezüglich der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung angezeigt.
Nach Auffassung des BVerfG ist auch gegen eine Rechtsnorm der Rechtsschutz vor den Fachgerichten vorrangig zur Verfassungsbeschwerde zu ersuchen, im Wege der Feststellungs- oder Unterlassungsklage (Rn. 101). Dieses Erfordernis kann aber entfallen, wenn die betreffenden Normen entweder keine klärungsbedürftigen einfachrechtlichen Fragen beinhalten oder solche zwar beinhalten, aber das BVerfG bei seiner verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht auf deren Beantwortung angewiesen ist (vgl. Rn. 101).
Von letzterem ging das BVerfG hier aus (Rn. 103). Daher stehen die Subsidiarität und das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde hier nicht entgegen.
B. Zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Für die Prüfung der Begründetheit bietet es sich an, eine Aufteilung nach den einzelnen Normen und den damit verbundenen Maßnahmen vorzunehmen. Dies ermöglicht einen klaren und strukturierten Aufbau, der dem Leser und Korrektor eine bessere Nachvollziehbarkeit bietet. Die Prüfung der einzelnen Maßnahme erfolgt dann im Rahmen des klassischen Aufbaus nach Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung.
I. Kontaktbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG
Die Beschwerdeführer könnten durch die Bestimmung des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG in ihren Grundrechten verletzt sein. In Betracht kommt eine Verletzung der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG.
1. Familien- und Ehegrundrecht gem. Art. 6 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Den Gewährleistungsgehalt von Art. 6 Abs. 1 GG beschreibt das BVerfG wie folgt:
„Das Ehe- und das Familiengrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisten ein Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen. Vom Familiengrundrecht erfasst sind die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern, unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind, wie auch weitere spezifisch familiäre Bindungen, wie sie zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und zwischen nahen Verwandten auch über mehrere Generationen hinweg bestehen können.“ (BVerfG, Pressemitteilung Nr. 101/2021 vom 30. November 2021)
Gewährleistet wird ein „Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen“ (Rn. 108). Damit ist der Schutzbereich eröffnet.
b) Eingriff
In diesen Schutzbereich müsste durch die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG eingegriffen worden sein. Zu dem Eingriff führt das BVerfG aus:
„Die Regelung machte vollstreckungsfähige Vorgaben [§ 73 Abs. 1a Nr. 11b IfSG] für private Zusammenkünfte sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum. Damit beschnitten die Kontaktbeschränkungen die Möglichkeiten, über die Ausgestaltung sowohl des familiären als auch des ehelichen Zusammenlebens selbst frei zu entscheiden. […] In unterschiedlichen Haushalten lebenden Kindern verbot das Gesetz, gemeinsam ihre Eltern zu besuchen. Erst recht schlossen die Kontaktbeschränkungen im Grundsatz das Zusammenkommen von mehr als drei in die Schutzbereiche fallenden Personen aus. Zulässig blieb insoweit lediglich der Kontakt über Mittel der Fernkommunikation.“ (Rn. 109)
Damit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 I GG vor.
c) Rechtfertigung
Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Art. 6 Abs. 1 GG enthält keinen Schrankenvorbehalt und unterliegt damit lediglich verfassungsimmanenten Schranken (Rn. 116, wobei das BVerfG irrtümlicherweise von verfassungsunmittelbaren Schranken spricht). Das eingreifende Gesetz, das einem anderen Verfassungsgut dienen müsste, muss auch formell und materiell verfassungsgemäß sein.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Der Bund hat gem. Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 19 GG die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten. Damit hatte er die Gesetzgebungskompetenz für Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens im Zusammenhang mit der ansteckenden Krankheit Covid-19 (Rn. 118). Fehler im Gesetzgebungsverfahren und in der Form liegen nicht vor. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war formell verfassungsmäßig.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
An dieser Stelle geht das BVerfG zunächst auf die von den Beschwerdeführern gerügten Umstände ein, dass die gewählte Regelungsmechanik gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoße und das Bestimmtheitsgebot i.S.v. Art 103 Abs. 2 GG nicht gewahrt sei. Beide Aspekte verneint das BVerfG. Auf eine Darstellung der Prüfung sei an dieser Stelle verzichtet, um eine ausführliche Darstellung der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermöglichen.

  • 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG müsste auch verhältnismäßig sein. Der Gesetzgeber muss dazu mit dem einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgen, das Gesetz muss geeignet sein diesen Zweck zu erreichen und dazu erforderlich sein und verhältnismäßig im engeren Sinne sein.

(1) Legitimes Ziel
Der Gesetzgeber müsste zunächst einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt haben. Hierzu hält das BVerfG fest:
„Jedenfalls bei Gesetzen, mit denen der Gesetzgeber von ihm angenommenen Gefahrenlagen für die Allgemeinheit oder für Rechtsgüter Einzelner begegnen will, erstreckt sich die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht auch darauf, ob die dahingehende Annahme des Gesetzgebers hinreichend tragfähige Grundlagen hat […}. Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung ist also sowohl die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen einer solchen Gefahrenlage als auch die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese abgeleitet hat oder ableiten durfte. Allerdings belässt ihm die Verfassung für beides einen Spielraum, der vom Bundesverfassungsgericht lediglich in begrenztem Umfang überprüft werden kann […]. (Rn. 170 f.)
Hier bezweckte der Gesetzgeber den Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit die bestmögliche Krankenversorgung sicherzustellen (Rn. 174). Mit den Maßnahmen wollte der Gesetzgeber „ausdrücklich seine in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnde Schutzpflicht erfüllen (vgl. BTDrucks 19/28444, S. 8). Dies umfasst den Schutz vor sämtlichen mit einer SARS-CoV-2-Infektion einhergehenden Gesundheits- und Lebensgefahren, insbesondere vor schweren Krankheitsverläufen und Langzeitfolgen (Long Covid).“ (Rn. 174).
Zur Bedeutung dieser Belange führt das BVerfG aus:
„Sowohl der Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke […]. Aus Art. 2 Abs. 2 GG, der den Schutz des Einzelnen vor Beeinträchtigungen seiner körperlichen Unversehrtheit und seiner Gesundheit umfasst […], kann zudem eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen umfasst […].“ (Rn. 176).
Die Annahmen des Gesetzgebers, die ihn zu seinem Tätigwerden veranlassten, stützten sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Robert Koch-Instituts, das das Pandemiegeschehen wissenschaftlich beobachtet und analysiert (Rn. 178). Dessen Einschätzungen schlossen sich mehrere wissenschaftliche Fachgesellschaften an (Rn. 181). Der Gesetzgeber stützte sich somit auf eine tragfähige Grundlage.
(2) Geeignetheit
Die Maßnahmen des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG müssten zur Erreichung des verfassungsrechtlich legitimen Zwecks geeignet sein. Zu den Anforderungen an die Geeignetheit stellt das BVerfG fest:
„Verfassungsrechtlich genügt für die Eignung bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen […]. Bei der Beurteilung der Eignung einer Regelung steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen […].“ (Rn. 185).
Dieser Spielraum ist jedoch nicht unbeschränkt. Zwar dürfen bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen (Rn. 185). Hier „war und ist insoweit gesicherte Erkenntnislage, dass SARS-CoV-2 über respiratorische Sekrete übertragen wird“ (Rn. 193).  Die sachkundigen Dritten führten aus, „dass jede Einschränkung von Kontakten zwischen Menschen einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung von Virusübertragungen leistet“ (Rn. 195).
Die Kontaktbeschränkungen gem. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG waren somit zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung geeignet.
Auch wird durch geringere Infektionszahlen die Zahl der intensivpflichtig zu behandelnden Patienten verringert, sodass die Kontaktbeschränkungen auch geeignet sind, zur Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems beizutragen (Rn. 197).
(3) Erforderlichkeit
Die mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG getroffene Maßnahme müsste erforderlich sein. Das ist der Fall, wenn kein milderes aber gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht. Auch hierbei kommt dem Gesetzgeber Spielraum zu, „die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren“ (Rn. 204). Als alternative Maßnahmen kommen der Schutz durch Impfung und die Ausgestaltung von Verhaltensregeln bei Kontakten in Betracht.
Im Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war allerdings lediglich ein sehr geringer Teil der Bevölkerung doppelt geimpft und aufgrund der zu dieser Zeit herrschenden Impfstoffknappheit war mit einer schnell steigenden Impfquote nicht zu rechnen (Rn. 206). Der Schutz vor Infektionen mit SARS-CoV-2 bzw. vor einer Transmission der Erreger allein durch die Impfung erreicht damit nicht dieselbe Wirksamkeit (Rn. 206).
Zur Alternative der Ausgestaltung von Verhaltensregeln bei Kontakten führt das BVerfG aus: „Verhaltensregeln für ansonsten personell unbeschränkte Kontakte stellten ebenfalls kein gleich wirksames Mittel dar. Zwar können nach gesicherter Erkenntnis Vorkehrungen getroffen werden, um zwischenmenschliche Kontakte möglichst infektionsarm verlaufen zu lassen. Das ordnungsgemäße Tragen von Mund und Nase bedeckenden Masken kann das Infektionsrisiko […] ebenso reduzieren wie das Abstandhalten, Hygienemaßnahmen und das Lüften von Räumen. Gesicherte Erkenntnisse darüber, dass das Infektionsrisiko bei der Einhaltung solcher Regeln gleichermaßen ausgeschlossen wäre, wie bei dem gänzlichen Verbot menschlicher Ansammlungen, existieren dagegen nicht.“ (Rn. 210)
Damit stellen Verhaltensregeln keine gleich wirksame Alternative dar. Die mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG getroffenen Regelungen waren erforderlich.
(4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung dürfte nicht außer Verhältnis zur Schwere des damit verbundenen Eingriffs liegen (Rn. 216). In den Worten des BVerfG:
„Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt […]. Umgekehrt wird gesetzgeberisches Handeln umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können […].“ (Rn. 216)
Die Kontaktbeschränkungen führten dazu, dass es den Betroffenen verwehrt war,
„sich in frei gewählter Weise zusammenzufinden. Durch die Anknüpfung an einen Haushalt schlossen die Kontaktbeschränkungen auch persönliche Begegnungen zwischen Personen mit besonders nahen familiären, durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Bindungen aus, wie typischerweise im Eltern-Kind-Verhältnis, wenn es sich um Kinder in einem Alter über 14 Jahren handelte. Das Verbot privater Zusammenkünfte galt zudem auch in Konstellationen, in denen regelmäßig die persönliche Begegnung zwischen in verschiedenen Haushalten lebenden nahen Familienangehörigen besondere Bedeutung hat, wie dies etwa bei dem persönlichen Kontakt zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern beziehungsweise einem Elternteil der Fall sein kann. So ließ § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG etwa den zeitgleichen Besuch von erwachsenen, in verschiedenen Haushalten lebenden Geschwistern bei einem in einem eigenen Haushalt lebenden Elternteil nicht zu.“ (Rn. 220)
Das BVerfG geht in einem ersten Schritt somit von einem deutlich schwerwiegenden Eingriff aus. In einem zweiten Schritt geht es dann auf die Umstände ein, die die Intensität des Eingriffs mildern. Relevant sind hier die vom Gesetzgeber getroffenen Ausnahmeregelungen. So wird die Intensität des Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG insbesondere dadurch gemildert, dass für Personen eines Haushalts untereinander keine Beschränkungen galten (Rn. 226). Auch dass eine zusätzliche Person mit allen zu einem Haushalt gehörenden agieren durfte, sieht es als Erleichterung insbesondere für Alleinerziehende (Rn. 226). Zudem blieben Kontakte zur Ausübung des Sorge- oder Umgangsrechts blieben ohnehin vollumfänglich gestattet, § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz IfSG (Rn. 226). Außerdem sei die Eingriffsintensität „durch den dynamisch am Pandemiegeschehen ausgerichteten und regional differenzierenden Regelungsansatz in § 28b IfSG erheblich begrenzt“ und auch die zeitliche Befristung des Gesetzes wirke sich mindern aus (Rn. 226).
Auf der anderen Seite spricht das BVerfG den verfolgten Zwecken des Lebens- und Gesundheitsschutzes und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems „überragende Bedeutung“ (Rn. 227) zu. Angesichts des dynamischen Infektionsgeschehens bestand im maßgeblichen Zeitpunkt ein dringender Handlungsbedarf (Rn. 227 f.). Insbesondere ließ „[d]er Blick in teilweise noch stärker vom Pandemiegeschehen betroffene Nachbarstaaten […] eine weitergehende Eskalation befürchten“ (Rn. 229). Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, „dass es darauf ankam, die Dynamik des Infektionsgeschehens möglichst umfassend und rasch zu durchbrechen, um die Bevölkerung vor Gefahren für Leib und Leben durch ein außer Kontrolle geratenes Infektionsgeschehen und eine dadurch bewirkte Funktionsunfähigkeit des Gesundheitssystems zu bewahren.“ (Rn. 230).
Indem der Gesetzgeber Ausnahmeregelungen getroffen und die Kontaktbeschränkungen an sich begrenzt ausgestaltet hat, hat er die kollidierenden Verfassungsgüter in einen verfassungsgemäßen Ausgleich gebracht (Rn. 232). Die Maßnahme der Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war verhältnismäßig im engeren Sinne.
d) Zwischenergebnis

  • 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG greift in die Rechte der Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 GG ein. Der Eingriff ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

2. Allgemeine Handlungsfreiheit
a) Schutzbereich
Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass der persönliche Schutzbereich für die Beschwerdeführer als natürliche Personen eröffnet ist.
Der sachliche Schutzbereich umfasst „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt […]. Selbstverständlich erfasst das auch das Zusammentreffen mit beliebigen anderen Menschen.“ (Rn. 112)
Damit ist der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG eröffnet.
b) Eingriff
Indem die Kontaktbeschränkungen solche Zusammentreffen unter Bußgeldandrohung beschnitten, wurde dadurch in die allgemeine Handlungsfreiheit „über die Beeinträchtigung von Art. 6 Abs. 1 GG hinausgehend“ (Rn. 112) eingegriffen.
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt den Schranken von Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG. Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Im Ergebnis erkennt das BVerfG aus den oben genannten Gründen auch den Eingriff in die Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG als gerechtfertigt an. Zudem sieht es die ergänzende Bußgeldvorschrift als gerechtfertigt an (Rn. 237).
3. Allgemeines Persönlichkeitsrecht
a) Schutzbereich
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass der persönliche Schutzbereich für die Beschwerdeführer als natürliche Personen eröffnet ist.
Zum sachlichen Schutzbereich führt das BVerfG aus:
„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet solche Elemente der Persönlichkeitsentfaltung, die – ohne bereits Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes zu sein – diesen in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen […]. Danach schützt es zwar nicht jegliche Zusammenkunft mit beliebigen anderen Personen, bietet jedoch Schutz davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden und die einzelne Person zu Einsamkeit gezwungen wird. Anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, ist für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung.“ (Rn. 113)
Auch dieser Schutzbereich ist eröffnet.
b) Eingriff
Die Maßnahmen könnten in diesen Aspekt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts insbesondere dann eingreifen, wenn alleinstehende und -lebende Personen betroffen sind. Bezüglich eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergänzt das BVerfG:
„Für sie [gemeint sind die alleinstehenden- und lebenden Personen] konnte es während der Geltungsdauer der Beschränkungen schwierig sein, überhaupt anderen Menschen zu begegnen. Insoweit halfen die Ausnahmen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz IfSG nicht. Sie waren auf familiäre Beziehungen ausgerichtet und konnten deshalb nicht verhindern, dass alleinstehende Personen Gefahr liefen, eine Zeit besonderer Isolation zu erleben. Sie waren jeweils darauf angewiesen, eine andere Person zu finden, die sich gerade mit ihnen treffen wollte und dafür bereit war, auf alternative Begegnungsmöglichkeiten zu verzichten. Für alleinstehende und -lebende Menschen konnte das die Möglichkeit der Begegnung mit anderen Menschen so sehr erschweren, dass dies vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gerechtfertigt werden musste.“ (Rn. 114)
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Auch hier sei auf die obigen Ausführungen verwiesen. Innerhalb der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist freilich auf die Schwere des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht abzustellen. Wie bei Art. 6 Abs. 1 GG stellte das BVerfG fest, dass der Eingriff besonders schwer wiegt, insbesondere für alleinstehende oder –lebende Personen (Rn. 221). Auch die Tatsache, dass das öffentliche Leben im Übrigen stark eingeschränkt war das Risiko der Vereinsamung bestand, führte zu einer erheblichen Schwere des Eingriffs (Rn. 221).
Im Ergebnis sei der Eingriff aus den oben aufgeführten Erwägungen jedoch gerechtfertigt.
4. Zwischenergebnis zu den Kontaktbeschränkungen
Die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG greifen in die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, in die allgemeine Handlungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Die Eingriffe sind jedoch verfassungsmäßig gerechtfertigt.
 
Teil 2 dieses Beitrags, der sich mit der Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen befasst, folgt kommende Woche hier auf www.juraexamen.info.

09.12.2021/1 Kommentar/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2021-12-09 11:33:052021-12-09 11:33:05Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG
Dr. Lena Bleckmann

Der Entschädigungsanspruch bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und seine Vererblichkeit

Deliktsrecht, Erbrecht, Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Zivilrecht

Im Juni 2017 verstarb Altkanzler Helmut Kohl. In den Jahren zuvor hatte er einen Rechtsstreit gegen einen Autor geführt, der auf Grundlage von ursprünglich für die Memoiren Kohls geführten Interviews das Buch „Vermächtnis – die Kohl-Protokolle“ veröffentlichte. Kohl sah sich hierin falsch zitiert und machte insgesamt 116 Verletzungen seines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gerichtlich geltend und verlangte hierfür neben Unterlassung insbesondere Geldentschädigung. Eine Entschädigung in Höhe von 1.000.000 Euro sprach das LG Köln dem Altkanzler auch zu (LG Köln. Urt. v. 27.4.2017 – 14 O 323/15, BeckRS 2017, 125934). Vor Rechtskraft des Urteils verstarb Kohl allerdings, der Rechtsstreit wurde durch seine Witwe und Alleinerbin weitergeführt. Nun hat er ein Ende gefunden – der BGH hat die Klage mit Urteil vom 29.11.2021 (Az. VI ZR 258/18) mangels Vererblichkeit des Entschädigungsanspruchs in dieser Hinsicht abgewiesen (siehe PM Nr. 218/2021 v. 29.11.2021).
Diese topaktuelle Entscheidung sollte Anlass geben, sich mit dem Entschädigungsanspruch wegen Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG auseinanderzusetzen. Dieser ist bei Prüfern nicht unbeliebt, die Klausur- und Examensrelevanz dürfte durch die neue Entscheidung noch steigen. Der folgende Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die Prüfung und beleuchtet insbesondere die Frage der Vererblichkeit des Anspruchs.
I. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als absolutes Recht i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB
Nach § 823 Abs. 1 BGB ist derjenige, der vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht wird hier nicht ausdrücklich als Schutzgut genannt. Die Erweiterung des Tatbestands um „sonstige Rechte“ gewährleistet allerdings einen Schutz anderer absoluter Rechte über die Aufzählung hinaus. Einschränkend ist der Begriff des „sonstigen Rechts“ so zu verstehen, dass es sich um ein mit Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und Eigentum vergleichbar bedeutsames, absolutes Recht handeln muss (BeckOK BGB/Förster, § 12 Rn. 143). Dass hierzu auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht zählt, ist heute einhellig anerkannt (BeckOK BGB/Förster, § 823 Rn. 177; Schulze BGB, § 823 Rn. 42).
Neben dem Ersatz materieller Schäden kann auf Grundlage des § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG auch eine Geldentschädigung für einen entstandenen Nichtvermögensschaden erlangt werden. Voraussetzung ist allerdings, dass ein hinreichend schwerer Eingriff vorliegt und die Beeinträchtigung nicht auf andere Weise ausgeglichen werden kann (etwa BGH, Urt. v. 17.12.2013 – VI ZR 211/12, NJW 2014, 2029 (2033). Hierbei handelt es sich nicht im immateriellen Schadensersatz nach § 253 BGB. Vielmehr gründet der Entschädigungsanspruch unmittelbar auf dem Schutzauftrag des verfassungsrechtlich gewährleisteten Persönlichkeitsrechts (BeckOK BGB/Förster, § 12 Rn. 389). Dem Anspruch kommt dabei in erster Linie eine Genugtuungs- und Ausgleichsfunktion zu, wobei die Genugtuung im Vordergrund steht (vgl. BGH, Urt. v. 5.11.1994 – VI ZR 56/94, NJW 1995, 861 (865)).
II. Hinweise zur Prüfung des Anspruchs nach § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG
Die Prüfungsreihenfolge der Tatbestandsvoraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB gilt auch bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts – festzustellen sind mithin Rechtsgutsverletzung, Verletzungshandlung, haftungsbegründende Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden. Zur Feststellung, ob das Allgemeine Persönlichkeitsrecht betroffen ist, sind Kenntnisse aus dem Verfassungsrecht erforderlich, die von dort bekannten Fallgruppen gelten auch hier. Besondere Aufmerksamkeit bedarf bei der Prüfung des § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit. Denn das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist, wie das ebenfalls als „sonstiges Recht“ geschützte Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ein sog. Rahmenrecht. Rahmenrechte dienen als Auffangtatbestände dem Füllen von Schutzlücken (Brockmann/Künnen, JuS 2020, 910 (912)). Notwendigerweise unterliegt ihr Schutzbereich daher keiner festen Grenzziehung. Die hieraus folgende Weite führt dazu, dass nicht jedes den Schutzbereich betreffende Verhalten als rechtswidrig eingeordnet werden kann – anders als bei der Verletzung anderer von § 823 Abs. 1 BGB geschützter Rechtsgüter wird die Rechtswidrigkeit daher nicht durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert, sondern ist positiv festzustellen (MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 7). Hierzu ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, bei der aufseiten des Schädigers bestehende, schutzwürdige Interessen ebenso zu berücksichtigen sind, wie die Intensität des Grundrechtseingriffs aufseiten des Betroffenen. Diese ist unter Heranziehen der Sphärentheorie des BVerfG zu bestimmen (Brockmann/Künnen, JuS 2020, 910 (914)). Auch eine Wiederholung des Eingriffs kann eine besondere Schwere begründen (BeckOK BGB/Förster, § 12 Rn. 391).

Hinweis: Soweit hier Lücken bestehen, sollte der Streit zur Prüfung der Rechtswidrigkeit im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB (Stichwort Lehre vom Handlungs-/Erfolgsunrecht) wiederholt werden.

Aus dem Charakter des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Rahmenrecht folgt weiterhin seine Subsidiarität – speziellere Persönlichkeitsrechte sind daher vorrangig zu prüfen! (Brockmann/Künnen, JuS 2020, 910 (915))
III. Vererblichkeit des Entschädigungsanspruchs
Besteht der Entschädigungsanspruch nun, ist der Geschädigte aber verstorben, so wie es im Fall von Helmut Kohl geschehen ist, stellt sich die Frage nach dem Anspruchsübergang auf dessen Erben. Nach § 1922 Abs. 1 BGB geht mit dem Tode einer Person deren Vermögen als Ganzes auf den oder die Erben über.
Für eine Vererblichkeit des Entschädigungsanspruchs wurde diejenige des Schmerzensgeldes angeführt – seit der Abschaffung des § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. zum 1.7.1990 können Schmerzensgeldansprüche im Todesfalle auf die Erben übergehen. Bei abweichender Beurteilung im Rahmen des § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG soll ein Verstoß gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG vorliegen (siehe Nachweise bei BGH, Urt. v. 29.4.2014 – VI ZR 246/12, NJW 2014, 2871).
In der genannten Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2014 schloss sich der BGH indes der Gegenansicht an; ausgehend vom Zweck des Entschädigungsanspruchs wurde die Vererblichkeit verneint.
„Bei der Zuerkennung einer Geldentschädigung im Falle einer schweren Persönlichkeitsrechtsverletzung steht regelmäßig der Genugtuungsgedanke im Vordergrund. Da einem Verstorbenen Genugtuung für die Verletzung seiner Persönlichkeit nicht mehr verschafft werden kann, scheidet nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats die Zuerkennung einer Geldentschädigung im Falle der Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsschutzes aus. Erfolgt die Verletzung des Persönlichkeitsrechts zwar noch zu Lebzeiten des Verletzten, stirbt dieser aber, bevor sein Entschädigungsanspruch erfüllt worden ist, verliert die mit der Geldentschädigung bezweckte Genugtuung regelmäßig ebenfalls an Bedeutung. Gründe, vom Fortbestehen des Geldentschädigungsanspruchs über den Tod des Verletzten hinaus auszugehen, bestehen unter diesem Gesichtspunkt im Allgemeinen mithin nicht. Der von der Revision herangezogene Gedanke der Prävention kann vorliegend zu keiner anderen Beurteilung führen. Zwar trifft es zu, dass der Geldentschädigungsanspruch auch der Prävention dient. Der Präventionsgedanke vermag die Gewährung einer Geldentschädigung – auch in dem von der Revision vorliegend für gegeben erachteten Fall der Zwangskommerzialisierung – aber nicht alleine zu tragen. Dies wirkt sich nicht nur – wie im Falle postmortaler Persönlichkeitsrechtsverletzungen – auf die Beurteilung der Frage aus, ob der Geldentschädigungsanspruch auch unabhängig von seiner Genugtuungsfunktion entstehen kann, sondern auch darauf, ob er – wie im vorliegend zu beurteilenden Fall – bei Fortfall dieser Funktion weiterbestehen kann.“ (BGH, Urt. v. 29.4.2014 – VI ZR 246/12, NJW 2014, 2871 (2872 f.), Nachweise im Zitat ausgelassen).
Aus der Streichung des § 847 Abs. 1 S. 2 BGB a.F. lasse sich auch kein anderweitiger gesetzgeberische Wille ableiten (BGH, Urt. v. 29.4.2014 – VI ZR 246/12, NJW 2014, 2871 (2872); ebenso Urt. v. 32.5.2017 – VI ZR 261/16, NJW 2017, 3004 (3005)). Weiterhin soll sich an der fehlenden Vererblichkeit auch weder durch die Anhängigkeit des Anspruchs (hierzu BGH, Urt. v. 29.4.2014 – VI ZR 246/12, NJW 2014, 2871 (2873)), noch durch dessen Rechtshängigkeit etwas ändern (hierzu BGH, Urt. v. 32.5.2017 – VI ZR 261/16, NJW 2017, 3004 (3005 f.)). Mit Eintritt der Rechtskraft allerdings kann der Anspruch vererbt werden, da sodann eine gesicherte Rechtsposition entstanden ist. Hierzu der BGH:
„Der erkennende Senat hat bereits mehrfach klargestellt, dass bei der Zuerkennung einer Geldentschädigung im Fall einer schweren Persönlichkeitsrechtsverletzung – anders als beim Schmerzensgeld – regelmäßig der Genugtuungsgedanke im Vordergrund steht, während der Präventionsgedanke die Gewährung einer Geldentschädigung nicht alleine zu tragen vermag. Der Senat hat deshalb für die Frage der Vererblichkeit eines bereits anhängigen Entschädigungsanspruchs ausgeführt, dass die Anhängigkeit einer auf Geldentschädigung gerichteten Klage nichts daran ändert, dass die von der Geldentschädigung bezweckte Genugtuung mit dem Tod des Verletzten an Bedeutung verliert. Aus dem Gedanken der Genugtuung folgt weiter, dass auch ein rechtshängiger Geldentschädigungsanspruch wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht vererblich ist. Denn ebenso wenig wie der Erblasser Genugtuung bereits mit der Einreichung der Klage erlangt, erlangt er sie mit deren Zustellung. Sie tritt erst mit der rechtskräftigen Zuerkennung eines Anspruchs auf Geldentschädigung ein. Denn mit der Rechtskraft und nicht – wie die Revision meint – mit der Zustellung der Klage, mit der allenfalls eine Aussicht auf Genugtuung entsteht, wird eine gesicherte Position erlangt. Der Senat hat in dem Urteil vom 29.4.2014 formuliert, sterbe der Erblasser, bevor sein Entschädigungsanspruch erfüllt worden sei, verliere die mit der Geldentschädigung bezweckte Genugtuung regelmäßig ebenfalls an Bedeutung. Daraus kann nicht abgeleitet werden, Genugtuung werde erst mit der Erfüllung erlangt. Stirbt der Erblasser nach Rechtskraft der Entscheidung, geht der rechtskräftig zuerkannte Anspruch auf seinen Erben über.“ (BGH, Urt. v. 32.5.2017 – VI ZR 261/16, NJW 2017, 3004 (3005 f.), Nachweise im Zitat ausgelassen, Hervorh. d. Verf.).
IV. Festhalten an der Rechtsprechungslinie auch im Jahr 2021
An dieser Entscheidungspraxis hält der BGH ausweislich der Pressemitteilung zum Abschluss des Verfahrens im Fall Kohl fest: Durchgreifende Gründe, die Rechtsprechung aufzugeben, habe der Senat nicht gesehen (PM Nr. 218/2021 v. 29.11.2021). Da die Entscheidung des LG Köln, die dem Altkanzler einen Entschädigungsanspruch zusprach, zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht rechtskräftig war, geht der Anspruch in Millionenhöhe nicht auf seine Witwe und Alleinerbin über.
Viel Neues folgt aus der Entscheidung also nicht – für Studenten wie Examenskandidaten ist sie gleichwohl wichtig, denn dem einen oder anderen Prüfer dürfte sie in Erinnerung rufen, wie gut sich doch eine Prüfung des § 823 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG mit erbrechtlichem Einschlag für Klausuren in Studium und Examen eignet.
 

02.12.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-12-02 09:19:482021-12-02 09:19:48Der Entschädigungsanspruch bei Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und seine Vererblichkeit
Dr. Maike Flink

Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht

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Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung von entscheidender Bedeutung. Der folgende Überblick ersetzt zwar keinesfalls die vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Entscheidungen, soll hierfür aber Stütze und Ausgangspunkt sein. Dargestellt wird daher eine Auswahl der examensrelevanten Entscheidungen der vergangenen Monate anhand der betreffenden Leitsätze, Pressemitteilungen und ergänzender kurzer Ausführungen aus den Gründen, um einen knappen Überblick aktueller Rechtsprechung auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zu bieten.
 
BVerfG (Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16): Minderung von Hartz IV bei unterbliebener Mitwirkung teilweise verfassungswidrig
 Die Regelungen zur Minderung bzw. zum Entzug der Sozialhilfe nach § 31a I SGB II und § 31b SGB II, welche die Mitwirkungspflichten nach § 31 I SGB II durchsetzen sollen, sind in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 IGG) vereinbar: Zwar sind Mitwirkungspflichten – ebenso wie Sanktionen bei unterlassener Mitwirkung – im Rahmen der Gewährung existenzsichernder Leistungen grundsätzlich zulässig, jedoch müssen sie in ihrer konkreten Ausgestaltung auch verhältnismäßig sein. Denn die Minderung existenzsichernder Leistungen steht in einem erheblichen Spannungsverhältnis zur aus Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 I GG abgeleiteten Existenzsicherungspflicht des Staates. Daher gilt ein strenger Verhältnismäßigkeitsmaßstab:

„Wird eine Mitwirkungspflicht zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit ohne wichtigen Grund nicht erfüllt und sanktioniert der Gesetzgeber das durch den vorübergehenden Entzug existenzsichernder Leistungen, schafft er eine außerordentliche Belastung. Dies unterliegt strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum zur Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit von Regelungen zur Ausgestaltung des Sozialstaates ist hier beschränkt. Prognosen zu den Wirkungen solcher Regelungen müssen hinreichend verlässlich sein; je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit in der Lage ist, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich auf plausible Annahmen zu stützen. Zudem muss es den Betroffenen tatsächlich möglich sein, die Minderung existenzsichernder Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden; es muss also in ihrer eigenen Verantwortung liegen, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten.“

Zwar dienen die Sanktionsregelungen in § 31a I SGB II sowie § 31b SGB II mit der Durchsetzung dieser Mitwirkungspflichten einem legitimen Ziel, da nur durch ein „Fördern und Fordern“ die dauerhafte Finanzierbarkeit der Sozialhilfe gewährleistet werden kann. Allerdings sind die konkreten Regelungen unverhältnismäßig, da sie Leistungskürzungen in unzumutbarer Höhe – einschließlich des vollständigen Wegfalls existenzsichernder Leistungen – ermöglichen. Zudem können auch nur geringe Kürzungen gegenwärtig ohne weitere Prüfung, beispielsweise von besonderen Härten, erfolgen. Letztlich endet die Leistungskürzung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls stets nach einer starren Frist, sodass auch eine Nachholung der Mitwirkung unbeachtlich ist. Aufgrund vorstehender Erwägungen verstoßen die Sanktionen bei Unterlassen einer Mitwirkungshandlung in ihrer konkreten Ausgestaltung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
 
 BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13): Recht auf Vergessen I
Das BVerfG räumt der Prüfung am Maßstab der Grundrechte des GG nunmehr einen Vorrang ein, sofern sich die Anwendungsbereiche von GG und GRCh überschneiden. Grundsätzlich prüft das Gericht nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, weshalb es die GRCh – bislang – nicht als Prüfungsmaßstab heranziehen konnte. Um dadurch nicht die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu gefährden, treten die Grundrechte des GG grundsätzlich zurück, sofern der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet ist, d.h. wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen (Art. 51 I 1 GRCh). Dies gilt jedenfalls, solange der europäische Grundrechtsstandard im Wesentlichen mit dem Schutzniveau des Grundgesetzes vergleichbar ist.  Soweit den Mitgliedstaaten eigene Umsetzungsspielräume verbleiben, bleiben die Grundrechte des GG jedoch anwendbar. Denn in einem solchen Fall ist wegen der verbleibenden mitgliedstaatlichen Spielräume eine vollständig einheitliche Anwendung des Unionsrechts gar nicht intendiert. Die Grundrechte des GG treten damit – wie das BVerfG nunmehr ausdrücklich feststellt – neben die Grundrechte der GRCh. Bei paralleler Anwendbarkeit mehrerer Grundrechtskataloge gilt grundsätzlich das jeweils höhere Schutzniveau (Art. 53 GRCh). In diesem Zusammenhang stellt das BVerfG fest, dass zu vermuten ist, dass das Schutzniveau der Grundrechte des GG demjenigen der GRCh zumindest entspricht oder dieses sogar übersteigt.

„Wenn danach regelmäßig anzunehmen ist, dass das Fachrecht, soweit es den Mitgliedstaaten Spielräume eröffnet, auch für die Gestaltung des Grundrechtsschutzes auf Vielfalt ausgerichtet ist, kann sich das BVerfG auf die Vermutung stützen, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom EuGH ausgelegt wird, in der Regel mitgewährleistet ist. […] Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet nicht, dass insoweit die Grundrechte-Charta ohne Berücksichtigung bleibt. Der Einbettung des Grundgesetzes wie auch der Charta in gemeinsame europäische Grundrechtsüberlieferungen entspricht es vielmehr, dass auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen sind.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17): Recht auf Vergessen II
Enthält das durch die Mitgliedstaaten umzusetzende und zu vollziehende Unionsrecht keine Gestaltungsspielräume, finden die Grundrechte des GG keine Anwendung; sie treten hinter der GRCh zurück. Allerdings hat das BVerfG nunmehr klargestellt, dass es sich berechtigt sieht, die Grundrechte der GRCh selbst anzuwenden und als Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verfassungsbeschwerde heranzuziehen. So heißt es ausdrücklich:

„Soweit das BVerfG die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem EuGH aus.“

Nur so könne das BVerfG einen effektiven Grundrechtsschutz gewährleisten. Da die Grundrechte der GRCh letztlich ein Funktionsäquivalent der Grundrechte des GG seien und auf unionsrechtlicher Ebene kein effektiver Individualrechtsbehelf bestehe, komme dem BVerfG die Aufgabe zu, den effektiven Schutz auch der Grundrechte der GRCh im Rahmen der Verfassungsbeschwerde sicherzustellen:

„Die Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes gehört zu den zentralen Aufgaben des BVerfG. […]Auch die Unionsgrundrechte gehören heute zu dem gegenüber der deutschen Staatsgewalt durchzusetzenden Grundrechtsschutz. Sie sind nach Maßgabe des Art. 51 I GRCh innerstaatlich anwendbar und bilden zu den Grundrechten des Grundgesetzes ein Funktionsäquivalent. […] Ohne Einbeziehung der Unionsgrundrechte in den Prüfungsmaßstab des BVerfG bliebe danach der Grundrechtsschutz gegenüber der fachgerichtlichen Rechtsanwendung nach dem heutigen Stand des Unionsrechts unvollständig. Dies gilt insbesondere für Regelungsmaterien, die durch das Unionsrecht vollständig vereinheitlicht sind. Da hier die Anwendung der deutschen Grundrechte grundsätzlich ausgeschlossen ist, ist ein verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz nur gewährleistet, wenn das BVerfG für die Überprüfung fachgerichtlicher Rechtsanwendung die Unionsgrundrechtezum Prüfungsmaßstab nimmt.“

 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 30.1.2020 – 2 BvR 1005/18): Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt Blinde unangemessen
Ein gegenüber blinden Menschen ausgesprochenes Verbot, mit einem Blindenführhund eine Arztpraxis zu durchqueren, stellt eine mit Art. 3 III 2 GG – der jede Benachteiligung wegen der Behinderung verbietet – nicht zu vereinbarende Benachteiligung dar. Eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderung ist nur ausnahmsweise zulässig, sofern sie durch zwingende Gründe gerechtfertigt werden kann. Dies gilt auch im Rechtsverhältnis zwischen Privaten, denn das Benachteiligungsverbot ist zugleich eine objektive Wertentscheidung des Gesetzgebers und hat daher auch Einfluss auf Anwendung und Auslegung des Zivilrechts. Das Verbot, Hunde in eine Arztpraxis mitzuführen, benachteiligt blinde Menschen in besonderem Maße, soweit es ihnen dadurch insgesamt verwehrt wird, die Praxisräume selbstständig zu durchqueren. Unerheblich ist dabei, dass die betroffenen blinden Personen selbst nicht daran gehindert werden, die Praxisräume zu betreten, sondern sich daran lediglich deshalb gehindert fühlen, weil sie ihren Blindenführhund nicht mitnehmen können. Denn Art. 3 III 2 GG möchte jede Bevormundung behinderter Menschen verhindern und ihnen Autonomie ermöglichen. Wird einem Blinden jedoch verwehrt, seinen Blindenführhund mit in die Praxis zu nehmen, so folgt daraus zugleich, dass er sich von anderen Menschen helfen lassen und sich damit von anderen abhängig machen muss, um die Praxisräume zu durchqueren. Die betroffene Person muss sich – ohne dies zu wollen – anfassen und führen oder im Rollstuhl schieben lassen, was einer Bevormundung gleichkommt und daher mit Art. 3 III 2 GG unvereinbar ist. Diese erhebliche Beeinträchtigung überwiegt die entgegenstehende Berufsausübungsfreiheit sowie die allgemeine Handlungsfreiheit das Praxisinhabers. Denn es bestehen keine sachlichen Gründe für ein Verbot, Blindenhunde mitzuführen: Dies gelte insbesondere soweit auf die Gewährleistung der nötigen Hygiene verwiesen werde. Denn sofern die blinde Person mit ihrem Blindenführhund lediglich den Wartebereich durchqueren möchte – den auch andere Menschen mit Straßenschuhe und Straßenkleidung betreten – sei keine nennenswerte Beeinträchtigung der Hygiene durch den Hund zu erkennen.
 
BVerfG (Urt. v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 u.a.): Grundrecht auf Suizid
Das BVerfG hat § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellte, für verfassungswidrig erklärt und damit zugleich ein Grundrecht auf Suizid geschaffen. § 217 StGB hatte bislang jede Form der geschäftsmäßigen Sterbehilfe unter Strafe gestellt, wobei Geschäftsmäßigkeit in diesem Zusammenhang keine Gewinnerzielungsabsicht erforderte, sondern es allein auf eine Wiederholungsabsicht, die auch bei Ärzten angenommen werden konnte, ankam. Die Norm verletzt das Grundrecht der betroffenen Sterbewilligen auf selbstbestimmtes Sterben, das sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) herleiten lässt und in jeder Phase menschlicher Existenz besteht. Zwar verfolgt die Norm das legitime Ziel des Autonomie- und Lebensschutzes. Indes führte das BVerfG aus:

„Die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hat zur Folge, dass das Recht auf Selbsttötung als Ausprägung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in bestimmten Konstellationen faktisch weitgehend entleert ist. Dadurch wird die Selbstbestimmung am Lebensende in einem wesentlichen Teilbereich außer Kraft gesetzt, was mit der existentiellen Bedeutung dieses Grundrechts nicht in Einklang steht.“

Weitergehend setzte sich das Gericht auch mit einer möglichen Verletzung der Grundrechte der betroffenen Ärzte, Rechtsanwälte und Sterbehilfevereine auseinander, die sich ihrerseits auf Art. 12 I GG und subsidiär auf Art. 2 I GG berufen können. Denn die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ist in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte auch bereit sind, diese zu leisten. Nur wenn Dritte Sterbehilfe straffrei durchführen können, kann auch das Grundrecht auf Suizid tatsächlich verwirklicht werden.
 S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.
 
BVerfG (Beschl. v. 27.2.2020 – 2 BvR 1333/17): Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen
Das BVerfG hat das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen, das es ihnen untersagt, Tätigkeiten, bei denen sie von Bürgern als Repräsentanten der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden können, mit Kopftuch auszuüben, als verfassungsgemäß eingestuft. Das Verbot stelle keine Verletzung der Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) dar. Im Schwerpunkt setzte das BVerfG sich mit der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin auseinander: Die Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen die Beschwerdeführerin als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden könnte, gegen ihre religiös begründeten Bekleidungsregeln zu verstoßen, stellt zwar einen Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit dar, da sie dadurch vor die Wahl gestellt werde, „entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.“ Allerdings ist dieser Eingriff nach Auffassung des BVerfG gerechtfertigt, da der Staat seinerseits zur Neutralität verpflichtet sei.

„Hierbei entspricht die Verpflichtung des Staates zur Neutralität einer Verpflichtung seiner Amtsträger: Der Staat kann nur durch seine Amtsträger handeln, sodass diese das Neutralitätsgebot zu wahren haben, soweit ihr Handeln dem Staat zugerechnet wird.
Hier ist eine besondere Betrachtung des Einzelfalls erforderlich. Nicht jede Handlung eines staatlich Bediensteten ist dem Staat in gleicher Weise zuzurechnen. […] Die Situation vor Gericht ist indes besonders dadurch geprägt, dass der Staat dem Bürger klassisch-hoheitlich gegenübertritt. Auch ist eine besondere Formalität und Konformität dadurch gegeben, dass die Richter eine Amtstracht tragen.
[…] Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden.“

Weitere Erwägungen für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Kopftuchverbotes sind zudem das Vertrauen des Bürgers in die Rechtspflege und die Justiz sowie sie negative Religionsfreiheit Dritter, die durch den unausweichlichen Anblick des Kopftuchs im Gerichtssaal verletzt sein kann. Unter Berufung auf diese Argumente lehnte das BVerfG daher auch eine Verletzung der Berufsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin ab.
S. ausführlich unsere Entscheidungsbesprechung.

08.04.2020/1 Kommentar/von Dr. Maike Flink
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maike Flink https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maike Flink2020-04-08 10:00:122020-04-08 10:00:12Rechtsprechungsüberblick Öffentliches Recht (Quartal 4/2019 und 1/2020) – Teil 1: Verfassungsrecht
Dr. Yannik Beden, M.A.

Die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG: Definitionen und Streitstände

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Versammlungsrecht, Verschiedenes

Das Recht auf Versammlung ist in seiner grundrechtlichen Dimension regelmäßig Prüfungsgegenstand, oftmals werden auch in verwaltungs- bzw. polizeirechtlichen Klausurkonstellationen Kenntnisse zum Versammlungsrecht vorausgesetzt. Einige Problemstellungen zur Versammlungsfreiheit gehören dabei zu „Klausurklassikern“, bei denen von jedem Prüfling Grundkenntnisse bis hin zu vertieften Kenntnissen erwartet werden. Neben den notwendigen Definitionen müssen auch eine Reihe von Meinungsstreitständen zu Problemstellungen, die überdurchschnittlich häufig abgefragt werden, bekannt sein. Der nachstehende Beitrag gibt einen Überblick zu den klausur- bzw. examensrelevantesten Definitionen und zeigt zudem – nicht abschließend – die wichtigsten Streitstände mit kurzen Erläuterungen zu den jeweils vertretenen Ansichten in Rechtsprechung und Literatur auf.
I. Definitionen
1. Versammlung
(1) Enger Versammlungsbegriff (BVerfG): Nach dem engen Versammlungsbegriff, den das BVerfG vertritt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung (BVerfG v. 12.7.2001 – 1 BvQ 28/01 und BvQ 30/01, NJW 2001, 2459 (2460)).  
(2) Erweiterter Versammlungsbegriff: Nach dem erweiterten Versammlungsbegriff bedeutet Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Meinungsbildung und Meinungsäußerung (so noch BVerwG v. 21.4.1989 – 7 C 50/88, NJW 1989, 2411 (2412)).
→ Im Gegensatz zum engen Versammlungsbegriff muss die kollektive Meinungsbildung nicht auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet sein.
(3) Weiter Versammlungsbegriff: Nach dem weiten Versammlungsbegriff versteht man unter einer Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen, zwischen denen durch einen gemeinsamen Zwecke eine innere Verbindung besteht
→ Der weite Versammlungsbegriff verzichtet auf das Merkmal der kollektiven Meinungsäußerung und Meinungsbildung und lässt jede Art von Verbundenheit der Teilnehmer ausreichen.
2. Friedlich
Friedlich ist eine Versammlung, die keinen gewalttätigen bzw. aufrührerischen Verlauf annimmt oder von vornherein auf die Begehung von Straftaten ausgerichtet ist. Entscheidend sind im Zweifel das Verhalten der Versammlungsleitung und/oder die Mehrzahl der Versammlungsteilnehmer.
3. Ohne Waffen
Die Versammlung findet ohne Waffen statt, wenn keine Waffen im Sinne von § 1 Abs. 2 WaffG mitgeführt werden und auch keine gefährlichen Werkzeuge, die zum Zwecke des Einsatzes mitgeführt werden, vorhanden sind.
4. Unter freiem Himmel
Die Begrifflichkeit aus dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt nach Art. 8 Abs. 2 GG ist nicht wortwörtlich zu verstehen. Vielmehr muss nach Sinn und Zweck zwischen Versammlungen unter freiem Himmel und solchen in geschlossenen Räumlichkeiten differenziert werden: Die Versammlung „unter freiem Himmel“ birgt vergleichsweise eher die Gefahr einer unmittelbaren Konfrontation mit Unbeteiligten, sie hat ein größeres Konfliktpotential mit Blick auf Rechte Dritter. Die Versammlung in geschlossenen Räumen ruft hingegen üblicherweise weniger regelungsbedürftige Konflikte hervor. Entscheidend ist deshalb für die Versammlung unter freiem Himmel, dass eine erhöhte Gefährlichkeit dadurch besteht, dass ein unkontrollierter Zugang grundsätzlich für jedermann möglich ist. Davon ist auszugehen, wenn keine Eingangs- bzw. Zugangskontrollen existieren.
II. Problemstellungen / Streitstände
Im Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit werden einige Problemfälle wiederkehrend abgefragt. Oftmals geht es dabei nur um verfassungsrechtliche Spezifika, teilweise werden auch versammlungsrechtsspezifische Fragestellungen aufgeworfen. Die nachstehenden Klausurkonstellationen sind – ohne dass man sich in der Vorbereitung hierauf beschränken sollte – diejenigen, die jedem Prüfling für eine erfolgreiche Fallbearbeitung bekannt sein sollten.
1. Unmittelbare Grundrechtsbindung Privater
Ein echter Klausurklassiker dürfte mittlerweile die Fraport Entscheidung des BVerfG v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, NJW 2011, 1201 sein. Zwei der zentralen Rechtsfragen des Urteils sind die Grundrechtsbindung öffentlich beherrschter (privater) Unternehmen sowie das Verständnis des Forums, das für die Versammlung genutzt wird.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt (aus dem Urteil entnommen) zugrunde:

Der Flughafen Frankfurt a. M. wird von der Fraport-AG, der Bekl. des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Bekl.), betrieben, in deren Eigentum auch das Flughafengelände steht. Zum Zeitpunkt des den Anlass für den Zivilrechtsstreit bildenden „Flughafenverbots“ gegenüber der Bf. im Jahr 2003 besaßen das Land Hessen‚ die Stadt Frankfurt a. M. und die Bundesrepublik Deutschland zusammen circa 70% der Aktien, während sich der Rest in privater Hand befand. Seit dem Verkauf der Bundesanteile halten das Land Hessen und die Stadt Frankfurt a. M., Letztere über eine 100%-ige Tochter, zusammen nunmehr rund 52% der Aktien. Die übrigen Anteile befinden sich in privatem Streubesitz. Bei Verhängung des Meinungskundgabe- und Demonstrationsverbots befanden sich auf dem Flughafen Frankfurt a. M. sowohl auf der „Luftseite“, dem nur mit Bordkarte zugänglichen Bereich hinter den Sicherheitskontrollen, als auch auf der „Landseite“, dem ohne Bordkarte zugänglichen Bereich vor den Sicherheitskontrollen, eine Vielzahl von Läden und Serviceeinrichtungen sowie eine Reihe von Restaurants, Bars und Cafés.
Die Benutzung des Flughafengeländes durch Flugpassagiere und andere Kunden regelte die Bekl. durch die vom Land Hessen genehmigte Flughafenbenutzungsordnung in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung vom 1. 1. 1998. Diese enthielt in Teil II (Benutzungsvorschriften) unter anderem folgende Bestimmung:
4.2. Sammlungen, Werbungen, Verteilen von Druckschriften. Sammlungen, Werbungen sowie das Verteilen von Flugblättern und sonstigen Druckschriften bedürfen der Einwilligung des Flughafenunternehmers.
In der derzeit geltenden Fassung vom 1. 12. 2008 erklärt die Flughafenbenutzungsordnung Versammlungen in den Gebäuden des Flughafens ausdrücklich für unzulässig.
Die Bf. betrat gemeinsam mit fünf weiteren Aktivisten der „Initiative gegen Abschiebungen“ am 11. 3. 2003 den Terminal 1 des Flughafens, sprach an einem Abfertigungsschalter Mitarbeiter der Deutschen Lufthansa an und verteilte Flugblätter zu einer bevorstehenden Abschiebung. Mitarbeiter der Bekl. und Einsatzkräfte des Bundesgrenzschutzes beendeten die Aktion. Mit Schreiben vom 12. 3. 2003 erteilte die Bekl. der Bf. ein „Flughafenverbot“ und wies sie darauf hin, gegen sie werde Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs gestellt, sobald sie „erneut hier unberechtigt angetroffen“ werde. Mit einem erläuternden Schreiben vom 7. 11. 2003 wies die Bekl. die Bf. unter Verweis auf ihre Flughafenbenutzungsordnung darauf hin, sie dulde „mit uns nicht abgestimmte Demonstrationen im Terminal aus Gründen des reibungslosen Betriebsablaufs und der Sicherheit grundsätzlich nicht“. 

Fraglich war zunächst, ob die Fraport AG als privates Unternehmen überhaupt unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist. Ausgangspunkt ist dabei Art. 1 Abs. 3 GG, wonach die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Zwischen Bürgern wirken die Grundrechte grundsätzlich nicht unmittelbar, sondern nur im Wege der sog. mittelbaren Drittwirkung, die im Zivilrecht wiederum durch „Einfallstore“ wie Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe stattfindet.
Was gilt aber, wenn ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen sowohl im Eigentum Privater, als auch der öffentlichen Hand steht? Das BVerfG stellt in der Fraport Entscheidung fest: „Ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen unterliegt dann der unmittelbaren Grundrechtsbindung, wenn es von den öffentlichen Anteilseignern beherrscht wird. Dies ist in der Regel der Fall, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen. Insoweit kann grundsätzlich an entsprechende zivilrechtliche Wertungen angeknüpft werden“ (BVerfG v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, NJW 2011, 1201 (1203)). Auf die konkreten Einwirkungsbefugnisse soll es hingegen nicht ankommen. Die Gegenansicht lehnt eine unmittelbare Grundrechtsbindung des Unternehmens insgesamt ab, vielmehr soll die Grundrechtsbindung und Grundrechtsverpflichtung nur den einzelnen öffentlich-rechtlichen Anteilseigner treffen. Im Übrigen kann danach allenfalls eine mittelbare Drittwirkung von Grundrechten in Betracht kommen. Anknüpfungspunkt für diese Ansicht ist der Wortlaut aus Art. 1 Abs. 3 GG. In tatsächlicher Hinsicht obläge es dann dem öffentlich-rechtlichen Anteilseigner, auf das privatrechtlich organisierte Unternehmen einzuwirken und dadurch seinen grundrechtlichen Pflichten nachzukommen. Vermieden werden soll dadurch in erster Linie eine übermäßige Belastung der privaten Anteilseigner. Dieses Argument wird seitens der Rechtsprechung entkräftet, indem auf die Freiwilligkeit einer Beteiligung am Unternehmen abgestellt wird. Den privatrechtlichen Akteuren stehe es danach frei, sich am Unternehmen zu beteiligen oder nicht, was auch dann gelte, wenn die Eigentumsverhältnisse erst nachträglich durch Eintritt der öffentlichen Hand verändert werden. In der Klausur sind beide Ansichten vertretbar, allerdings wird man mit Blick auf den Aufbau des Gutachtens im Zweifel besser fahren, wenn man der Ansicht des BVerfG folgt.
Zuletzt muss auch mit Blick auf das Forum, in dem eine Versammlung zulässig ist, nach den Vorgaben des BVerfG unterschieden werden: Art. 8 GG berechtigt nicht dazu, Versammlungen überall und uneingeschränkt abzuhalten. Das bedeutet allerdings im Umkehrschluss nicht, dass nur der öffentliche Straßenraum genutzt werden darf. Das Gericht weitet das Grundrecht in seiner örtlichen Dimension aus: „Entsprechendes gilt aber auch für Stätten außerhalb des öffentlichen Straßenraums, an denen in ähnlicher Weise ein öffentlicher Verkehr eröffnet ist und Orte der allgemeinen Kommunikation entstehen. Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren, Ladenpassagen oder sonstige Begegnungsstätten ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Anspruch genommen werden können. Dies gilt unabhängig davon, ob die Flächen sich in eigenen Anlagen befinden oder in Verbindung mit Infrastruktureinrichtungen stehen, überdacht oder im Freien angesiedelt sind.“ (BVerfG v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, NJW 2011, 1201 (1204)).
2. Spontanversammlungen
Versammlungen sind nicht immer von langer Hand geplant, sie können auch spontan, etwa aufgrund eines aktuellen, möglicherweise unerwarteten Geschehens entstehen. Die Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 GG schützt auch solche Versammlungen. § 14 Abs. 1 VersG sieht nun vor, dass öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel spätestens 48 Stunden vor Bekanntgabe bei der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstands der Versammlung anzumelden sind.
Das Spannungsverhältnis zwischen Spontanversammlungen und der Anmeldepflicht aus § 14 Abs. 1 VersG muss im Wege der verfassungskonformen Auslegung gelöst werden: Die Pflicht zur rechtzeitigen Anmeldung von Spontanversammlungen bzw. Spontandemonstrationen entfällt, sofern sich diese aus aktuellem Anlass augenblicklich ergeben. Die versammlungsrechtlichen Bestimmungen sind auf Spontanversammlungen nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht anwendbar, „soweit der mit der Spontanveranstaltung verfolgte Zweck bei Einhaltung dieser Vorschriften nicht erreicht werden könnte. Ihre Anerkennung trotz Nichtbeachtung solcher Vorschriften lässt sich damit rechtfertigen, dass Art. 8 Abs. 1 GG grundsätzlich die Freiheit garantiert, sich “ohne Anmeldung oder Erlaubnis” zu versammeln, dass diese Freiheit zwar nach Absatz 2 für Versammlungen unter freiem Himmel auf gesetzlicher Grundlage beschränkbar ist, dass solche Beschränkungen aber die Gewährleistung des Absatz 1 nicht gänzlich für bestimmte Typen von Veranstaltungen außer Geltung setzen dürfen, dass vielmehr diese Gewährleistung unter den genannten Voraussetzungen von der Anmeldepflicht befreit.“ (BVerfG Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, NJW 1985, 2395 (2397)). 
3. Hervorrufen gewaltbereiter Gegendemonstration
Verursacht eine Versammlung eine Gegendemonstration, kollidieren regelmäßig verfassungsrechtlich geschützte Güter. Das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters hinsichtlich des Ortes der Versammlung ist im Ausgangspunkt zwar von Art. 8 GG geschützt, allerdings kann es durch Rechte Dritter beschränkt sein. Die gegenläufigen Interessen müssen dabei austariert werden. Trifft eine Veranstaltung auf eine Gegendemonstration und sind damit Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung  – etwa aufgrund Konfrontationsgefahren – verbunden, so ist der zuerst angemeldeten Versammlung grundsätzlich Priorität einzuräumen (VGH München v. 16.9.2015 – 10 CS 15.2057). Etwas anderes gilt jedoch, wenn wichtige Gründe wie etwa die besondere Bedeutung des Ortes und des Zeitpunktes für die Verfolgung des jeweiligen Versammlungszwecks für eine andere Vorgehensweise sprechen. Maßgebend ist der Prioritätsgrundsatz jedenfalls, wenn die später angemeldete Versammlung allein oder überwiegend den Zwecke verfolgt, die zuerst angemeldete Versammlung an einem bestimmten Ort zu verhindern (BVerfG Beschl. v. 6.5.2005 – 1 BvR 961/05, NVwZ 2005, 1055 (1055)).
4. Auflösen der Versammlung bei einzelnen unfriedlichen Teilnehmern
Probleme bereiten Versammlungen oftmals, wenn sie zwar in ihrer Gesamtheit keinen aufrührerischen bis hin zu einem gewalttätigen Verlauf nehmen, allerdings einzelne Teilnehmer der Veranstaltung unfriedliches Verhalten aufweisen. Das Spannungsverhältnis ergibt sich daraus, dass diejenigen Teilnehmer der Versammlung, die sich friedlich verhalten, nicht in ihren verfassungsrechtlichen geschützten Positionen durch unfriedliches Verhalten anderer Teilnehmer beeinträchtigt bzw. beschränkt werden sollen. Das BVerfG geht davon aus, dass die Versammlungsfreiheit auch dann geschützt werden muss, wenn mit Ausschreitungen durch einzelne Teilnehmer oder eine Minderheit zu rechnen ist. Das gilt jedenfalls, soweit nicht zu befürchten ist, dass die Veranstaltung im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf annehmen wird. Ein präventives Verbot der gesamten Versammlung ist nur unter Zugrundelegung eines strengen Maßstabs an die Gefahrenprognose möglich. Erforderlich ist deshalb eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ des Schadenseintritts (vgl. Drosdzol, JuS 1983, 414 (415)). Zudem müssen alle sonstigen in Betracht kommenden Mittel zuvor ausgeschöpft worden sein (vgl. insgesamt hierzu BVerfG Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, NJW 1985, 2395).   
5. Versammlungen mit musikalischen/künstlerischen Elementen
Sind politisch motivierte Veranstaltungen, die auch musikalische Darbietungen und kommerzielle Elemente enthalten, unter den Schutz der Versammlungsfreiheit zu fassen? Mit dieser Fragestellung befasste sich u.a. das VG Hannover, Beschl. v. 8.11.2013 – 10 B 7448/13. Bei einer dem linken Spektrum zuzuordnenden mit dem Leitthema „Für ein menschenwürdiges Leben – Gegen Sozialabbau und Behördenwillkür“ fanden neben Reden und Diskussion zu politischen Inhalten auch öffentliche Konzerte sowie der Verkauf von CDs und Merchandise Produkten statt. Legt man den engen Versammlungsbegriff des BVerfG an, ist fraglich, ob in einer solchen Konstellation noch von einer gemeinschaftlichen Erörterung und Kundgebung mit dem – ausschließlichen – Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gesprochen werden kann. Nach der Rechtsprechung bedarf es einer Schwerpunktbetrachtung: Der Schutz von Art. 8 GG entfällt jedenfalls dann, wenn die musikalischen und kommerziellen Bestandteile der Veranstaltung den eigentlichen Zweck – Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung – „an den Rand drängen“. Andererseits ist es nicht unüblich und für die Durchsetzung der kollektiven Meinungsbildung sogar oftmals förderlich, wenn Inhalte der Versammlung durch musikalische Begleitung unterstützt bzw. verstärkt werden. Dies gilt umso mehr, wenn die musikalische Darbietung einen Kontext zur politischen Diskussion aufweist.
 
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18.03.2019/0 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
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Dr. Yannik Beden, M.A.

Tätowierung bei Polizeibeamten: Bewerber darf nicht ohne gesetzliche Grundlage abgelehnt werden

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Eine brandaktuelle Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen beschäftigt sich mit dem nach wie vor kontrovers diskutierten Problemfeld des zulässigen Ausmaßes von Tätowierungen bei Beamten. Mit seiner Entscheidung vom 12.9.2018 – 6 A 2272/18 urteilte das Gericht, dass einem Bewerber für den Polizeivollzugsdienst seine Einstellung nicht aufgrund einer großflächigen Tätowierung am Unterarm untersagt werden darf. Die Entscheidung steht in engem Zusammenhang zu einem Grundsatzurteil des BVerwG aus dem vergangenen Jahr (Urteil v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185), nach dem Regelungen über das zulässige Ausmaß von Tätowierungen bei Beamten eine hinreichend bestimmte gesetzliche Ermächtigung voraussetzen. Beide Urteile behandeln eine Fülle höchst examensrelevanter Problemstellungen (Parlamentsvorbehalt, Grundrechte im Beamtenverhältnis, Reichweite des APR usw.), die im Folgenden aufgezeigt werden:  
I. Sachverhalt der OVG Münster Entscheidung (Pressemitteilung entnommen)
„Der in Mülheim lebende Kläger hatte sich für die Einstellung in den Polizeivollzugsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen zum 1. September 2017 beworben. Er trägt auf der Innenseite seines linken Unterarms eine Tätowierung in Gestalt eines Löwenkopfes mit einer Größe von 20 cm x 14 cm. Das zuständige Landesamt lehnte unter Berufung auf einen entsprechenden Verwaltungserlass die Einstellung des Klägers ab, weil sich die Tätowierung – beim Tragen der Sommeruniform – im sichtbaren Bereich befinde und mehr als handtellergroß sei. Nachdem das Verwaltungsgericht Düsseldorf das Land im Eilverfahren verpflichtet hatte, den Kläger zum weiteren Auswahlverfahren zuzulassen (Beschluss vom 24. August 2017 – 2 L 3279/17 -), wurde er nach dessen erfolgreichem Abschluss zum Kommissaranwärter ernannt. Das Land behielt sich aber ausdrücklich eine spätere Entlassung vor, sollte es im gerichtlichen Hauptsacheverfahren obsiegen. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf entschied mit Urteil vom 8. Mai 2018, dass das Land den Kläger nicht allein wegen seiner Tätowierung hätte ablehnen dürfen.“ (Ergänzung: Hiergegen legte das Land Berufung ein)
II. Urteil des Oberverwaltungsgerichts

Das OVG Münster wies die vom Land eingelegte Berufung zurück. Im Kern entscheidend ist: Regelungen über die Zulässigkeit von Tätowierungen im Beamtenverhältnis bedürfen aufgrund ihrer besonderen Grundrechtsintensität einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Das Stichwort lautet hier „Parlamentsvorbehalt“ als Konkretisierung des Prinzip des Gesetzesvorbehalts. Den schonenden Ausgleich zwischen widerstreitenden Grundrechten sowie kollidierende Verfassungspositionen ist dem Parlament vorbehalten, was bedeutet, dass die auch die wesentlichen Inhalte des Beamtenverhältnisses zwingend durch Gesetz zu regeln sind (vgl. BVerwG Urteil v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185 (1188)). Da im streitigen Fall nur ein Erlass der Verwaltung regelte, welche Tätowierungen zur Ablehnung eines Bewerbers führen und keine gesetzliche Grundlage vorlag, durfte der Kläger nicht aufgrund seiner Tätowierung abgelehnt werden. Der parlamentarische Gesetzgeber – so das OVG Münster – müsse die für die Grundrechtsverwirklichung bedeutsamen Regelungen selbst treffen (Parlamentsvorbehalt!) und dürfe die Entscheidung über den konkreten Ausgleich der widerstreitenden Interessen nicht der Entscheidungsgewalt der Exekutive schrankenlos überlassen. Zudem sei es auch Aufgabe des Gesetzgebers, die gesellschaftlichen Wertungen hinsichtlich Tätowierungen und die daraus resultierende rechtliche Relevanz einzuschätzen und festzulegen. Entscheidend sei nach Auffassung des Gerichts vor allem, dass aus einer solchen parlamentarischen Regelung klar hervorgehen müsse, welche Maßnahmen dem Bürger gegenüber rechtmäßig sein sollen. Blickt man auf die bisherige Judikatur des BVerwG,  gilt danach auch für Verordnungsermächtigungen, dass die parlamentarische Leitentscheidung aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar sein muss (BVerwG Urteil v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185 (1188), Beschluss v. 21.4.2015 – 2 BvR 1322/12, NVwZ 2015, 1279 (1280)).
III. Reglementierung von Tätowierungen im Beamtenverhältnis nach BVerwG – Die Grundsatzentscheidung vom 17.11.2017
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts bestätigt die jüngste Entwicklung in der Rechtsprechung des BVerwG. In seinem Urteil vom 17.11.2017 setzte sich das Gericht mit der Entfernung eines Polizeikommissars aus dem Beamtenverhältnis wegen diverser Tätowierungen mit verfassungsfeindlichem Inhalt auseinander. Der damalige Beklagte war an verschiedenen Körperregionen mit nationalsozialistisch geprägten Kennzeichen tätowiert, etwa die Sigrune in ihrer doppelten Verwendung als Kennzeichen der Waffen-SS sowie die Wolfsangel, welche von mehreren Panzerdivisionen als Emblem verwendet wurde (ausführlich BVerwG Urteil v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, NJW 2018, 1185 (1188 f.)). Das BVerwG judizierte in dieser Entscheidung, dass Regeln über das zulässige Ausmaß von Tätowierungen bei Beamten eine hinreichend bestimmte gesetzliche Ermächtigung voraussetzen. Zu einem ähnlichen Entschluss fand das BVerwG bereits in einer vorherigen Entscheidung bezüglich Bestimmungen zu Einstellungshöchstaltersgrenzen, die traditionell durch Verwaltungsvorschriften bestimmt worden sind, nunmehr aber – als Konsequenz einer weitgehenderen Anwendung des Parlamentsvorbehalts i.R.v. Art. 33 Abs. 2 GG – ebenso auf einer hinreichend bestimmten Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers beruhen müssen (vgl. BVerwG Beschluss v. 21.4.2015 – 2 BvR 1322/12, 2 BvR 1989/12, NVwZ 2015, 1279).
Den Ausgangspunkt der Entwicklung in der Rechtsprechung bildet die Feststellung, dass Grundrechte auch im Beamtenverhältnis Wirkung entfalten. Berührt eine Regelung grundrechtlich geschützte Rechtspositionen, bedarf es für die Austarierung der widerstreitenden Grundrechtspositionen bzw. der kollidierenden Verfassungspositionen einer parlamentarischen Entscheidung. Geht es um die Zulässigkeit von Tätowierungen, sieht das BVerwG neben dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 GG i.Vm. Art. 1 Abs. 1 GG auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) berührt. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, da das Gericht für Fälle des Schneidens von Kopfhaaren den Anwendungsbereich noch verneint hat (BVerwG Urteil v. 2.3.2006 – 2 C 3/05, NVwZ-RR 2007, 781). Für Tätowierungen sei diese Judikatur jedoch aufgrund des offenkundigen körperlichen Schmerzes, der mit der Entfernung von Tätowierungen verbunden sei, nicht übertragbar. In der Summe lässt sich sagen: Nach der neueren Rechtsprechung handelt es sich bei Vorschriften zu Art und Umfang zulässiger Tätowierungen im Beamtenverhältnis um einen derart grundrechtsensiblen Regelungsbereich, dass der Parlamentsvorbehalt eine eigenständige Entscheidung des Gesetzgebers unabdingbar macht. Der Konkretisierung durch die Exekutive muss diese Entscheidung auch jedenfalls in Gestalt einer Verordnungsermächtigung vorangestellt werden.     
IV. Kurze Summa
Regelungen über die Zulässigkeit von Tätowierungen im Beamtenverhältnis bedürfen aufgrund ihrer besonderen Grundrechtsintensität einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Das Urteil des OVG Münster bestätigt insoweit die jüngste Rechtsprechung des BVerwG. Die Entscheidungen machen deutlich, dass der Parlamentsvorbehalt mit Blick auf Art. 33 Abs. 2, 5 GG von besonderer Bedeutung ist, da Grundrechte auch im Beamtenverhältnis Wirkung entfalten. Wesentliche Entscheidungen über Beschränkung und Austarierung grundrechtlich geschützter Positionen müssen vom Gesetzgeber getroffen werden. Summa summarum also ein Urteil, welches eine vertiefte Auseinandersetzung verdient.

17.09.2018/1 Kommentar/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2018-09-17 14:53:342018-09-17 14:53:34Tätowierung bei Polizeibeamten: Bewerber darf nicht ohne gesetzliche Grundlage abgelehnt werden
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10 Thesen zum Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) – BR-Drucks. 635/14

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Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag des renommierten Arbeitsrechtlers Prof. Dr. Gregor Thüsing (Universität Bonn) veröffentlichen zu dürfen. Als Sachverständiger ist er vom Bundestag zum geplanten Tarifeinheitsgesetz gehört worden und hat durch zahlreiche Publikationen (s. etwa hier und hier) und Stellungnahmen die Diskussion um die Tarifeinheit vorangetrieben.
10 Thesen zum Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) – BR-Drucks. 635/14
1. Die in § 4a TVG-E genannten Ziele sind in Rechtsprechung und Literatur bislang zwar nur ungenau konturiert, als rechtspolitische Eckpfeiler des Handelns aber sicherlich richtig. Es geht im Kern um eine Stärkung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie.
2. Diese ist durch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 7.7.2010 (4 AZR 549/08), in dem der Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben wurde, möglicherweise gefährdet. Ob sich diese Gefährdungen tatsächlich realisieren werden, ist schwer zu prognostizieren. Der Gesetzgeber braucht jedoch nicht zu warten, bis eine Regelung u.U. zu spät ist. Er kann sich auf Regeln vernünftigen Vermutens verlassen. Es ist gut, dass der Gesetzgeber handelt.
3. Um diese Gefährdung zu beseitigen, will der Entwurf jedoch nicht den erprobten Status quo ante wiederherstellen, sondern er ist einen neuen Weg der Auflösung von Tarifkonkurrenzen gegangen: das betriebsbezogene Mehrheitssystem. Zuvor wurden Tarifpluralitäten regelmäßig nach dem Spezialitätsprinzip aufgelöst, d.h. der Tarifvertrag, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten gerecht wird (z.B. BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, BAGE 67, 330, zu B II 3 der Gründe; 20.3.1991 – 4 AZR 457/90 -, zu B II 3 der Gründe, jeweils m.w.N.). Nun soll sich die Gewerkschaft durchsetzen, die mehr Mitglieder im Betrieb hat.
4. Der Wert des Gesetzes liegt dabei in der Verhinderung der Herausbildung von Kleinstgewerkschaften und der Zersplitterung der Tariflandschaft. Sollte sich zukünftig die Betriebsfeuerwehr eines chemischen Unternehmens entscheiden, eine eigene Gewerkschaft zu gründen (ggf. mit andere Betriebsfeuerwehren), und wäre diese Gruppe dann tatsächlich eine Gewerkschaft, dann könnte sie eigennützig streikend nur für ihre wenigen Mitglieder das ganze Unternehmen lahmlegen, das ohne funktionierende Feuerwehr nicht produzieren darf. Dies gilt es zu verhindern, sollte dies eine reale Gefahr sein. Das Wirken der GDF deutet freilich in der Tat in diese Richtung (s. den Streik der Vorfeldlotsen in Frankfurt im Februar 2012).
5. Dieser Weg kann freilich im Einzelfall zu sinnwidrigen Ergebnissen führen. So könnte eine Berufsgruppe damit von einer Gewerkschaft vertreten werden, in der sie kein einziges Mitglied hat, obwohl die konkurrierende Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wird, einen sehr hohen Organisationsgrad hat. Eine plastisches Beispiel: Sollte sich UFO auf Grundlage des vorliegenden Gesetzesentwurfs entscheiden, künftig auch die Piloten zu behandeln, so würde deren Cockpit-Tarifvertrag verdrängt werden, obwohl kein einziger Pilot bei UFO ist und sie ggf. alle zu 100 % bei Cockpit organisiert sind –einzig und allein deswegen, weil UFO unter Flugbegleitern einen sehr hohen Organisationsgrad hat, und es sehr viel mehr Flugbegleiter als Piloten gibt. Zudem: Statt Tarifpluralitäten im Betrieb gibt es nun solche im Unternehmen. Das ist auch nicht praktikabler oder solidarischer. Wenn künftig etwa die GDL in einem Betrieb die Mehrheit der Arbeitnehmer organisiert, in einem anderen Betrieb aber die EVG, so gilt im einen Betrieb für die Lokführer der GDL-Tarifvertrag, im anderen der EVG-Tarifvertrag. Der Arbeitgeber könnte dieses Ergebnis zudem durch Versetzungen von Arbeitnehmern beeinflussen, leichter noch als durch den Zuschnitt der Betriebe, der ebenfalls in seiner Hand liegt.
6. Auch löst der Entwurf das Problem der Häufung von Arbeitskämpfen bei konkurrierenden Gewerkschaften nicht. Um es deutlich zu sagen: Hierdurch wird es keinen Streik weniger geben. Denn der Gesetzesentwurf sagt es in seiner Begründung deutlich: „Die Regelungen zur Tarifeinheit ändern nicht das Arbeitskampfrecht“. Bislang durfte jeder Arbeitnehmer eines Unternehmens für einen Tarifvertrag streiken, auch wenn er nicht von ihm erfasst wurde. Dies ist unbestritten, und eben dies ist der Grund, warum auch unbestritten ist, dass Nichtorganisierte streiken dürften (s. so schon vor vielen Jahren Thüsing, Der Außenseiter im Arbeitskampf, 1994). Daher könnte jeder Arbeitnehmer eines Unternehmens streiken für einen Tarifvertrag, von dem nicht ausgeschlossen ist, dass er sich später in zumindest einem Betrieb durchsetzen würde. Dies aber kann ex ante nie sicher ausgeschlossen werden. Sollte daher das Gesetz hier Streiks eindämmen wollen, müsste das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung ändern. Dies wäre wohl nicht zu erwarten, auch weil dann viele Folgefragen auf einmal nicht mehr stimmig beantwortet werden könnten. Wer also tatsächlich eine Begrenzung des Streikrechts will, der müsste dies ausdrücklich normieren.
7. Nicht alles, was – wie dargelegt – zu zuweilen sinnwidrigen Ergebnissen führt oder wichtige Probleme ungelöst lässt, ist verfassungswidrig. Hier liegt jedoch eine strukturelle Benachteiligung von Spartengewerkschaften, die rechtfertigungsbedürftig ist, unabhängig davon, ob es sich hierbei um eine Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit handelt oder um einen Eingriff in diese. Beides dürfte kaum abgrenzbar sein. Denn jede Ausgestaltung ist auch eine Begrenzung, dass andere Varianten der Ausgestaltung nicht gewählt wurden („to define is to limit“). Denn auch bei der Ausgestaltung sind die grundrechtlich geschützten Interessen der Betroffenen in einen verhältnismäßigen verfassungsrechtlichen Ausgleich zu setzen. Eine Ausgestaltung, die den Spartengewerkschaften die Luft zum Atmen nimmt, wäre ohne hinreichende Rechtfertigung auch als Ausgestaltung verfassungswidrig. Viele sehen diese Rechtfertigung als nicht gegeben an. Zählt man die Stimmen, ohne sie zu wiegen, so sind diese klar in der Überzahl (s. nur die Nachweise im Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom Februar 2015, im Übrigen zuletzt insb. Schliemann/Konzen, RdA 2015, 1-16). Ich selber bin mir da nicht sicher. Die Sicherungsmittel des Entwurfs, die Verfassungskonformität zu sichern, sind jedenfalls absurd: Ein einklagbares Recht der Minderheitsgewerkschaft, ihre Forderungen mündlich vortragen zu dürfen (§ 4 Abs. 5 TVG-E), ist genauso funktionslos wie das Recht einer Gewerkschaft, den von ihr nicht mit beeinflussten Tarifvertrag, zu dem sie ja in Konkurrenz agiert hat, eins zu eins nachzuzeichnen (§ 4 Abs. 4 TVG-E). Welche Gewerkschaft, die etwas auf sich hält, würde sich auf solche Rechte berufen?
8. Die verfassungsrechtlichen Probleme lassen sich deutlich entschärfen, wenn man einen Weg findet, die Konkurrenzen anders aufzulösen, ohne die Spartengewerkschaften strukturell zu benachteiligen. Ein möglicher Weg wäre es, das Mehrheitssystem nicht am Betrieb ansetzen zu lassen, sondern am sich überschneidenden Bereich: Es würde sich im Bereich der Überschneidung der Tarifvertrag der Gewerkschaft durchsetzen, die in der Personengruppe, für die beide Gewerkschaften tätig geworden sind, die meisten Mitglieder hat. Weil hierin aber eine strukturelle Bevorzugung von Spartengewerkschaften liegen würde (die in Sparten tendenziell besser organisieren können), sollte im Gegenzug diese Konkurrenzregelung davon abhängig gemacht werden, dass dieser Überschneidungsbereich eine Mindestgröße der Belegschaft ausmacht, z.B. 15 %. Damit würden die bisherigen Spartengewerkschaften in ihrem Wirken regelmäßig nicht beeinträchtigt, neue Kleinstgewerkschaften könnten sich jedoch nicht etablieren, weil sie es nicht schaffen, in einem solchen Teil der Belegschaft die Mehrheit zu organisieren. Die Werksfeuerwehr und die Vorfeldlotsten wären ein zu kleiner Teil der Belegschaft, um sich hier gegen eine Gewerkschaft durchzusetzen, die die gesamte Belegschaft repräsentiert. Dieser Ansatz wäre verfassungsrechtlich weitaus unproblematischer als der vorliegende Entwurf und würde das bisherige Gleichgewicht der Gewerkschaften deutlich weniger beeinträchtigen.
9. Auch dieser Ansatz lässt aber die Probleme des Arbeitskampfs in der Daseinsvorsorge ungelöst. Diese aber bedürfen dringend einer Lösung. Nicht die Geltung mehrerer Tarifverträge im Betrieb ist das zurzeit wohl drängendste Problem, sondern die Vielzahl und die Heftigkeit der Arbeitsniederlegungen in Unternehmen, auf deren Leistungen die Öffentlichkeit in besonderem Maße angewiesen ist. Eben hier müsste eine Regelung ansetzen. Es braucht angemessene Regeln für die Arbeitsniederlegung, die die Drittinteressen in Betrieben der Daseinsvorsorge schützen. Hierzu gibt es an erprobten Modellen des Auslands orientierte Vorschläge. Andere Länder haben sehr wohl die Notwendigkeit des Handelns erkannt: Wer sich umschaut, der findet Rechtsordnungen mit Ankündigungspflichten, mit Wartezeiten, mit obligatorischen Schlichtungsverfahren, mit detaillierten Regelungen des Notdienstes – all das kann Modell sein. Das wesentliche Problem, dass die Streiks vor allem unbeteiligte Dritte – z.B. die Reisenden –treffen, die nichts zur Lösung des Tarifkonfliktes beitragen können, wird so gelöst oder zumindest erheblich reduziert, ohne dass kleinen Gewerkschaften ihre Verhandlungsfreiheit genommen wird. Ein solcher Ansatz ist verfassungskonform und er adressiert das eigentliche Problem.
10. Der Ansatz des Gesetzes ist daher zu ergänzen um Regelungen, wie sie der CSU-Vorstand in seinem Beschluss vom Januar 2015 und die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU fordern. Verfassungsrechtliche Hürden bestehen hier nicht (ausführlich die in der BR-Drucks. 6355/14 erwähnte Initiative der Carls Friedrich von Weizsäcker Stiftung, dargestellt Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, 2012, abrufbar in einer gekürzten Fassung unter, http://www.cfvw.org/stiftung/images/stories/downloads/Mono_17.10._final_Web-Version.pdf).

08.06.2015/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2015-06-08 10:50:232015-06-08 10:50:2310 Thesen zum Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) – BR-Drucks. 635/14
Dr. Stephan Pötters

Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke verfassungswidrig? Implikationen des Atomunfalls in Japan

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Verfassungsrecht

Formelle Verfassungswidrigkeit?
Vor einiger Zeit hatten wir ja bereits über die Debatte rund um die Laufzeitverlängerung für deutsche Atomkraftwerke und die entsprechenden verfassungsrechtlichen Probleme berichtet (s. hier). Hierbei haben wir uns bislang auf die Frage der Zustimmungspflichtigkeit beschränkt.
Materielle Verfassungswidrigkeit?
Aufgrund der tragischen Ereignisse in Japan ist es leider auch angebracht, über materiellrechtliche Aspekte nachzudenken. Insofern kommen mehrere Aspekte in Betracht: Aufgrund der Möglichkeit eines Reaktorunfalls mit katastrophalen Schäden und aufgrund der ungelösten Entsorgungsproblematik könnte die Beendigung der Kernenergienutzung zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bürger (Art. 2 Abs. 1 GG) , zum Schutz der Volksgesundheit, zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG) für ein Leben der heutigen und künftigen Generationen ohne atomare Risiken erforderlich sein, vgl. Koch/Roßnagel, NVwZ 2000, 1, 3.
Leitentscheidung: Schneller Brüter
Das BVerfG hat sich insofern bislang stets zurückhaltend geäußert und dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum zugebilligt, s. etwa den relativ aktuellen Beschluss vom 12. 11. 2008 – 1 BvR 2456/06, NVwZ 2009, 171. Leitentscheidung ist der Beschluss in der Rechtssache „Schneller Brüter“ (Beschluß vom 8. 8. 1978 – 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89 = NJW 1979, 359).
Zunächst einmal hat das BVerfG hier darauf hingewiesen, dass in einer derart grundrechtswesentlichen Frage wie die Atomkraft natürlich das Parlament als zentrale und unmittelbar legitimierte Institution im demokratischen Rechtsstaat entscheiden muss: „Die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland ist wegen ihrer weitreichenden Auswirkungen auf die Bürger, insbesondere auf ihren Freiheits- und Gleichheitsbereich, auf die allgemeinen Lebensverhältnisse und wegen der notwendigerweise damit verbundenen Art und Intensität der Regelung eine grundlegende und wesentliche Entscheidung im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes. Sie zu treffen ist allein der Gesetzgeber berufen.“
Das BVerfG sieht sich dabei zurecht nicht befugt, eine derart hochpolitische Entscheidung im Detail zu entscheiden: „In einer notwendigerweise mit Ungewißheit belasteten Situation liegt es zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen die von ihnen für zweckmäßig erachteten Entscheidungen zu treffen. Bei dieser Sachlage ist es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten. Denn insoweit ermangelt es rechtlicher Maßstäbe.“
Schutzpflichtsverletzungen (insb. Art. 2 GG)?
Was die Möglichkeit einer Schutzpflichtsverletzung angeht, äußerte sich das BVerfG damals ebenfalls sehr zurückhaltend. Vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung zu fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, hieße die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen. Die Logik dahinter ist, dass mit jeder Technik natürlich Risiken verbunden sind und immer Bedenkenträger etwas einzuwenden haben. Ein zu restriktiver Ansatz „würde weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen.“ Die Karlsruher Richter schlussfolgerten, dass vage Ungewissheiten jenseits der Schwelle praktischer Vernunft unentrinnbar seien und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen seien.
Diese Position mag damals schlüssig gewesen sein, doch nach den Vorfällen in Japan kann man sicherlich auch anderer Meinung sein. Selbst ein Land mit höchsten Sicherheitsvorkehrungen wie Japan konnte einen Unfall nicht vermeiden. Der Sicherheitsstandard war dort unstreitig höher als in Tschernobyl und vielleicht sogar höher als in Deutschland. Auch wenn Deutschland kein Erdbebengebiet ist, lassen sich Unfälle auch hier wohl leider nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen – ganz abgesehen von neuen Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus.
Hintertür im „Schneller Brüter“-Beschluss
Eine Hintertür hat sich das BVerfG in seiner Rechtsprechung aufgelassen: „Hat der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird, kann er von Verfassungs wegen gehalten sein zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist.“ Die Entscheidungen können also immer nur auf Grundlage der damals bestehenden technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse Geltung beanspruchen.
Ob nun die Laufzeitverlängerung daher wirklich materiell verfassungwidrig ist, soll hier abschließend nicht entschieden werden. Insofern sind Kommentare mit eigenen Ansichten allerdings ausdrücklich erwünscht.

14.03.2011/12 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2011-03-14 20:27:162011-03-14 20:27:16Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke verfassungswidrig? Implikationen des Atomunfalls in Japan
Dr. Stephan Pötters

Atomkraft: Ist die Laufzeitverlängerung verfassungswidrig?

Öffentliches Recht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Die schwarz-gelbe Regierung hat bekanntlich die Laufzeiten für die Atomkraftwerke verlängert. Die Oppositionsfraktionen der SPD und der Grünen sowie fünf Bundesländer haben hiergegen Verfassungsbeschwerde eingelegt. Dieser rechtlich wie politisch äußerst brisante Konflikt soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Am heftigsten umstritten ist vor allem die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit der Laufzeitverlängerung durch den Bundesrat. Die Regierung hatte die Reform am Bundesrat „vorbei“ verabschiedet, denn dort hätte sie sicherlich keine Mehrheit gefunden.
Zustimmung durch Bundesrat erforderlich?
Ob die Laufzeitverlängerung die Zustimmungsbedürftigkeit durch den Bundesrat auslöst, ist aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht eindeutig. Ein Gutachten seitens Professor Degenhart sprach sich nun jüngst dagegen aus. Insofern ist allerdings zu beachten, dass dieses von der baden-württembergischen Umweltministerin Tanja Gönner (CDU) in Auftrag gegeben wurde. Ein Gutachten seitens des ehemaligen BVerfG-Präsidenten Papier etwa kommt zum gegenteiligen Schluss (s. hierzu etwa Artikel im Spiegel).
Auch in der Literatur gab es erste Stellungnahmen (s. etwa Geulen/Klinger, NVwZ 2010, 1118 m.w.N.; Kendzia, DÖV 2010, 713; vgl. auch Moench/Ruttloff, DVBl 2010, 865 und noch einmal Papier, NVwZ 2010, 1113).
Ausgangspunkt der Überlegungen müssen natürlich die entsprechenden Regeln des GG sein. Relevant ist zunächst Art. 73 Abs.1 Nr. 14 GG, wonach der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz hat (für „die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken, die Errichtung und den Betrieb von Anlagen, die diesen Zwecken dienen, den Schutz gegen Gefahren, die bei Freiwerden von Kernenergie oder durch ionisierende Strahlen entstehen, und die Beseitigung radioaktiver Stoffe“). Nach Art. 83 GG führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus. Die Verwaltungskompetenz liegt also grundsätzlich bei den Ländern, auch wenn die Gesetzgebungskompetenz beim Bund liegt. Dieser Grundsatz steht unter dem Vorbehalt, dass das GG etwas anderes bestimmt. Dies ist vorliegend der Fall: Nach Art. 87c GG können Gesetze, die auf Grund des Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 ergehen, „mit Zustimmung des Bundesrates bestimmen, daß sie von den Ländern im Auftrage des Bundes ausgeführt werden“ [Hervorhebung durch Verfasser].
Auf Grundlage von Art. 87c GG kann also statt der grundsätzlich geltenden Länderverwaltung eine Bundesauftragsverwaltung eingerichtet werden. Hiervon hat der Bund Gebrauch gemacht, s. § 24 AtomG. Das AtomG konnte daher nur mit Zustimmung des BR erlassen werden.
Vorliegend soll aber nicht die Bundesauftragsverwaltung i.S.v. Art. 87c GG neu eingeführt werden, sondern es soll eben nur das bereits bestehende Gesetz reformiert werden. Es ist also fraglich, wann eine Änderung des bereits mit Zustimmung des BR erlassenen Gesetzes wiederum die Zustimmungsbedürftigkeit auslöst. Eine wichtige Leitentscheidung zur Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen ist der Beschluss des BVerfG vom 25. 6. 1974 – 2 BvF 2 u. 3/73, BVerfGE 37, 414; s. hierzu im Kontext der Laufzeitverlängerung Papier, NVwZ 2010, 1113. Die Leitsätze dieser (allerdings nur zum alten Art. 84 GG ergangenen) Entscheidung lauten:

a) Nicht jedes Gesetz, das ein mit Zustimmung des Bundesrates ergangenes Gesetz ändert, ist allein aus diesem Grund zustimmungsbedürftig.
b) Wenn ein mit Zustimmung des Bundesrates ergangenes Gesetz durch ein Gesetz geändert wird, das selbst neue Vorschriften enthält, die ihrerseits die Zustimmungsbedürftigkeit auslösen, so ist das Änderungsgesetz zustimmungsbedürftig.
c) Ändert das Änderungsgesetz Regelungen, die die Zustimmungsbedürftigkeit ausgelöst haben, so bedarf es ebenfalls der Zustimmung des Bundesrates.
d) Enthält ein Zustimmungsgesetz sowohl materiellrechtliche Regelungen als auch Vorschriften für das Verwaltungsverfahren der Landesverwaltung gemäß Art. 84 Abs. 1 GG, so ist ein dieses Gesetz änderndes Gesetz zustimmungsbedürftig, wenn durch die Änderung materiellrechtlicher Normen die nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren bei sinnorientierter Auslegung ihrerseits eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite erfahren.

 
Diese Maßstäbe kann man wohl mehr oder weniger auf den Fall der Bundesauftragsverwaltung übertragen (gegen eine schematische Übertragung: Papier, NVwZ 2010, 1113, 1115). So kann man hier vor allem im Hinblick auf den letzten Leitsatz argumentieren, dass die Laufzeitverlängerung lediglich eine materiellrechtliche Frage darstellt, die nicht die Vorschriften des AtomG zum Verwaltungsverfahren tangiert. Andererseits sind diese natürlich, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch auch implizit betroffen.
Nach Papier, aaO würde sogar eine nicht unwesentliche Änderung der Sachregelungen genügen, um die Zustimmungsbedürftigkeit auszulösen, denn dadurch würde das Kräftegefüge zwischen Bund und Ländern derart verschoben, dass die ursprüngliche Zustimmung nicht mehr ausreichen würde, um die „Unterwerfung“ der Länder unter die Sachkompetenz des Bundes im Rahmen der Bundesauftragverwaltung zu rechtfertigen.
Bewertung
Die Problematik der Laufzeitverlängerung ist sicherlich ein schwieriger Grenzfall. Eine ausführliche Darstellung soll hier daher nicht erfolgen und den zahlreichen Beiträgen in Fachzeitschriften und Gutachten überlassen bleiben. Falls man mit dieser Frage im Rahmen einer Klausur oder bei der mündlichen Prüfung konfrontiert wird, ist es sicherlich ausreichend, wenn man die Thematik richtig im GG verorten kann und dann gute Argumente findet, warum nun die Laufzeitverlängerung wesentlich genug ist oder eben nicht, um die Zustimmungsbedürftigkeit im Hinblick auf das Änderungsgesetz auszulösen.

28.02.2011/2 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2011-02-28 16:45:012011-02-28 16:45:01Atomkraft: Ist die Laufzeitverlängerung verfassungswidrig?
Dr. Christoph Werkmeister

Schuldenbremse im Grundgesetz: Steuerpläne von Union verfassungwidrig?

Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

In einem Artikel der Welt-Online äußert sich der Finanzrechtler Joachim Wieland über die Verfassungsmäßigkeit der im Grundgesetz vorgesehenen Schuldenbremse. Seiner Meinung nach ist dieser Plan nicht mit der Verfassung vereinbar, da die neue Schuldenbremse im Grundgesetz den Staat dazu zwinge, Mehreinnahmen zur Schuldentilgung anstatt für Entlastungen aufzubrauchen.
Für die Klausuren ist dieses Thema eher außen vor zu lassen. Für die mündliche Prüfung sind Kenntnisse in diesem Bereich aber durchaus von Bedeutung (insbesondere, wenn ein Verfassungsrechtler oder Steuerrechtler der Prüfungskommission beiwohnt).

22.07.2009/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2009-07-22 06:57:512009-07-22 06:57:51Schuldenbremse im Grundgesetz: Steuerpläne von Union verfassungwidrig?

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